Nachruf Werner Esser Geb. 1948

Erschienen im Tagesspiegel vom 16.10.2015 Nachruf auf Werner Esser (Geb. 1948)Er hätte wohl gesagt:Die letzten fünf Monate war ich glücklich.“

von Tatjana Wulfert

Wir bleiben drin.“ Der Spruch zieht sich über die Fassade, schwarze Buchstaben auf weißem Banner in den Ästen eines vom Sockel bis unters Dach gemalten Baumes . 1974 hatten Studenten das Haus in der Waldemarstraße 81 in Kreuzberg besetzt und ihre Losung auf die Vorderfront gepinselt. 2015 gibt es Baum und Banner immer noch: Sie blieben drin, die einst wilden und inzwischen etablierten Intellektuellen.
Werner gehörte dazu, einerseits. Andererseits hatte er nie in einer Vorlesung gesessen. Aber er kannte sich mit Wohngemeinschaften aus. Hatte damals in Düsseldorf, wo er aufgewachsen, zur Schule und in die Lehre gegangen war, fluchtartig sein Elternhaus verlassen, um in die erste WG der Stadt zu ziehen. „Du hast psychische Probleme“, war ihm wieder und wieder an den Kopf geworfen worden von seinem prügelnden Vater, seiner kalten Mutter, die wütend zu dem „linken Pack“ gelaufen war, um ihn da herauszuholen.
Daraufhin, und um nicht zum Bund zu müssen, zog er nach Berlin und entdeckte die Waldemarstraße: das riesige Wohnzimmer, die Gemeinschaftsküche, seine neue Familie. Bei der er aber nie eingezogen ist. Jeden Freitag kam er vorbei und bewachte das einzige Telefon. Nahm den Hörer ab, wenn es klingelte und rief den Verlangten, auch hoch bis in den vierten Stock. Oder er saß mit den Kindern der Bewohner auf einem Sofa und guckte die Sesamstraße. Oder zapfte, wenn gefeiert wurde, Bier für alle. Tagsüber half er in der Tankstelle um die Ecke aus, zog Reifen auf, wusch die Wagen, begann Unmengen zu essen. Und zu trinken. Er schlang, er soff, er verlor seinen Job und stand eines Tages vor der Tür einer Freundin. Sie fuhr ihn sofort ins Krankenhaus. „Er muss einen Entzug machen“, sagte der Arzt, „auf der Stelle.“
Werner rührte keinen Tropfen mehr an, nie wieder. Rauchte dafür wie ein Schlot, schüttete literweise Kaffee in sich hinein und fand Arbeit in einem Abrissunternehmen. Er mochte die Arbeit, und er hatte Glück, Glück im Spiel, gewann beim „B.Z.“-Bingo 10 000 Mark, reiste damit nach Schweden, Norwegen, Finnland. Er liebte die kalten Länder, und wenn er gekonnt hätte, wäre er bis zum Nordkap gefahren.
Aber das Abrissunternehmen ging pleite. Es blieben der Hartz-IV- Satz und die Flaschen, die er einsammelte, die Feste in der Waldemarstraße, auf denen er noch immer das Bier zapfte, das Frühstück einmal im Monat und die Geburtstagsessen mit seiner Freundin. Er dachte an seinen Bruder, den von den Eltern geliebten Sohn, der schon tot war und den er vermisste. Sein Knie schmerzte, er kam kaum noch die Treppen hoch, wurde operiert, aber es wurde nicht besser. Er fiel hin, mitten auf dem Bürgersteig. Zwei Frauen kamen vorüber. „Guck mal“, sagte eine, „das besoffene Schwein.“ Zwei türkische Männer halfen ihm auf und gaben ihm Wasser. Und als Werner glaubte, es könne nicht mehr schlimmer werden, stellten die Ärzte den Lungenkrebs fest.
Hätte ihn jemand über das Glück befragt, hätte er wohl gesagt: „Die letzten fünf Monate war ich glücklich.“
Die letzten fünf Monate lebte Werner im Pflegewohnheim „Am Kreuzberg“. Er wohnte in einem hellen Zimmer, er hörte seine Jennifer-Rush- und Klassikplatten. Er wurde vom mürrischen Einzelgänger zu einem beschwingten Mitmenschen. Die Pfleger und Schwestern wandten sich ihm zu, wann immer er Schmerzen hatte, wann immer Angst.
Seit dem 1. Januar 2015 gibt es für Sozialhilfeempfänger, deren Bestattung das Amt bezahlt, keine Namenstafel mehr und keinen Trauerraum für die Abschiednehmenden. Werner starb am 1. Januar. Während seine Urne zusammen mit 20 anderen in das Grab gelassen wurde, zündeten das Pflegepersonal und alte Freunde im Heim eine Kerze für ihn an bei Kaffee und Kuchen und Jennifer Rush. Die alten Freunde ließen ein Schild für ihn anfertigen und schraubten es neben die Tür in der Waldemarstraße 81: „Hier zapfte Werner Esser, er hat uns immer gut eingeschenkt.“

