Tucholsky Abschrift Die Hochtrabenden Fremdwörter (II) (diesmal vollständig)

Römische Zahlen

PDF Tucholsky Die hochtrabenden Fremdwörter

(Zeichen 8.046) Kurt Tucholsky DIE HOCHTRABENDEN FREMDWÖRTER

In der Redaktionspost lag neulich ein Brief. «Liebe Weltbühne! Wenn ich diese Zeilen an dich richte, so bitte ich in Betracht zu ziehen, daß ich nicht ein Zehntel so viel Bildung besitze wie deine Mitarbeiter. Ich gehöre vielleicht zu den primitivsten Anfängern deiner Zeitschrift und bin achtzehn Jahre alt. Dieses schreibe ich dir aber nur, damit du dich über meine folgenden Zeilen nicht allzu lustig machst.

Aus deinen Aufsätzen habe ich ersehen, daß du trotz aller Erhabenheit über die politischen Parteien doch mit den Linksradikalen am meisten sympathisierst.

Schreibst du auch für einen Proleten, der sich in einem Blatt orientieren will, daß er objektiv urteilt? Für den aber ist es, was für den Fuchs die Weintrauben. Also: much to high.

Ich selbst bin auch nur ein Autodidakt und muß öfter das Lexikon zur Hand nehmen, wenn ich die Artikel verfolge. Wenn du darauf Wert legst, die Sympathie und das Interesse der revolutionären Jugend und der einfachen Arbeiterschaft zu erwerben, so sei gelegentlich sparsamer mit deinen hochtrabenden Fremdwörtern und deinen manchesmal unverdaulichen philosophischen Betrachtungen.

Hochachtungsvoll Erna G.»

Hm. Hör mal zu – die Sache ist so:

Etwa die gute Hälfte aller Fremdwörter kann man vermeiden; man solls auch tun – und daß du keine «Puristin» bist, keine Sprachreinigerin, keine von denen, die so lange an der Sprache herumreinigen, bis keine Flecke mehr, sondern bloß noch Löcher da sind, das weiß ich schon. Ich weiß auch, daß es wirklich so etwas wie «hochtrabende» Fremdwörter gibt; wenn einer in Deutschland «phänomenologisches Problem» schreibt, dann hat er es ganz gern, wenn das nicht alle verstehn. So wie sich ja auch manche Schriftsteller mit der katholischen Kirche einlassen, nur damit man bewundre, welch feinen Geistes sie seien . . . Soweit hast du ganz recht. Aber nun sieh auch einmal die andre Seite.

Es gibt heute in Deutschland einen Snobismus der schwieligen Faust, das Fremdwort «Snobismus» wollen wir gleich heraus haben. Es gibt da also Leute, die, aus Unfähigkeit, aus Faulheit, aus Wichtigtuerei, sich plötzlich, weil sie glauben, da sei etwas zu holen, den Arbeitern zugesellen, Leute, die selber niemals mit ihrer Hände Arbeit Geld verdient haben, verkrachte Intellektuelle, entlaufene Volksschullehrer, Leute, die haltlos zwischen dem Proletariat der Arme und dem des Kopfes, zwischen Werkstatt und Büro hin- und herschwanken – und denen nun plötzlich nichts volkstümlich genug ist. Maskenball der Kleinbürger; Kostüm: Monteurjacke. Nein, du gehörst nicht dazu – ich erzähle dir nur davon. Und da hat nun eine Welle von «Arbeiterfreundlichkeit» eingesetzt, die verlogen ist bis ins Mark.

Man muß scharf unterscheiden:

Schreibt einer für die Arbeiter, für eine Leserschaft von Proletariern, so schreibe er allgemeinverständlich. Das ist viel schwerer als dunkel und gelehrt zu schreiben – aber man kann vom Schriftsteller verlangen, daß er gefälligst für die schreibe, die sein Werk lesen sollen. Der Proletarier, der abends müde aus dem Betrieb nach Hause kommt, kann zunächst mit so einem Satz nichts anfangen:

«Die vier größten Banken besitzen nicht ein relatives sondern ein absolutes Monopol bei der Emission von Wertpapieren.»

