Briefe an Eugen (XXV) Behutsam ergänzt

(Zeichen 4.844) Briefe an Eugen

Die Fakten behutsam ergaenzt (XXV)

Römische Zahlen

Hallo Eugen,

Christian Geissler am 12. 03. 2007. Foto von Sven

in meinem Buechersortiment befinden sich zwei Ausgaben des Buches von Christian Geissler: »Wird Zeit, daß wir leben«. Eine Auflage aus der Zeit als Christian Geissler noch lebte und und eine aus der Zeit als er nicht mehr lebte. Erstmals war das Buch 1976 im Rotbuch Verlag Berlin erschienen. Mein Exemplar ist aus dem Jahr 1979. Ein Taschenbuch. Auflage 11.-13. Tausend. 236 Seiten. Die Ausgabe von 2013 ist gebunden, hat 316 Seiten und ist im Verbrecher Verlag Berlin erschienen. Hinzugefuegt ist ein Nachwort von Detlef Grumbach und eine „Editorische Notiz“ auf Seite 317.

In dieser heißt es u. a.: »Das Glossar war bereits Bestandteil der Erstausgabe, geprägt von einer pointierten Mischung aus Fakten und Standpunkten. Für heutige Leser wurden hier und da die Fakten behutsam ergänzt, die typische Diktion Geisslers wurde aber so weit wie möglich beibehalten«.

Das entspricht leider nicht den Tatsachen. In der ersten und in der von mir erstandenen Ausgabe dieses Buches gibt es kein »Glossar«. Christian Geissler hat dieses Wort vermieden. Er hat den sieben Seiten am Ende des Buches die Ueberschrift »Anmerkungen« gegeben. Es handelt sich um 61 Anmerkungen. Die Anzahl ist in der Auflage von 2013 gleich geblieben. Verteilt auf zehn Seiten, während es in den ersten Auflagen sieben Seiten waren.

Apropos: Fakten behutsam ergänzt. Die neuen Anmerkungen sind nicht nur laenger geworden, sondern auch anders. Los gehts mit den Hungerdachluken. Bei Christian Geissler einfach und klar: (9) „Hungerdachluken. Beim Hamburger Aufstand im Oktober 1923, als die arbeitenden Massen hungerten, kämpften die Revolutionäre zum Schrecken der Weißen klug aus dem Hinterhalt, z. B. aus barmbeker Dachluken.“

Dem Behutsamergänzer der Ausgabe von 2013 ist das nicht genug und er oder sie fügt deshalb an: „Der Hamburger Aufstand war eine von der militanten Sektion der KPD in Hamburg am 23. Oktober 1923 begonnene Revolte. Ziel war der bewaffnete Umsturz in Deutschland nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution 1917. Im Laufe des Aufstands wurden in Hamburg und Schleswig-Holstein insgesamt 24 Polizeireviere besetzt.“ (Liest sich wie bei Wikipedia abgeschrieben. Und siehe da: ist es auch. Nur der zweite abgeschriebene Satz wurde ein wenig veraendert, oder sollte es etwa umgekehrt sein?)

Besonders auffaellig ist es bei der Anmerkung 10 auf Seite 230. Im Original (1979) von Christian Geissler steht:

„rede Genosse Mauser! vgl. Majakowski, linker Marsch: Entrollt euren Marsch / Burschen von Bord / Schluß mit dem Zank und Gezauder / still da, ihr Redner / du hast das Wort / rede, Genosse Mauser . . . . Die Rede ist hier von der C 96, einem der beliebtesten Modelle aus dem Hause von Paul v. Mauser, die erste wirklich brauchbare Pistole mit verriegeltem Verschluß und mit einem 10- und später auch 20- Schuß-Magazin, das vor dem Abzug liegt. Zusätzlicher Vorteil: Die Waffe hatte eine Einrichtung zur Anbringung eines Anschlagschaftes. Im revolutionären Rußland nannte man die diese Waffe auch »Bolo-Mauser«. Bolo war der in der Umgangssprache entstandene Ausdruck für Bolschewik. Eine spanische Version dieser Pistole war bei den chinesischen Genossen der zwanziger Jahre als Maschinenpistole recht verbreitet. Wenn die Mauser auch bei uns jetzt durch andere, handlichere Konstruktionen ersetzt ist, erfreut sie sich doch in manchen Länder noch eines außerordentlichen Zuspruchs.“

In der Neuausgabe von 2013 wird daraus: „rede Genosse Mauser! Zitat aus dem Gedicht »Linker Marsch« von Wladimir Majakowski, später vertont von Hanns Eisler: »Entrollt euren Marsch / Burschen von Bord / Die Rede ist hier von der Mauser C 96, einer der ersten Selbstladepistole.“

Zwei Revolutionen sind verschwunden. Stattdessen erfaehrt der »Leser von heute«, wer die Musik dazu gemacht hat. Naechstes Beispiel: hauptvollblut und wasistdas Während es bei Christian Geissler kurz und knapp heißt: »Kurzfassung der Schwerpunkte lutherischer Glaubenslehre« schwafelt der Faktenbehutsamergänzereditor vom Verbrecherverlag von Paul Gerhard, Johann Krüger, Martin Luther und dem Kleinen Katechismus.