Tatjana Wulfert

Anmerkung 2018: Es ist nicht alles richtig, was Tatjana Wulfert da im Tagesspiegel geschrieben hat, aber so falsch auch wieder nicht, das man es nicht veröffentlichen könnte. Zwei Nachrufe: Rainer Graff und Werner Esser auf Personen, die mit der Walde 81 etwas zu tun hatten.WernerWaldemarstrasse4Tieresehendichan1

Sanierung heisst Gesundmachen: Rainer Graff

Nachruf Rainer Graff geb. 1941

Waldermarstrasse1975

„Als Gymnasiast gilt Rainer als introvertierter Träumer, der es im Leben schwer haben wird. 15 Jahre später schlägt er als freiberuflicher Architekt und Stadtplaner in SO 36, Kreuzberg, auf, im Schatten der Mauer, abgeschrieben, sich selbst überlassen. Viele Probleme, viel Fluktuation. Marode Altbauquartiere aus der Gründerzeit, riesige Fabriketagen, die Gewerke längst verschwunden. Lebensqualität sieht anders aus, wer kann, zeigt dem Quartier den Rücken. Wer hier bleibt, hat keine oder nur diese eine Wahl: Alte, Arme, Lebenskünstler und Migranten.

Wie viele ist auch Rainer ein Zugezogener, aber einer mit Visionen, die er nun umzusetzen versucht: anders wohnen, anders arbeiten, anders denken, anders leben.

Für sich und für andere. Der gelernte Maurer weiß, wo er anzusetzen hat – an der Bausubstanz, die es zu erhalten gilt. Die Mieten sind lächerlich. Mit Monika, Lebensgefährtin und bildende Künstlerin, beziehen sie eine 200 Quadratmeter große Fabriketage in der Naunynstraße, die keine 100 Mark kostet. Dafür ist sie aber im Winter auch nicht beheizbar. Sie suchen Gleichgesinnte mit ähnlichen Problemstellungen und Interessenlagen: „Neues Leben in alten Fabriketagen.“

Schnell spricht sich das im Kiez herum, es herrscht Aufbruchsstimmung. Theaterleute, Freiberufler und andere Wagemutige treffen sich auf Rainers Frühstücksfesten, die alle zusammenbringen. „Geht nicht? Gibt’s nicht!“ – Rainer, längst nicht nur Vordenker, sondern Macher, ist in seinem Element. Er baut eine Zentralheizung um Ölöfen, entwirft Schlafhöhlen aus Wetterballons und Hütten, die der eisigen Kälte in den riesigen Räumen trotzen sollen. Nach der Geburt seiner Kinder entstehen neue, für sie gedachte Räume im Raumsystem.