Dieser Satz aber ist von Lenin («Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus»), und der Satz ist, bei aller Klarheit des Gedankens, nicht für die Straßenpropaganda geschrieben. Denn hier läuft die Grenzlinie:

Die einen betreiben den Klassenkampf, indem sie ihre Schriften verteilen lassen, sie wirken unmittelbar, sie wenden sich an jedermann – also müssen sie auch die Sprache sprechen, die jedermann versteht. Die andern arbeiten für den Klassenkampf, indem sie mit dem wissenschaftlichen Rüstzeug der Philosophie, der Geschichte, der Wirtschaft zunächst theoretisch abhandeln, wie es mit der Sache steht. Lenin hat beides getan; der Fall ist selten.

Die zweite Art Schriftstellerei kann nun nicht umhin, sich der Wörter und Ausdrücke zu bedienen, die bereits vorhanden sind. Ich habe mich stets über die Liebhaber der Fachausdrücke lustig gemacht, jene Affen des Worts, die da herumgehen und glauben, wer weiß was getan zu haben, wenn sie «Akkumulation des Finanzkapitals» sagen, und denen das Maul schäumt, wenn sie von «Präponderanz der innern Sekretion» sprechen. Über die wollen wir nur lachen.

Vergiß aber nicht, daß Wörter Abkürzungen für alte Denkvorgänge sind; sie rufen Gedankenverbindungen hervor, die bereits in den Menschen gleicher Klasse und gleicher Vorbildung schlummern und auf Anruf anmarschiert kommen – daher sich denn auch Juristen oder Kleriker oder Kommunisten untereinander viel leichter und schneller verständigen können als Angehörige verschiedener Gruppen untereinander.

Es ist nun für einen Schriftsteller einfach unmöglich, alles, aber auch alles, was er schreibt, auf eine Formel zu bringen, die jedem, ohne Bildung oder mit nur wenig Bildung, verständlich ist. Man kann das tun.

Dann aber sinkt das Durchschnittsmaß des Geschriebenen tief herunter; es erinnert das an den Stand der amerikanischen Tagesliteratur, die ihren Ehrgeiz daran setzt, auch in Bürgerfamilien gelesen werden zu können, bei denen kein Anstoß erregt werden darf.

Und so sieht diese Literatur ja auch aus. Will man aber verwickelte Gedanken, die auf bereits vorhandenen fußen, weil keiner von uns ganz von vorn anfangen kann, darstellen, so muß man sich, wenn nicht zwingende Gründe der Propaganda vorliegen, der Fachsprache bedienen. Keiner kommt darum herum.

Auch Lenin hat es so gehalten. Oder glaubst du, daß seine Schrift «Materialismus und Empiriokritizismus» (*) für jeden Proletarier ohne weiteres verständlich sei? Das ist sie nicht. Wer über Kirchengeschichte des zweiten Jahrhunderts schreibt, kommt ohne die lateinischen Ausdrücke der damaligen Zeit nicht aus.

Soll er eine Übersetzung beigeben? Schopenhauer platzte vor Wut bei dem Gedanken, solches zu tun; er wurzelte aber – bei aller Größe – in dem Ideal der humanistischen Bildung seiner Zeit und seiner Klasse; er hatte recht und unrecht.

Es gibt heute bereits eine Menge Schriftsteller und Zeitschriften, die jedem fremdsprachigen Zitat die Übersetzung folgen lassen; es ist Geschmackssache.

Ich tue es selten; ich zitiere entweder gleich auf deutsch oder manchmal, wenns gar nicht anders geht, lasse ich die fremdsprachigen Sätze stehn – dann nämlich, wenn ich das, was in den fremden Wörtern schlummert, nicht übertragen kann.

