Die Ortskrankenkasse von Kurt Tucholsky (1930) und eine neue Karte

Gerne hätte ich in der Zwangsbroschüre, die jeden Monat ungefragt in meinem Briefkasten landet, also in dem Heft der Krankenkasse, mal dieses Gedicht von Kurt Tucholsky gelesen. War aber nicht. War immer nur dieses Bild von dem Herrn, der der Sache vorsteht. Also muß man es abschreiben, damit die Herren der Krankenkasse, die dieses Heft gestalten, es beim Surfen in der Mittagspause auch finden (Bücher lesen ist sicher nicht drin und wird vermutlich schwer geahndet). (Abgeschrieben bei: Dreibändige Gesamtausgabe, Kurt Tucholsky, Band III, 1929 – 1932) Dünndruckausgabe. Geschrieben hat er es 1930, was wenn man es liest, gar nicht so lange her ist, wie es scheint. (Seite 461 – 463)

DIE ORTSKRANKENKASSE

Ich komme in eine fremde Stadt

– Kasolz oder Ober-Crammin –

und nehme im Hotel ein Bad,

dann tu ich den Mantel anziehn

und gehe durch den fremden Ort

an Läden und Kirchen vorbei

und gucke hier und da und dort

und seh eine Metzgerei,

das Postamt . . . eine Bilderschau . . .

und immer, in jeder Stadt,

steht ein großer, prächtiger, neuer Bau,

den man grade errichtet hat.

Und dann frag ich. Und in jeder Stadt,

die einen turnenden Schutzmann hat,

sagt er auf, wie das brave Kind in der Klasse:

>Das? ist die neue Ortskrankasse<

So ein großes Haus . . . ! Sieh mal einer an . . . !

Ein riesiger Kasten. Ja, wer so kann!

Das tut jede Verwaltung, die auf sich hält;

die Herren haben wohl sehr viel Geld.

Wenn zwei Deutsche im Hof nämlich Holz zerspalten,

stehn drei andere herum, die das verwalten.

Und ich seh an dem feuchten Neubau hinauf,

und dies steigt vor meinem Auge auf:

Korridore mit vielen Türen,

die alle in kleine Bürozimmer führen.

In den Zimmern ist nichts Besondres los . . .

Und es gibt zweierlei Sorten von Büros:

Solche, in denen die Buchhaltungfritzen,

die gewöhnlichen Schreiber sitzen;

die bebrüten Akten und führen Listen.

Das sind die gemeinen Papier-Infanteristen.

Kino, Kollegenklatsch, etwas Sport . . .

wie schnell das Klassenbewußtsein verdorrt!

Für eine Handlungsvollmacht, für einen Posten

tun sie alles, wobei sie die Chefs nichts kosten.

Und es haben die Mädels in der Buchhalterein

einen Wunsch:

Hier raus und geheiratet sein!

Und alle schreiben und schreiben und schreiben

und müssen ewig hinter den Pulten bleiben.

Die schuften ihr ganzes Dasein vergebens.

Doch in den andern Büros

hockt dick und groß

das Ideal des Wirtschaftslebens:

Da sitzt der Mann an der Arbeitsstatt,

der ein Sekretariat und ein Vorzimmer hat,

(über jenen, die an ihren Arbeitsstätten

gern ein Sekretariat und ein Vorzimmer hätten)

Hier wird der Deutsche erst richtig heiter:

kein Mensch mehr – nur noch Abteilungsleiter.

Hier regiert er und wirkt und macht und tut . . .

Das Telefon klirrt, die Gehirntätigkeit ruht –

denn zwischen Arbeiten und Promenieren

gibts noch ein Drittes: Organisieren.

Hier steigen auf die kolossalen

Ressort-Stunks und die Büro-Kabalen

zwischen wildgewordenen Angestellten,

denn jeder will mehr als der andre gelten.

Hier sägt eine Lokomobile Holz,

mit dem sie geheizt wird.

Und wieviel Stolz,

wieviel Eitelkeit steckt in diesen Puppen!

Sie meinen sich, und sie sprechen von Gruppen

von Verbandsinteressen und Gemeinschaftsideen

und können nicht bis zur Türe sehn.

Hör zu, mein Kind:

Diese Leute sind

in geschäftiger Faulheit und wackrer Routine

der Leerlauf der deutschen Verwaltungsmaschine.

Es ist ein schwerer Krankheitsfall.

Und das ist über-, überall:

Ob Ortskrankenkasse, ob Filzfabrik;

ob Finanzamt, ob Hochschule für Musik;

ob Stadtheater, ob Magazin,

ob Eisenhütte oder Farbindustrien -:

Stets sitzt auf jedem Unternehmen

– neben jenen, die andern das Brot wegnehmen –

ein Ballon der Verwaltung, dick und breit,

eine Allegorie der Nutzlosigkeit

Denn dieser ganze Verwaltungstrara

ist nur um seiner selbst willen da.

Sie glauben, daß sie in USA sind.

und haben vergessen, wozu sie da sind.

Kranke Proleten und deren Interessen . . . ?

Vor lauter Verwaltung total vergessen.

Noch eine neue Kartothek,

noch eine Quittung und noch ein Beleg –

Ingenieure? ein Kumpel? ein Prolet?

Ein Kerl, der an seinem Schraubstock steht?

Muß sein. Das ist ja alles ganz richtig.

Aber wichtig?

Verwaltung ist wichtig.

Für die ist Geld da. Für die die neuen

Kästen, die wie die Festungen dräuen.

Forts des Leerlaufs und Depots der Papiere.

Drinnen Juristen . . . alte Offiziere . . .

Steh am Schraubstock, du Ochse – laß deine Maschinen

laufen, du Tor – du wirst nichts verdienen.

Verdienen tut der, der verwalten kann:

der ist für die Wirtschaft der richtige Mann.

Und so vegetieren die betrogenen Massen

als Zwangsabonnenten von Ortskrankenkassen.

(Aus Kurt Tucholsky, Gesamtausgabe in drei Bänden, Band III 1929 -1932, Seite 461 – 463) (1930)

(Ich weiss leider nicht, wie man die Leerzeilen raus bekommt)

Können Schweine schwimmen? Ja. Die Postkarte“Wasser-Schwein“ mit dem Foto von Kathrin Köntrop, erschienen bei Skowronski & Koch Verlag in Berlin beweist es. Jedenfalls dieses Schwein, was fotografiert wurde, kann es. Die neue Gesundheitskarte ist heute gekommen. Die alte ist noch bis 2020 gültig. Fraglich, ob ich da noch lebe. Also wozu die neue, wo doch die alte noch zwei Jahre gültig ist? Richtig. Es hat geklappt. Die eine Kasse hat die andere geschluckt. Die bei der ich eigentlich eingetreten war. Die GEK. Die ist vollständig eliminiert. Auf der alten noch BEK – GEK. Nu issi wech. Die GEK. Deswegen die neue Karte. Beschäftigen sich eigentlich die Vorstandsherren nur mit selber und ihrer Eitelkeit? Und geben damit unser Geld so sinnlos aus? Vermutlich haben sie zu viel davon! Siehe den Text von Tucholsky. Da ist mir ein Wasser-Schwein doch viel lieber. (Anonüm)Tieresehendichan3.

Und da sagen wir immer, unsere Eliten seien nicht lernfähig. In der neuen Ausgabe (Oktober 2018/2019) hat der Mann die Hände aus den Taschen genommen. Oder hat er nur einen PR Berater?

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