Die Verbindung von Leben und Arbeiten nimmt Konturen an. Nebenbei schreibt er an seiner Doktorarbeit „Antworten des Körpers auf städtische Räume“, mehr als fünf Jahre lang. Eine Herzensangelegenheit, eher experimentell als empirisch, die ein absurdes und abruptes Ende findet, als er seine handschriftlichen Notizen in einem Karton auf dem Autodach vergisst und losfährt.

Als er nach Kreuzberg zurückrast, fliegen einige Blätter vom Wind bewegt über den Oranienplatz. Den Rest hat die Müllabfuhr beseitigt, eine Rekonstruktion ist unmöglich. Er trägt es mit Fassung. Für die Universität und eine klassische akademische Laufbahn ist der Individualist mit Freiheitsdrang, der Systemen skeptisch gegenübersteht, sowieso nicht geschaffen. Er ist sein eigenes System. Und in Kreuzberg gibt es für ihn genug zu tun.

Die Hausbesetzerbewegung hat sich formiert. Rainer hat mit den heterogenen, oft politisch radikalen Gruppen keine Berührungsängste. Immerhin hat ihn der Geist der 68er ja auch gestreift, auch wenn er politischen Heilsversprechen eher indifferent begegnet. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die Bewahrung der heruntergekommenen Altbausubstanz durch die Instandsetzung unter ökologischen Gesichtspunkten. Das ist für alle Neuland. Rainer hetzt von Versammlung zu Versammlung, formuliert Ziele und treibt Fördergelder auf, trifft auf Zustimmung und entschlossene Ablehnung. Er gründet einen Verein und einen alternativen Sanierungsträger, kommuniziert mit allen Parteien und Institutionen und vernetzt die verschiedensten Initiativen. Sein scheinbar autoritäres, zielorientiertes Auftreten macht ihn angreifbar.

Er braucht lange, um Gegenpositionen akzeptieren zu können. Von „Graf Naunyn“ oder „Architektenmafia“ ist die Rede, aber davon lässt er sich nicht beeindrucken, wenn er in weißer Maurerhose auf seiner Solex von Baustelle zu Baustelle fährt. Die Internationale Bauausstellung 1987 hat schon im Vorfeld Gelder in den Kiez gespült, die vieles ermöglichen, was sonst Utopie geblieben wäre. Dachbegrünungen, der freie Kinderladen „Langer Rüssel“, den er auch für seine Kinder mitbegründete, Gewächshäuser und Hofgärten genauso wie sein Abwasserprojekt „Vertikalsumpf“, das seine Gegner als „Rheinfall von Schaffhausen“ verlachen.

An einer Hauswand läuft das Brauchwasser von oben nach unten durch ein ausgeklügeltes, mit Schilf bepflanztes Tonnensystem, um gefiltert als Grauwasser wieder (ver) wendbar zu sein. Auch wenn die Anlage heute nicht mehr in Betrieb ist, die Tonnen an der Hauswand erinnern an die Kühnheit des Versuchs. Andere Spuren seines Wirkens sind aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Zum Beispiel das Objekt „Windfühler IV“ auf dem Oranienplatz, ein vertikal gekippter Katamaran, dessen Segel sich nach dem Wind richteten und den gespannten Drähten sphärische Klänge entlockten. Oder die Kletterskulptur „Ost-Geist“ aus Bambus, mehr als drei Meter hoch, gekrönt von einer japanischen Maske.

Nach dem Mauerfall eine berufliche Enttäuschung, ein lang vorbereitetes Projekt erhält den Zuschlag, aber sein Name fehlt. Er verlässt Kreuzberg, ein beruflicher, dann ein privater Neuanfang. Er zieht an den Wannsee. Neue Lebensgefährtin, zwei kleine Kinder, für Jahre ein Verwaltungsjob bei der Landesentwicklungsgesellschaft in Potsdam. Trotzdem behält er seine Fabriketage in Kreuzberg, ein Schauraum für seine Designobjekte wie die Loftbox. Plötzlich eine schwere Krankheit, für die sein wacher Geist keine Problemlösung findet. Eine Trauerfeier, auf der sich viele Kreuzberger einfinden. Ihr Lebensraum sähe ohne ihn grauer aus.“ Erschienen im Tagesspiegel vom Sonnabend, d. 25. Mai 2013 geschrieben von Erik Steffen

