Auf der Suche nach Ludwig Averdieck

Erinnerungen an die Zukunft der Vergangenheit Auf der Suche nach Ludwig Averdieck Förderantrag für einen Film. Exposee (1982) pdfErinnerungenaneinenDeserteur

Die Gräber wurden gepflegt. Man stieg von Motorrollern auf Kleinwagen um. Unbequeme Menschen waren längst vergessen. Nur einige Steine mit Namen konnte man noch lesen. Halb vergammelt. Moos und Schimmel bedeckten die Steine. Buchsbaumhecken, Heldengedenksteine. Jeden Sonntag der Ausflug mit meinem Vater zu seinem Vater. Stinkiges Blumenwasser und alte Frauen.

Die Trümmer des letzten, vorletzten Krieges. Unsere Abenteuerspielplätze. An den Heldengedenksteinen lerne ich buchstabieren. Zwei Meter hohe Feldsteine. Oben ein Soldatenhelm – und dann unser Panzergrenadier, gefallen für das Vaterland bei Stalingrad. Wo ist Stalingrad? Wichtige und unwichtige Tote. Als Kind galt mein Interesse den Unwichtigen. Die, die im Bett gestorben waren. Die, mit den kleinen Grabsteinen. Die, auf deren Grabstein „vermisst“ stand. Die, auf denen keine Jahreszahl, kein Name, kein Todestag stand.

Mein Onkel soll eine Nazi gewesen sein. Ich kannte ihn nur als Briefmarkensammler. Waren alle Briefmarkensammler Nazis? Vielleicht war ich zehn Jahre alt. Habe immer seine Einladungen bestempelt und mit Briefmarken beklebt. Er war immer ehrlich. So dachte ich jedenfalls damals. Nicht so ein plötzlicher Demokrat, der halb Europa in Schutt und Asche gelegt hatte und hinterher von allem nichts, gar nichts, gewusst hat. Wir spielten Kaiser, König, Edelmann. Ich erinnere das Lied, wir wollen unseren alten Kaiser Wilhelm wieder haben – aber nur mit Bart. Aber nur mit Bart! Den Bart fand ich immer besonders spannend.

Auf dem Friedhof gab es einen Stein. Von einem, der war vielleicht mit mir verwandt. Er hieß Ludwig Averdieck. Mein Onkel hatte den gleichen Nachnamen. Meine Tante hatte viele Geschwister. Mein Onkel Otto war im ersten Weltkrieg auf einem Pferd gewesen. Artillerie oder so? Ich wollte es wissen. Wer war Ludwig? Ein Bruder? War er verwandt oder nicht? Warum hat er nur so einen kleinen Stein? Warum steht da kein Todestag? War er Soldat, wie die anderen? Doch es ist, wie es ist. Mit 10 oder 12 Jahren. Da war eisiges Schweigen. Was wird da verborgen?

Da gab es eine Schwester meiner Tante. Die war irgendwie nicht ganz richtig im Kopf. Die hatte man auf dem Dachboden untergebracht. Tante Buddi nannten wir Kinder sie. Wir fühlten uns sehr wohl bei ihr. Sie lag den ganzen Tag im Bett und füllte es ganz aus. Man verbot uns oft, sie zu besuchen. Sie hätte gut laufen können. Sie war nicht irgendwie gehbehindert oder so. Sie war einmal sehr schlank gewesen und sehr schön. Sie heiratete einen, der wurde gleich in den ersten Tagen des Krieges abgeballert. Der Kaiser hat ihr darauf hin ein Schmuckblatt geschickt.

Da war so ein “deutscher Engel“ drauf, der mit einem Soldaten durch die Luft flog. Wahrscheinlich zum Himmel. Meine Tante Maria hat mir mal das Blatt gezeigt. Von ihr erfuhren wir eine ganze Menge über Ludwig Averdieck. Er hatte wohl keine Lust gehabt, in den Krieg zu ziehen. Ganz anders, als sonst alle aus der Familie. Die waren alle sehr “national“. Mit so einem Verwandten, wie Ludwig, wollten sie nichts zu tun haben. Später habe ich folgende Geschichte immer wieder gedacht. Der ist abgehauen. Die haben ihn, obwohl sie seinen Standpunkt nicht teilten, lange versteckt. Schließlich war es ihr Verwandter. In den letzten Kriegstagen ist er dann aufgegriffen und erschossen worden. Erschossen von der SS. Im Film „Kirmes“ von Wolfgang Staudte gibt es so einen, gespielt von Horst Schimanski, wie er in den Fernsehserien hieß. Als Staudte „Kirmes“ gedreht hat, war der Schauspieler Götz George noch ganz unbekannt.