Auch das Stichwort »im Krieg in Kiel« erfaehrt eine erstaunliche Veränderung. Während Christian Geissler schreibt: »Die November Revolution 1918 begann am 3.11. mit dem bewaffneten Aufstand der Matrosen in Kiel. Als auf den Schiffen des III. Geschwaders umfangreiche Verhaftungen vorgenommen wurden, erhoben sich die Matrosen und begannen den Kampf um die Befreiung ihrer Kameraden.«

Daraus macht der Faktenbehutsamergänzer des Verbrecherverlags (natuerlich ohne Namensnennung und Begruendung): »Der Kieler Matrosenaufstand fand Anfang November 1918 – gegen Ende des Ersten Weltkrieges – statt. Auch der Rest dieses geaenderten Textes ist nicht besser. Da mutiert die Revolution zu einem »Impuls der Ausbreitung der Unruhen«. Auch die EK –Offiziere von Christian Geissler werden von dem Faktenbehutsamergaenzer umgearbeitet. Bei Christian Geissler steht unter Nr. 160: EK-Offiziere Offiziere mit dem sog. Eisernen Kreuz, also mit Praxis aus dem ersten Weltkrieg, vgl. BGS-Offiziere mit Nazikriegspraxis. Daraus wird: (213) EK-Offiziere, die mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet waren, also im Ersten Weltkrieg gedient hatten. Geissler vergleicht sie mit Offizieren des Bundesgrenzschutzes »mit Nazikriegspraxis«.

Verschwunden ist das Wort sog. und sie wurden mit Eisernen Kreuz „ausgezeichnet, weil sie also im Ersten Weltkrieg gedient hatten“ und nicht schnöde mit dem EK ausgezeichnet. Christian haette sicher gefragt: Wem gedient?

Christian Geissler am 12. 03. 2007. Foto von Sven.

Alles eher aergerlich, wie ich finde. Aber natuerlich kein Grund, diese Ausgabe nicht zu kaufen und zu lesen. Vielleicht kann der Verlag ja eine Beilage mit den Originalanmerkungen von Christian Geissler beilegen, so liesse sich der Schaden begrenzen, J.

PDF Anmerkungen 1979

Wird Zeit, daß wir leben 2013 U1

Wird Zeit, dass wir leben 2013 U 4

Wird Zeit, dass wir leben Seite 317

PDF Briefe an Eugen (XXIV) Gruesse vom Editor

Wird Zeit,daß wir leben U1

Wird Zeit, daß wir leben U4

Zeichnung Helga Bachmann
Creative commons.org
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Briefe an Wiebeke (XXXII) Winterunterwäsche

Briefe an Wiebeke (XXXII)

Romische Zahlen am BUG

Hallo Wiebeke,

Ben Hecht hat geschrieben, natürlich nicht mir, sondern als Reporter der amerikanischen Zeitung Daily News: „Ich war ein vierundzwanzigjähriger junger Mann, als ich deutschen Boden betrat. Als ich ihn verließ, hatte mein jugendlicher Zynismus viel von seinem Grinsen verloren.“ ( . . . )

Über seine Begegnung mit Karl Liebknecht schrieb er: „Dieser kleine Mann war offensichtlich Karl Liebknecht. Erst eine Stunde zuvor hatte ich von ihm gehört (obgleich er für das politisch denkende Volk weltberühmt war). Es war meine erste Begegnung mit Brutus, Robespierre, Garibaldi, Bolivar, Washington — ein Führer der Revolution, ein Stürmer der Königspaläste. Er drang in das Schloß ein, einhundert Matrosen folgten ihm. Die Zivilisten blieben draußen im Schnee. Es wurden keine Befehle erteilt. Es sah aus wie eine Revolution, bei der jedermann machen konnte, was er wollte. In Sachen Politik so unwissend wie ein Igorote, war ich trotzdem ein guter Reporter und hinsichtlich dieser Nacht fast immer ein glücklicher. Ich stellte keine Fragen und folgte Liebknecht“. ( . . . )