Waldemarstrasse19758
Wirbleibendrinwibleibendrin-2Wandmal By-nc-sa_colorIMG_3013-300x199Fotos von Helmut Schönberger und Jens Meyer. Im Bild (oben) ist Rainer Graff beim Malen zu sehen. (Der Herr mit dem Lockenkopf in der Mitte des Bildes)

Waldemarstrass19756walde2WaldemarstrassePlakatWaldemarstrasse19757milpferd_einauge

5. Mai 1975
Wenn MalerInnen nichts mehr einfällt, dann malen sie die Bilder ab. (Siehe Bild oben und siehe Bild unten)



Abgeschrieben in der Bernhard Nocht Strasse (Parallel Strasse zur St. Pauli Hafenstrasse). Für ALLE ABSCHREIBERINNEN gilt: Man sollte doch darauf achten, das das ABGESCHRIEBENE auch RICHTIG ist. Hier wurde FALSCH abgeschrieben! Die MalerInnen der Hafenstrasse meinten etwas ANDERES, was auch an dem beigefügten Bild (siehe oben) deutlich wird. Regel Nr. 1 beim ABSCHREIBEN lautet: Was frauman nicht im Kopf hat, sollte manfrau auch nicht aus dem Ärmel schütteln!

Waldemarstrasse 81 Berlin 1972/1975/ und 2011

Es geschah am 1. Mai 1975 . . . (und später) in der Fotografie Nummer 7 sieht man das Gesicht eines wichtigen Helfers in dieser Sache: Rainer Graff

wibleibendrin-2walde25022011By-nc-sa_colorIMG_3013WirbleibendrinFotos vom 1. Mai1975 und vom 25. Februar 2011 von Helmut Schönberger,   Jens Meyer und unbekannten Fotografen und Fotografinnen                                              ?  Mariannenolatz25022011Mariannenplatz225022011Wandmalhttps://www.medienberatungev.org/?p=2247werbleibtwodrin0001werbleibtwodrin

Ein Brief an die Malerinnnen 2020 aus der Walde 81 in Berlin Kreuzberg:1. Mai 1975. Das ist lange her. Vermutlich im Zuge von Wärmedämmung und Dachbodenausbau ist: >WIR BLEIBEN DRIN< verschwunden.

Nun gut. Wir hätten, als wir das damals gemalt haben, nicht gedacht, dass das Bild 45 Jahre erhalten bleibt. Immerhin eine lange Zeit: Im INFO BUG Nr. 56 Preis 0,50 DM vom 5. Mai 1975 (eine wöchentliche Zeitung der Spontis, wie wir uns damals nannten, haben wir es beschrieben). Hier eine Abschrift der Seite 2:______________________________________

WER BLEIBT WO DRIN?