Man kann alles übersetzen – man kann nicht alles übertragen. Es gibt zum Beispiel gewisse französische Satzwendungen, Wörter . . . die sind so durchtränkt von Französisch, daß sie auf dem Wege der Übersetzung grade das verlieren, worauf es ankommt: Klang, Melodie und Geist.

Nun kenne ich das Gefühl sehr wohl, das einen beseelt, der solches liest und der nicht oder nicht genügend Französisch kann. Man kommt sich so ausgeschlossen vor. Man fühlt die eigne Schwäche; man wird böse, wütend . . . und man wälzt diese Wut, die eigentlich der eignen Unkenntnis (verschuldet oder nicht) gilt, auf den andern ab.

Ich spreche zum Beispiel miserabel Englisch und verstehe es kaum, und es hat jahrelang gedauert, bis ich mit dem Verstande dieses dumpfe Wutgefühl aus mir herausbekommen habe. Lese oder höre ich heute Englisch, so schmerzt es mich, es nicht gut zu verstehen – aber ich bin auf den Schreibenden oder Sprechenden nicht mehr böse. Er kann doch nichts dafür, daß ich es so schlecht gelernt habe.

Siehst du, so ist das.

Es ist kein Verdienst der Söhne, wenn ihre Väter so viel Geld hatten, daß sie die Söhne aufs Gymnasium schicken konnten, gewiß nicht und was in den meisten Fällen dabei herauskommt, wissen wir ja auch. Aber unterscheide gut, Erna, zwischen den beiden Gattungen, die da Fremdwörter gebrauchen: den Bildungsprotzen, die sich damit dicke tun wollen, und den Schriftstellern, die zwischen «induktiv» und «deduktiv» unterscheiden wollen und diesen Denkvorgang mit Worten bezeichnen, die geschichtlich stets dieser Bezeichnung gedient haben. Die Intellektuellen eines Volkes sollen nicht auf dem Niveau von schnapsdumpfen Gutsknechten stehn – sondern der Arbeiter soll in Stand gesetzt werden, die intellektuellen Leistungen der Gemeinschaft zu verfolgen. Nicht: reinlich gewaschene Körper sind ein Abzeichen von Verrat am Klassenkampf – sondern: alle sollen in die Lage gesetzt werden, sich zu pflegen. Den Körper, Erna, und den Geist.

Zuerst erschienen in WB (Die Weltbühne), 16/573 ―15.04.30, III/418 Abgeschrieben im Dritten Band der Gesamtausgabe (Dünndruck, Seite 418 – 421)

Leider hatte ich bei meinen Sonderzeichen nicht das verwandte Zeichen in dem Buchdruck. Deswegen habe ich diese Zeichen genommen: « ―»

Hier die Wiederholung: „Soll er eine Übersetzung beigeben? Schopenhauer platzte vor Wut bei dem Gedanken, solches zu tun; er wurzelte aber – bei aller Größe – in dem Ideal der humanistischen Bildung seiner Zeit und seiner Klasse; er hatte recht und unrecht:“

Buchumschlag
Rowohlt Verlag

Damit man es nicht suchen muß: (*) Empiriokritizismus = (Duden Fremdwörterbuch) Seite 265 = erfahrungskritische Erkenntnistheorie, die sich unter Ablehnung der Metaphysik allein auf die kritische Erfahrung beruft. Präponderanz= Duden Fremdwörterlexikon Seite 799 = Übergewicht (z.B. eines Staates) Sekretion= (Duden Fremdwörterbuch) Seite 901- 1.) (Med.) = Vorgang der Produktion und Absonderung von Sekreten durch Drüsen 2.) (Geol.) = das Ausfüllen von Hohlräumen im Gestein durch Minerallösungen. induktiv= Seite 433 (Duden Fremdwörterbuch) 1.) Vom Einzelnen zum Allgemeinen hinführend. 2) Durch Induktion wirkend. deduktiv= Seite 199 (Duden Fremdwörterbuch)= Den Einzelfall aus dem Allgemeinen ableitend.