Auf dem Grabstein von Ludwig Averdieck steht dann allerdings nur das Jahr – 1943 – seines Todes, der Tag fehlt. Im November war ich mal da, das Jahr hab ich vergessen. Hab Blumen hingestellt. Gelbe Blumen. Sentimental? Ja, vielleicht. Vielleicht lags am Nebel. Gelbe Blumen passen gut zu Nebel.

Wahrscheinlich war es alles viel einfacher. Mit Bombenangriffen. Im Juli 1943 gab es diese  Bombenangriffe auf Hamburg – da war der Tod einfacher zu haben, als später als Deserteur aufgegriffen und 1945 von SS oder anderen erschossen zu werden. Da habe ich auf dem Friedhof gedacht – erst die Leute abballern und sich dann an den Tag nicht mehr erinnern können. Vielleicht ist es aber auch ganz anders gewesen? Was interessiert mich daran? Jedenfalls nicht, irgend einen Widerstandskämpfer aus zu graben. War er wohl auch nicht. Sondern einen, der keine Lust hatte, wie die anderen aus der Familie, sein Leben für irgend was “Höheres“ hinzugeben. Damit hat er viel mit mir selber zu tun.

Drei Einberufungsbefehle und immer wieder davon gekommen. Mit Tricks. Mit Abhauen. Aber nicht aus irgend welchen ideologischen Gründen – die Armee ist eine, die die Reichen dieses Landes verteidigen soll oder so. Nee, so was nicht. Obwohl später auch solche Hilfskonstruktionen dazu gekommen sind. Und da ist ein zweiter Mensch. Der hat viel mit dem toten Ludwig Averdieck zu tun.

Geboren, als schon aller Schutt beseitigt war. 1960 – das Jahr des “Wirtschaftswunders.“ Dicke Zigarre. Wer hat sich da gewundert? Lager Friedland. Die Neubauwohnungen auf unserem Abenteuerspielplatz, ein Wort, das es damals noch gar nicht gab. Vater als 17 – jähriger Flakhelfer. Schon damals habe ich die “Neue Heimat“ verflucht. Irgendwann – da hatten sie schon alle Sträucher und Bäume unseres riesigen Trümmergeländes zusammengefahren. Wir haben dann einen Flächenbrand gelegt, mehr aus Unvorsicht als mit Überlegung. Noch niemals habe ich so viele Feuerwehren gesehen. Unsinnig – diese Löschaktion. In dem Jahr 1960 ist er geboren. Da gabs noch Korbkinderwagen.

Und jetzt ist er bereits zum zweiten Mal durch die Kriegs-Untauglichkeits-Kommission gefallen. Und das ist bald zwanzig Jahre her. Da kannte ich schon die Geschichte. Und die brauchen sie immer noch. Also, sie sind mit ihrer Freundin im Park und da kommt ne Herde Russen – also gut Amis – also gut Rocker – stockbesoffen, schwer bewaffnet und die machen sich an ihre Freundin ran. Was machen sie? Auch die richtige Antwort ist immer noch die gleiche. Sie lautet – wie vor zwanzig Jahren: „Ich werfe meine Waffe weg und bitte die Herren, mit der Vergewaltigung aufzuhören.“

Ich hab das nicht geglaubt. Doch so steht es im Verhandlungsprotokoll. Ich bin sein Onkel. Mein Neffe, 22 Jahre, Abitur, arbeitslos. Und da sitzen die gleichen Leute von der Sorte, die schon Ludwig Averdieck zum ersten und zum vorletzten Krieg holen wollten.

Doch auf der anderen Seite diesmal jemand, der die feste Vorstellung hat, er könne jemanden von seiner Meinung überzeugen. Der nicht versucht, alle möglichen Tricks anzuwenden – um diesen Herren zu entkommen. Dem Klempnermeister – dem Herren von der Innung, der seine Pflicht tut, dem Bäckereiinhaber, dem verarmten Adligen.

Leute, die keine eigenen Interessen haben. Die aber dennoch die Interessen anderer hier wahrnehmen und das nicht ein einziges Mal in ihrem Leben gemerkt haben.

Das sind die, die immer 40 Mark bekommen, nach jeder Währungsreform, nach jedem verlorenen Krieg. Die dann ihre wertlosen Sparbücher weggeschmissen haben. Eigentlich hat der Neffe Recht. Sie müssten zu überzeugen sein – aber seit Generationen haben sie immer Angst um ihre silbernen Löffel gehabt. Vielleicht wäre es doch ganz gut, wenn man wüsste, wie man sone MP zusammenbaut – oder wie man unseren „Leo“, wie er zärtlich von den Kollegen aus der Panzerhalle von Blohm & Voss, genannt wird, den  Leopard Panzer in Gang kriegt.