Im INFO 43 stands schon mal: Wir, die 20-köpfige-Hausgemeinschaft (15 Erwachsene, 5 Kinder) bleiben drin in Kreuzberg, in unserem Haus Waldemarstraße 81. Das Haus liegt im “Sanierungs“ gebiet Kreuzberg Nord: ob Abriß oder sauteure Modernisierung wissen sie angeblich noch nicht, jedenfalls sollen wir ‚rausgeschmissen‘ werden.Der letzte Termin war der 28. Februar, aber: WIR SIND IMMER NOCH DRIN. Und um für jedermann deutlich zu machen, daß wir auch in Zukunft drin bleiben werden, haben wir uns am Tag der Arbeit an die Arbeit gemacht und einen Maienbaum besonderer Art errichtet (vergleiche Titelblatt). Der Aufwand für die Malaktion war relativ gering: kein Gerüst, die 30 Freunde und Genossen pinseln die Hauswand an, indem alle gleichzeitig aus den Fenstern hängen – angebunden oder an den Beinen festgehalten. Kosten für Material und Farbe ca. 250,- DM. Dauer: 3 – 4 Stunden (bei anschließendem gemütlichen Zusammenhocken, lockeren Gesprächen mit den Nachbarn und Passanten: bis zu 12 Stunden). Das Wichtigste daran war aber, daß alle, die mitmachten, sich mit der Aktion identifizieren konnten; endlich mal wieder ’ne Sache, an der wir uns alle gleichmäßig und gleichzeitig beteiligen, die wir wirklich zusammen machen konnten. Kurz und bündig: Wir hatten sehr viel Spaß dabei. Um Sinn und Zweck der Aktion zu vermitteln, hatten wir Flugblätter in türkischer und deutscher Sprache vorbereitet, die wir schon während der Bemalung an die Leute verteilten, die vom Volksfest auf dem Mariannenplatz herüberkamen, und wir dann später in die Briefkästen im Sanierungsgebiet steckten. Schon zu dem Zeitpunkt war zu spüren, daß die Aktion gut angekommen ist; auch auch jetzt im Moment, wo wir diesen Artikel schreiben, kann man immer wieder ältere Omis in ihren Bart murmeln hören, daß das “aber schön gemalt“ sei; kann man sehen, das der BVG-Bus jedesmal das Tempo drosselt, um allen Fahrgästen einen Blick auf das Haus zu ermöglichen; oder daß außer Polizisten auch normale Bürger aus ihrem Auto steigen, um mal eben ein Foto zu machen. WIR BLEIBEN DRIN, denn wir haben hier Wurzeln geschlagen.“ (Spalte 2) Das Motiv und die Schrift an der Aussenfassade sollen aussagen, daß wir hier in Kreuzberg verwurzelt sind, daß Sanierung nicht ein technisches, nur ein Altbau-/Neubau-Problem ist, sondern daß da sehr viel mehr dranhängt. Neben materiellen Dingen wie billige Mieten , große Wohnungen, Fabriketagen heißt “Kreuzberg“ für uns eben auch soziale Kontakte, Nachbarn, Freunde, Kneipen, Wohngemeinschaften, Kinderläden usw.. Das ist die Basis für unseren Selbstorganisation, die wir uns nicht kaputt machen lassen dürfen, wenn wir überleben wollen. Wenn wir die Räumung verhindern wollen, brauchen wir die anderen Kreuzberger. In dieser direkten – materiellen und ideellen- Betroffenheit liegt aber der Unterschied zur traditionellen Stadtteilarbeit. Diese Betroffenheit läßt es nicht mehr zu, daß wir den anderen Kreuzbergern “gegenüberstehen“ als “Alleswisser“, die den wissenschaftlichen Sozialismus gefressen haben: wir sind nur noch Betroffene wie sie, der Kontakt ist von vornherein solidarischer.

Hier ist eine Anzeige eingeklebt: Warum geht es mir so dreckig?

Mit unseren bisherigen Aktivitäten wie Zeitung, Flugblätter, Hausbesuche, Organisierung von Mieterfesten, oder auch ‚Besuch‘ von Herrn Koennecke, dem Geschäftsführer der senatseignenen Sanierungsgesellschaft BEWOGE mit 25 Leuten, haben wir immerhin erreicht, das wir “bis auf weiteres“ drin bleiben können. Es ist uns aber vollkommen klar, daß dies nur ein kleiner Aufschub ist, und daß die Bedrohung um keinen Deut geringer geworden ist. Um zu überlegen, wie das zu leisten ist, um die nächsten Aktionen vorzubereiten, treffen wir uns:

Jeden Mittwoch. 20.00 Uhr, Waldemarstr. 81

Bartelsstrasse Toxisches Treppenhaus

1. Mai 1975 Auch ohne Gerüst kann gemalt werden
1. Mai 1975

Waldemarsstrasse19756R Waldermarstrass19755RWaldermarstrasse1975 Waldemarstrasse19758 WaldemarstrassePlakatWaldemarstrasse19757By-nc-sa_colornilpferd_tumbIMG_3280IMG_3288

Im Esszimmer neben der Küche:

Walde Tapete gerettet (Text darüber ist leider auf dem Foto nur teilweise sichtbar). Nach meiner Erinnerung lautete das Zitat:
„Im Sozialismus darf es keine Tabus geben. Erich Honecker. 18.12. 1971“. Im Internet Archiv der Zeitung >Die Zeit< (abgerufen am 8. November 2019) findet sich folgende Version: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht“, sagte Honecker Ende vergangenen Jahres, „kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben“. Klingt irgend wie glaubwürdig, auch wenn >Die Zeit< nicht schreibt, wo sie das Zitat wann abgeschrieben haben. Wie man auf dem Foto erkennt, wurde von uns damals nicht >Die Zeit<, sondern das >NEUE DEUTSCHLAND<- (Zeitung der SOZIALISTISCHEN EINHEITSPARTEI DEUTSCHLANDS) zitiert, die am 18.12.1971 dieses Zitat gedruckt hatte. Bleibt die Frage, wie der Maler oder die Malerin dieses Bildes zu dieser Information gekommen war?
Einen Käufer oder Abonnenten des >NEUEN DEUTSCHLAND< (einer sehr langweiligen Tageszeitung, wenn ich mich recht erinnere) hat es in der Walde 81 nicht gegeben. Es gab jedoch eine Abonnentin im Haus (leider schon verstorben), die die Zeitung des westberliner Ablegers der SED, der SEW (SOZIALISTISCHE EINHEITSPARTEI WESTBERLIN) >DIE WAHRHEIT< bezog. Wo der Zeichner oder die Zeichnerin die restlichen Jünger versteckt hat? Vielleicht war der Platz nicht da? Jesus sprach zu seinen Jüngern: Wenn Du keine Gabel hast, friss mit den Fingern. Oder etwas vornehmer . . . dann iss mit den Fingern!

*Die Malerei hatte der Zeichner damals direkt auf die Rauhfasertapete gemalt. Als dann neue Rauh-fasertapete geklebt werden sollte, hatten wir ein Problem, das wir gelöst haben (wie man sieht). Jens
Wikipedia: Die Vorlage von Leonardo da Vinci. Da soll er drei Jahre lang von 1495 – 1498 dran gemalt haben, meint Wikipedia. Unser Tapetenbild ist sehr viel schneller gemalt worden. Von wem, das ist leider nicht überliefert.
Foto 1975 (noch ohne Bemalung)
Schon mal hat ein Künstler versucht unser Bild abzumalen.

45 Jahre sind genug?

Ein Brief an die Malerinnnen 2020 von den Malerinnen vom 1. Mai 1975 aus der Walde 81 in Berlin Kreuzberg:

1. Mai 1975. Das ist lange her. Vermutlich im Zuge der Wärmedämmung und Ausbau des Dachgeschosses ist: >WIR BLEIBEN DRIN< verschwunden.

Nun gut. Wir hätten, als wir das damals gemalt haben, nicht gedacht, dass das Bild 45 Jahre erhalten bleibt. Immerhin eine lange Zeit. Im INFO BUG Nr. 56 Preis 0,50 DM vom 5. Mai 1975 (eine wöchentliche Zeitung der Spontis, wie wir uns damals nannten), haben wir unsere Malarbeit beschrieben.