ZEHN PROZENT von Ignaz Wrobel

ZEHN PROZENT

Jeden Sonnabend hat dir der Mann mit der Mütze die kleine gelbe Lohntüte gegeben und du hast dir die zwei blauen Scheine herausgenommen „ZEHN PROZENT von Ignaz Wrobel“ weiterlesen

Vortrag für StudentInnen über den Henschel Film- und Theaterkonzern

pdf Vortrag für Studentinnen

Vortrag vom 28. Mai 2008 Auf der Suche nach dem Henschel Film und Theaterkonzern Manuskript für einen Redebeitrag vor StudentInnen der Geschichte. Als Marei B. mich von ihrer Gruppe angerufen und mit mir diesen Termin ausgemacht hat, war eine ihrer Fragen, wie ich denn auf die Spur dieser jüdischen Kinobesitzer gekommen bin? Leider muss ich da etwas ausholen. Zunächst einmal, ich bin 1946 geboren und gehöre damit zu der Generation, die von ihren Eltern keine oder falsche Antworten bekommen hat, was denn da in ihrem Beisein von 1933 – 1945 passiert ist. Unsere Generation war es gewohnt, keine Antworten auf unsere Fragen zu bekommen, bzw. in der Regel wurden wir angelogen, sowohl im allgemeinen, als auch im persönlichen. Ich war also geübt im „Angelogen Werden“.

Gleichwohl war das (auch später) immer die Generation, die Europa in Schutt und Asche gelegt hatte und sich bei meiner Generation darüber beschwerte, wenn bei einer Demonstration ein paar Fensterscheiben bei Banken kaputt gingen. Das war der Boden. Wie nun Kinos? Schon als Junge interessierte ich mich für Kino. Später brach ich ein Ingenieur Studium (bei der Ingenieur Schule für Produktions- und Verfahrenstechnik) nach drei Semestern ab und bewarb mich an der Filmakademie in Berlin (dffb).

Wir wollten Filme machen, um dieses Land aufzuwecken. Die Wahrheit zutage fördern und die Verhältnisse zu ändern, von denen wir behaupteten, dass die alten Nazis noch immer die Politik bestimmten und die (ihre) Verbrechen versteckten. Als kleiner Junge (10 Jahre) war ich stets der Meinung, dass die Kommunisten den Krieg begonnen hätten. Kein Wunder also, dass sie in dem Deutschland, in dem ich langsam größer wurde, verachtet wurden und verboten waren. Erst viel später erfuhr ich, dass es die Konservativen in Verbindung mit den Nazis waren, die den zweiten Weltkrieg begonnen hatten. So viel zur Ausgangslage.

1976 war ich mit dem Studium an der Akademie (dffb) fertig und begann mich nach einer Berufsperspektive umzusehen. Fernsehen und Film. Ein Abfallprodukt des Studiums war die Beschäftigung mit der Geschichte des Kinos. Ein Bereich, weitgehend unerforscht. Filmgeschichte besteht aus Schauspielern, berühmten Filmen, manchmal kommen die Namen von Regisseuren dazu, selten die Kameramänner und die Tonleute. Aber niemals tauchen Kinobesitzer auf. Sie sind das Unwichtigste in der Filmgeschichte überhaupt, obwohl sie doch den Filmen erst die Chance geben, das sie das Licht der Welt erblicken. Irgendwann fielen mir dann, in der gut sortierten Bibliothek der dffb, die Reichskinoadressbücher in die Hände. Das Reichs Kino Adressbuch 1934. Eine Reihe von Kinos kannte ich, viele gab es nicht mehr.

