Für Berthold Podlasly (1999)

FÜR BERTHOLD, den ich in der dffb kennenlernte. Berthold Podlasy war Mitautor und Schauspieler in unserem dffb Film von 1971: »Deine Freizeit gehört dir noch nicht«. Eine Gruppenarbeit von Michael Mosolff (kein dffb Student, Gasthörer), Martin Streit, Berthold Podlasly und mir. Ein Still aus einer Filmkopie, wie man das heute nennt. Wir haben einfach Foto gesagt. Denn wenns nicht still gewesen wär, wärs ja verwischt worden.

In dieser Szene (Nicht formatgerecht fotografiert, die 16 mm Kopie ist im Normalfomat 1:1,37 kopiert) demonstriert er, wie die IKEA Generation ihre Freizeit gestaltet. In dem sie die Möbel, die ihnen früher fertig ins Haus getragen wurden,  selbst nach Hause trägt, auspackt, die Bauanleitung liest und dann selbst zusammenbaut. Was damals als großer Fortschritt galt und vermutlich immer noch gilt. Die Erinnerung an Berthold ist ein wenig verblasst, aber nicht verschwunden. Es war unsere erste Gruppenarbeit (Vier Personen). Hinterher wusste jeder von uns, wie schwierig eine solche gleichberechtigte Arbeit am Drehbuch (Schreibmaschine, mechanisch), an der Kamera (Arri 16 BL), an der Nagra  (ein hochwertiges und teures Tonbandgerät aus jener Zeit) und am 16 mm Schneidetisch (Firma Steenbeck, die es heute leider nicht mehr gibt) ist.

Von Berthold habe ich kein Foto. Diese Aufnahme habe ich am Steenbeck Schneidetisch abfotografiert. Still nennen das die Filmstudenten von heute. Zwanzig Jahre (2018) nach seinem Tod aufgenommen. Er war sehr schüchtern und sehr fotoscheu. Er wohnte im Studentendorf Siegmundshof. Oft warteten wir vergeblich auf ihn. Haben ihn dann aber immer dort aufgesucht und ihn dazu bewegt, wieder weiter mitzumachen. Dahinter stand ein gewisser ökonomischer Zwang. Jeder Student hatte eine bestimmte Summe für diesen Grundkursfilm zur Verfügung. Den konnte er allein oder mit anderen zusammen verbrauchen. Das ist wie mit Greta Garbo und den vier Eiern in dem Lubitsch Film »Ninotschka«. Einer allein hat nur ein Ei. Aber tun sich vier zusammen, dann wird daraus ein »Omelette«. Gemeinsam liebten wir die Kursbücher, nicht die von der Bundesbahn, sondern die, die von Hans Magnus Enzensberger herausgegeben wurden.

Besonders oft benutzt die Kursbücher 20 und 21. Noch heute in meinem Besitz. Nr. 20 war im März 1970 erschienen. »Über ästhetische Fragen«. Unterstrichen habe ich den Satz auf Seite 151: »Der Verwertungsstandpunkt des Kapitals steht gegen die sinnlich-triebhafte Wirklichkeit des Menschen«. Im Kursbuch 21, im September 1970 erschienen, ist nichts unterstrichen. Vermutlich hatte ich mir diese schlechte Angewohnheit damals schon abgewöhnt. Besonders »verschlungen« in diesem Kursbuch 21 haben wir einen wieder entdeckten Text von Alfred Sohn-Rethel, den er in den »Deutschen Führerbriefen« vom 16. und 20. September 1932 unter dem relativ langweiligen Titel »Die soziale Rekonsolidierung des Kapitalismus« veröffentlicht hatte. Der zum Wiederabdruck gelangte Artikel »hat zur Zeit seines Erscheinens eine eigenartige Sensation ausgelöst«. Das war 38 Jahre später, 1970, bei uns auch so. Der erste Abschnitt trägt die Überschrift »Von der Sozialdemokratie zum Nationalsozialismus«. Auch Harun Farocki hat in einigen seiner Filme auf diesen Artikel von Alfred Sohn-Rethel hingewiesen. Ein Intellektueller sieht voraus, wie sich das alles entwickeln wird und behält (leider) recht.

Bei mir ist die Freude an den Texten von Hans Magnus Enzensberger übrig geblieben. »99 Überlebenskünstler« ist so ein Buch. Enzensberger schreibt über 99 Schriftsteller »im Jahrhundert der Gewalt«, und wie sie dieser Gewalt zu entkommen suchen. Dieses Buch hätte Berthold sicher gefallen. Über Joseph Roth schreibt Enzensberger: »Joseph Roth sagte, wenige Tage vor seinem Tod, er sei dem Selbstmord nahe. Aber das wäre eine Sünde gewesen; deshalb zog er es vor, sich totzusaufen«. Auch Berthold hat sich auf diese Weise umgebracht. Manchmal denke ich an diesen leicht zerbrechlichen, schüchternen Menschen, bin traurig, und weiß doch nicht, wie ich das hätte verhindern können.

Jens Meyer

22. November 2018

Ein Gedanke zu „Für Berthold Podlasly (1999)“

  1. Lieber Jens Meyer,
    ich würde mich gerne mit Ihnen über meinen Onkel unterhalten. Sie hatten letztes Jahr
    mit meiner Mutter telefoniert, leider habe ich die Telefonnummer verbaselt.
    Bitte kontaktieren Sie mich, würde mich freuen.
    Grüße
    E. Podlasly

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.