Ich ärgere mich manchmal darüber, dass ich das nicht kann: Eine MP zusammenbauen, einen Panzer zu steuern. Vielleicht können wirs doch mal irgend wann gebrauchen – dann ist das Wissen darum ganz nützlich. Nein – er will das nicht. Aber das Problem sind doch nicht die Waffen, sondern wer die Waffenträger unter sich hat, welche Befehle er gibt, in wessen Interesse er handelt. „Nein, ich will nichts damit zu tun haben.“ Aber dann wäre es vielleicht mal ganz gut, wenn du mal ne Zeitlang umziehst, da hin, wo sie dich nicht holen können. „Nein, ich will mein Recht.“ Und seine Richter will er überzeugen. „Aber überlegs dir doch noch mal. Die haben ne bestimmte Erfolgsquote zu erfüllen.

Die haben einen Bedarf bei der Bundeswehr und der muß gedeckt werden. Sagen wir mal: Von den bundeswehrtauglichen Jugendlichen brauchen sie 60 % aus deinem Jahrgang. Also können sie jeden dritten Verweigerer anerkennen. Wenn sie mehr Kriegsdienstverweigerer anerkennen, dann gibts Prügel. Also vielleicht können sie das mal machen, aber insgesamt muss es sich immer wieder ausgleichen, rechnen.“

Aber er schminkt sich das nicht ab. Er will sein Recht. Und er will überzeugen.

Seit zwei Jahren baue ich Kriegsschiffe. Für irgendwelche Kriege, die irgend wann, irgendwo stattfinden werden. Es gibt kaum andere Arbeit für Maschinenschlosser. Die Arbeitsbedingungen sind noch nicht so, wie sonst an den Fließbändern, wo die Leute durch die Arbeit kaputt gemacht werden. Die nicht erst in den Krieg geschickt werden müssen, um jede Trostlosigkeit ertragen zu lernen. Und um mit meinem Kopf weiterhin klar zu kommen, gibt es für mich allerlei Hilfskonstruktionen. Eine davon:

Wir haben keinen Einfluß auf die Auswahl der Produkte, die wir fertigen. Das, woran am meisten verdient wird, das wird gebaut. Ein Arbeitskreis alternativer Fertigung bei Blohm & Voss trifft sich einmal im Monat außerhalb des Betriebes. Wir schreiben Papiere. Auch Leute, die es nicht wissen und nicht wissen wollen, sind in der Rüstungsproduktion beschäftigt.

Die gesamte Elektronik, der Motorenbau, alles kann auch und wird auch vorwiegend in Kriegsschiffen eingebaut. Ich versuche, mich zu wehren, so gut ich eben kann. Aber, wenn du jeden Tag überlegst, welche Scheiße du nun wieder zusammen montiert hast, dann bist du – über kurz oder lang – nicht mehr arbeitsfähig. Ich demonstriere gegen den Krieg und seine Befehlshaber, gegen die, die daran verdienen, verdient haben und daran verdienen werden. Ich versuche, langfristige Fehler einzubauen.

Langfristige Fehler sind solche, die erst nach der Garantie, nach der Gewährleistung, von zwei Jahren auftreten. Aber ich freue mich auch, wenn ein Lagerschaden auftritt und “Mehrkosten“ verursacht. Vor kurzem habe ich mit einer Gußeisenbohrmaschine gearbeitet. Die mußten wir mit zwei Mann tragen – Konus 4 – Luftantrieb – . Mein Kollege bemerkte richtig – „mit der Maschine haben sie schon das Schlachtschiff Bismarck gebaut – .“

Geschichte. Auf der Fahrt von Berlin nach Hamburg saß, mir gegenüber, ein Mann mit einem Holzbein. Schweigsam. Nur einmal hat er während der Fahrt, mehr zu sich selbst, gesprochen. Als der D – Zug der Deutschen Reichsbahn bei Friedrichsruh durch den Sachsenwald fuhr. Er hat aus dem Fenster gesehen und sinniert: “So hat jeder sein Holz vom Kaiser gekriegt. Der eine den Wald, der andere das Holzbein“.

Viele Widerstandskämpfer, viele Medien gegen den Krieg. Viel Erinnerung. Doch keiner hat die Kriege verhindert. Ein Film gegen den Krieg? Ein Film, der gefördert werden sollte. Kein üblicher Dokumentarfilm. Kannten sie die Frau? Wissen sie noch, was sie damals gesagt hat? Ein Film unter der plakativen Oberfläche. Ein Film, der Bilder aus der Erinnerung und aus der Zukunft zusammen trägt.

Jens Meyer (im Dezember 1982, neue Schreibfehler eingebaut und leicht bearbeitet 2019)

Abreise der Zivilisten in den Krieg 1940. In der Mitte (markiert) mein Vater.
Abreise der Zivilisten in den Krieg (1940). In der Mitte (markiert) mein Vater.

Fotos Rudolf Heinrich Meyer, Jens Meyer, Werner Hensel.

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