Oft waren Straßen umbenannt worden. Merkwürdig war auch, dass zwischen 1933 und 1938 viele Kinos den Besitzer gewechselt hatten. Die Sache begann mich zu interessieren. Ich habe es damals so probiert, wie sie auch heute eine solche Sache vermutlich beginnen würden. Ich bin in die Kinos gegangen und habe gefragt.

Und es kam nur Schrott dabei heraus. Ja – aber man wisse nicht. Die Zuschauer schon gleich gar nicht. Nun, das ist nicht weiter verwunderlich, habe ich mir damals gesagt. Fragen sie mal heute einen, wem das Cinemaxx gehört, oder das Streits Kino. Nur wenige wissen es. Und für den Besuch eines Kinos ist das auch nicht wichtig. Doch auch die Beschäftigten hatten keine Kenntnisse.

Ja, sie wären ja im Krieg gewesen und haben gar nichts mitbekommen. Die alte Leier. Wegsehen, Lügen. Ich gab dann die Befragung von Zeitzeugen auf und sah mir stattdessen die Reichskinoadressbücher an. Da gab es einen „Henschel Film und Theater Konzern“, eine Firma mit zwölf Kinos, die sich im Laufe der Jahre von einer OHG in eine KG verwandelte und dann in einer Schauburg GmbH endete.

Mir begegneten die Namen Urich Sass und Streit. Später Romahn und Schümann. In der Filmakademie in Berlin gab es die Mikrofilme von zwei Tageszeitungen (6 x mal in der Woche), die sich ausschließlich mit Film beschäftigten. (In Hamburg gab es damals diese Mikrofilme nicht).

Die „Lichtbildbühne“ und den „Kinematograph“. Der Kinematograph gehörte dem Medienzar Hugenberg, das wusste ich, die Lichtbildbühne war weitgehend unabhängig. Also machte ich mich ran. An das Studium der Lichtbildbühne. Sechs mal die Woche, 52 Wochen und eine Menge Seiten. Nach drei Wochen war ich immer noch nicht weiter.

Eigentlich wusste ich auch gar nicht, was ich suchte. Ich wollte schon aufgeben, denn so viel Zeit hatte ich auch nicht. Das Stipendium war ausgelaufen. Also beschränkte ich mich auf historische Daten. Der 30. Januar 1933 war ein solches historisches Datum. An diesem Tag hatte der konservative Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die Nazis nannten das später und heute auch noch, Machtergreifung. (Das stimmte nicht, wie ich heute weiß – 2014). Genau an diesem Tag wurde einer der beiden Kinobesitzer des Henschel Film und Theater Konzerns, Hermann Urich Sass im jüdischen Teil des Hamburger Friedhofs Ohlsdorf beerdigt.

Ich wechselte die Mikro Filme gegen die Grabplatten aus und suchte vor Ort. Und fand den Grabstein dieses Herrn. Ohne diese Zeitungsnotiz mit der Beerdigung auf dem Jüdischen Friedhof wären weiter alles nur Vermutungen gewesen. Das Grab wurde gepflegt und nach Landesbrauch kann die Pflege nicht ohne Geld erfolgen, also musste es Jemanden geben, der für die Grabpflege dieses Jüdischen Grabes bezahlte. Ich schrieb ein 19- seitiges Manuskript, in denen ich die wenigen Vermutungen über den Verbleib des Henschel Film und Theaterkonzerns unterbrachte. husass Foto Henning ScholzBy-nc-sa_color

IMG_3013-300x199Ich gab mein Manuskript in Hamburg in der Fruchtallee bei der Jüdischen Gemeinde ab und bat diese, das Manuskript an die Leute weiterzuleiten, die für die Grabkosten von Hermann Urich Sass aufkamen. Und ich hatte Glück, nach drei Monaten bekam ich Antwort aus Mexiko und aus Brasilien. Dorthin waren die entkommen, deren Väter damals dieser Kino Konzern gehörte. Es stellte sich heraus, ich hatte nicht schlecht vermutet. Die jüdischen Besitzer waren enteignet worden. Einige von ihnen waren der Deutschen Mordmaschine entkommen. Das Thema, so stellte sich heraus, war öffentlich-rechtlich nicht interessant.