„Ich gelangte in ein weiträumiges Schlafzimmer. Die großen Matrosen standen in Reihe angetreten an seinen Wänden. Ihre Karabiner berührten den Boden, ihre Gesichter blickten in starrer Aufmerksamkeit nach oben. Liebknechts Stimme schrie fremdartige Sätze in einem von des Kaisers Schlafzimmern. Ich erkannte einige wieder — »die Freiheit für das Proletariat ist angebrochen — die Arbeiter sind die neue Dynastie —«

Niemand rührte sich nach der Rede oder ließ einen Ton vernehmen. Liebknecht begann sich auszuziehen. In seinen schwarzen Augen lag ein zorniger, lyrischer Blick. Liebknecht, der kleine Arbeiter mit einem guten Mundwerk, zog sich im Schlafzimmer eines Hohenzoller-Kaisers aus ― und war im Begriff, sich in das Bett des Kaisers zu legen!

Nach einigen Minuten stand Liebknecht barfuß in langer Winterunterwäsche. Einige der Knöpfe fehlten, und das Gesäßteil war vom zu vielen Waschen ausgebeult. Er hob eine prallvolle Aktentasche und vier umfangreiche Bücher auf. Mit diesen Sachen unter seinem Arm näherte er sich dem kaiserlichen Bett. Jemand schaltete die Deckenbeleuchtung aus. Eine Lampe auf dem spindelbeinigen Nachttisch blieb brennen. Der weisse Schnee fiel wie ein Gesicht in alle Fenster.

Die Matrosen waren erstarrt. Sie standen da und beobachteten, wie sich der kleine Mann in der häuslichen Bekleidung langer Unterwäsche dem königlichen Bett näherte, und ich spürte, daß ein sonderbarer Kampf stattfand ― einer, über den ich niemals in den Geschichten von Revolutionen gelesen hatte. Schattenhafte Wesen lieferten den hundert bänderbemützten Matrosen, die an der Wand standen, den Kampf. ( . . . )

Liebknecht, der Volksführer, plazierte seine prallvolle Aktentasche und vier Nachschlagewerke auf den kleinen Nachttisch und kroch zwischen die kalten königlichen Laken. Im Raum lastete das Schweigen. Ich hörte die königlichen Sprungfedern quietschen, als Liebknecht seine Beine ausstreckte. Dann, als er sich umdrehte, um ein Buch zu nehmen gab es plötzlich einen durchdringenden Lärm. Der spindelbeinige Nachttisch, eine Antiquität, war unter dem ungewohnten Gewicht revolutionärer Literatur zusammengebrochen. Die Lampe schlug auf den Boden, und eine der Birnen explodierte. Und die Soldaten der Revolution flohen. Bis auf den letzten Mann flitzten die hundert Matrosen halb in Panik aus dem Schlafzimmer, von mehr Geistern in die Flucht geschlagen, als ich mir je hatte vorstellen können. Ich begann mein erstes Telegramm an die Daily News, die mit siebzig amerikanischen Zeitungen assoziiert war, mit der Information: »Kaiser Wilhelm kehrte letzte Nacht nach Berlin zurück«.“ (Abgeschrieben aus dem Buch: Ben Hecht – Revolution in der Teekanne, Geschichten aus Deutschland 1919, erschienen im Wolke Verlag, Hofheim, 1989. Fallobst Band 1. Aus dem Amerikanischen von Dieter H. Stündel und Helga Herborth . (111 Seiten). ISBN 3-923997-24-8

Tier
Postkarte

pdf Briefe an Wiebeke (XXXII) Winterunterwäsche

Eine Besatzung im Streik

Fotos Jens Meyer
Tier
cc
Fotos Otto Meyer

Alte Postkarten Der König der U Bahn und andere Karten V

Rückseite der Karte aus Belfast (Irland): „Built by the Irish, sunk by the English“ Die Suchmaschine hat übersetzt: Gebaut von Iren, versenkt von Engländern

Das erste Opfer der Titanic war ein 15 jaehriger Nieter aus Belfast namens Samuel Scott, der zwei Jahre vor Stapellauf des Schiffes von einer Leiter fiel. Fotografen (so weit bekannt): Foto 1 Beisetzung der Opfer der Revolution Gebrüder Heckel, Foto 2 Fischfrau Rudolf Heinrich Meyer, Foto 3 Milchhändler Rudolf Heinrich Meyer, Foto 12 Der König der U Bahn  Jens Meyer