Da ich beim Hamburger Filmbüro als Störenfried schon mehrfach aufgefallen war, stellte ich einen Antrag und benutzte dazu nicht meinen Rufnamen, sondern einen der beiden anderen, den mir meine Eltern mangels anderer Schätze vermacht hatten.

Und Otto Meyer hatte Glück, sein Antrag wurde mit 80 TDM gefördert. Zusammen mit dem Kameramann Dietmar Bruns fuhr ich nach Amerika (Nord und Süd) und wir befragten die Zeitzeugen. Sie haben mich gefragt, wie ich vor zwanzig Jahren darauf gekommen bin, nach diesen jüdischen Kinobesitzern zu suchen. Ich weiß es nicht. Aber als ich diese gefunden hatte, die Söhne und Töchter jener Kinobesitzer, da haben diese mir die gleiche Frage gestellt. Allerdings mit einem Zusatz. Wieso hat das so lange gedauert?

Und das ist wirklich die Frage, wieso hat es sechzig Jahre gedauert, dass sich jemand gefragt hat, wo sind die geblieben? Die Mörder von damals laufen ja noch alle frei rum. (Inzwischen nicht mehr, weil viele verstorben sind 2014). Mehrere Generationen hatten teilgenommen. Am Ende hatten sich alle Täter zu Mitläufern erklärt. Wer lange genug Krimis liest, weiß, was das große Problem des Mörders und der Mörderin ist. Das Verstecken der Leiche, insbesondere der Kopf macht Schwierigkeiten. Wir sind immer noch auf der Suche nach dem perfekten Mord und der wird mit den neuen technischen Möglichkeiten immer unmöglicher.

Anders dagegen ist es, wenn sich ganze Völker auf vielfältige Weise an diesem Mord beteiligen. Sich dann die Beute teilen und die Leichen verbrennen. Dann wird die Sache schon viel einfacher für jede/n einzelne/n MörderIn. Dann halten sie alle zusammen. Und wenn es dann noch um Leute geht, die man normalerweise nicht wahr nimmt, weil sie selbst in einem Teil des Unternehmens arbeiten, das man als Kunde nicht wahrnimmt, dann verschwinden diese Menschen fast spurlos. Oder kennen sie den Menschen, der für die Cinemaxxe die Filme aussucht? Oder gar jenen, der vor einigen Jahren noch als Besitzer jener Kinos fungiert hat?

Natürlich nicht. Manchmal begegnet ihnen die Kassiererin, manchmal der Vorführer, aber schon der Buchhalter ist dem Publikum, also uns, nicht bekannt. Eine weitere Tatsache kommt auch aus den Krimis. Verstecken lässt sich etwas am besten, wenn es mit einer anderen Sache, möglichst der gleichen Sache, zusammen liegt. Also Fleisch am besten bei Fleisch und Papier bei Papier verstecken. Diese Erkenntnisse haben eine weite Verbreitung. Wenn man also Papier nicht mehr rechtzeitig vernichten kann, dann versteckt man es besten bei anderem Papier und erfindet Vorschriften, nach denen es nicht gelesen und veröffentlicht werden darf.

Im Falle der jüdischen Mitbürger brauchte man keine Ängste zu haben. Alles gut in Archiven versteckt und erst in 50 Jahren zugänglich. Das wird bei uns Datenschutz genannt, ist aber doch nur Täterschutz. Sehr wirksam. Und natürlich: völlig absichtslos. Die Opfer, die noch lebten, waren froh, dass sie noch lebten und wollten auch nicht daran erinnert werden, wie das damals war, als man ihnen mit dem Tod drohte und die anderen vernichtet worden.

Die Filmindustrie bildet für den Teil, der sich vor der Kamera abbildet, eine kleine Ausnahme. Das Schicksal der Schauspieler war schnell aufgeklärt. Die meisten waren, so sie es konnten, geflohen, einige waren umgebracht worden und man erfuhr von ihrem Leidensweg, aber alle, die hinter der Kamera waren, mit Ausnahme vielleicht des Regisseurs und des Kameramannes waren dem Publikum nicht interessant genug, um nach ihnen zu suchen. In dieser Reihenfolge belegen Kinobesitzer den letzten Platz.

Kurz: Als ich 1987 anfing, nach den Kinobesitzern zu suchen, hatte noch niemand vor mir gesucht und deshalb natürlich auch nichts gefunden. Ich hatte am Anfang schon berichtet, dass ich als Jahrgang 1946 schon daran gewöhnt war, für den fraglichen Zeitraum von 1933 – 1945 angelogen zu werden. Schon als ganz kleiner Junge mit sechs oder sieben Jahren hatte ich den Eindruck, dass etwas ganz Schreckliches in dieser Zeit passiert war.

Dass niemand sagen konnte, wie es passiert war und niemand von denen, die um mich herum waren, war an dem Schrecklichen beteiligt, bis auf meinen Onkel (genannt Onkel Otto, genauer Dr. Otto Averdieck, Rechtsanwalt). Ein überzeugter Nazi. Ich erinnere mich nicht mehr, ob er seiner Sache noch so sicher war. Damals. Aber auf jeden Fall war er der einzige, der die Augen offen hatte, der zugab, dabei gewesen zu sein. Der von Beruf Jurist war. Das war der einzige. Im besten Falle bekam man keine Antworten, wenn man Fragen stellte und wenn man Antworten bekam, dann stellte sich später heraus, dass man angelogen worden war.

Damit bin ich aufgewachsen. Ich habe schon berichtet, dass ich als Kind der Meinung war, die Kommunisten wären Schuld an diesem großen Unglück mit den zwei verlorenen Kriegen und allem was dazu gehört. Ich fand es als Kind deshalb auch richtig, dass die Partei von diesen bösen Menschen verboten war. Erst später kam ich drauf, dass die, die immer so für Ruhe und Ordnung sprechen, die Konservativen, für diese Kriege verantwortlich waren und dass im Gegensatz dazu es grade die Kommunisten waren, die diese Kriege nicht wollten. Das gehört natürlich dazu.

Die KPD ist heute noch verboten, die NPD nicht. Um zu den Kinos zurückzukehren. Ich habe inzwischen eine große Menge an Wissen angehäuft über die Enteignung dieser Kinos, aber es gibt kaum Neugier danach.

Vor einigen Jahren gab es zwei Autoren, die ein sog. “Hamburger Kinobuch” vorbereitet und dann auch veröffentlicht hatten. Bei der Vorbereitung dieses Buches hatte ich beide kennengelernt und ihnen auch sämtliche Fakten, die ich zu jener Zeit wußte, zur Verfügung gestellt.

Sie haben von diesem Wissen keinen Gebrauch gemacht und so ein völlig unhistorisches Kinobuch vorgelegt. Ich hoffe, dass in ihrer Generation so was nicht mehr passiert. Auch natürlich in der Hoffnung, dass Wiederholungen nicht stattfinden werden.

 Ich danke fürs Zuhören.

Vom Original Manuskript übertragen am Montag, d. 2. Juni 2014

Vorgetragen am: 28. Mai 2008 in der Uni Hamburg, aber bisher nicht veröffentlicht  Foto Jens MeyerBy-nc-sa_colornilpferd_tumb04051942IMG_2712Stoperstein

pdfAbschrift-LBB-vom-27-Juli-1938

lbb_beil2ff

PDF FritzKuhnertUFAAuszugausBEricht15Seiten

PDFhenschelkalender1