Hier eine Abschrift der Seite 2 “WER BLEIBT WO DRIN? Im INFO BUG 43 stands schon mal: Wir, die 20-köpfige-Hausgemeinschaft (15 Erwachsene, 5 Kinder) bleiben drin in Kreuzberg, in unserem Haus Waldemarstraße 81. Das Haus liegt im “Sanierungs“-gebiet Kreuzberg Nord: ob Abriß oder sauteure Modernisierung wissen sie angeblich noch nicht, jedenfalls sollen wir ‚rausgeschmissen‘ werden. Der letzte Termin war der 28. Februar, aber: WIR SIND IMMER NOCH DRIN. Und um für jedermann deutlich zu machen, daß wir auch in Zukunft drin bleiben werden, haben wir uns am Tag der Arbeit an die Arbeit gemacht und einen Maienbaum besonderer Art errichtet (vergleiche Titelblatt). Der Aufwand für die Malaktion war relativ gering: kein Gerüst, die 30 Freunde und Genossen pinseln die Hauswand an, indem alle gleichzeitig aus den Fenstern hängen – angebunden oder an den Beinen festgehalten. Kosten für Material und Farbe ca. 250,- DM Dauer: 3 – 4 Stunden (bei anschließendem gemütlichen Zusammenhocken, lockeren Gesprächen mit den Nachbarn und Passanten: bis zu 12 Stunden) Das Wichtigste daran war aber, daß alle, die mitmachten, sich mit der Aktion identifizieren konnten; endlich mal wieder ’ne Sache, an der wir uns alle gleichmäßig und gleichzeitig beteiligen, die wir wirklich zusammen machen konnten. Kurz und bündig: Wir hatten sehr viel Spaß dabei. Um Sinn und Zweck der Aktion zu vermitteln, hatten wir Flugblätter in türkischer und deutscher Sprache vorbereitet, die wir schon während der Bemalung an die Leute verteilten, die vom Volksfest auf dem Mariannenplatz herüberkamen, und wir dann später in die Briefkästen im Sanierungsgebiet steckten. Schon zu dem Zeitpunkt war zu spüren, daß die Aktion gut angekommen ist; auch auch jetzt im Moment, wo wir diesen Artikel schreiben, kann man immer wie-der ältere Omis in ihren Bart murmeln hören, daß das “aber schön gemalt“ sei; kann man sehen, das der BVG-Bus jedes mal das Tempo drosselt, um allen Fahrgästen einen Blick auf das Haus zu ermöglichen; oder daß außer Polizisten auch normale Bürger aus ihrem Auto steigen, um mal eben ein Foto zu machen. “WIR BLEIBEN DRIN,denn wir haben hier Wurzeln geschlagen.“ (Spalte 2) Das Motiv und die Schrift an der Aussenfassade sollen aussagen, daß wir hier in Kreuzberg verwurzelt sind, daß Sanierung nicht ein technisches, nur ein Altbau-/Neubau-Problem ist, sondern daß da sehr viel mehr dranhängt. Neben materiellen Dingen wie billige Mieten, große Wohnungen, Fabriketagen heißt “Kreuzberg“ für uns eben auch soziale Kontakte, Nachbarn, Freunde, Kneipen, Wohnge-meinschaften, Kinderläden usw.. Das ist die Basis für unseren Selbstorganisation, die wir uns nicht kaputt machen lassen dürfen, wenn wir überleben wollen. Wenn wir die Räumung verhindern wollen, brauchen wir die anderen Kreuzberger. In dieser direkten – materiellen und ideellen- Betroffenheit liegt aber der Unterschied zur traditionellen Stadtteilarbeit. Diese Betroffenheit läßt es nicht mehr zu, daß wir den anderen Kreuzbergern “gegenüber-stehen“ als “Alleswisser“, die den wissenschaftlichen Sozialismus gefressen haben: wir sind nur noch Betroffene wie sie, der Kontakt ist von vornherein solidarischer. Hier ist eine Anzeige eingeklebt:
Warum geht es mir so dreckig? Mit unseren bisherigen Aktivitäten wie Zeitung, Flugblätter, Hausbesuche, Organisierung von Mieterfesten, oder auch ‚Besuch‘ von Herrn Koennecke, dem Geschäftsführer der senatseignenen Sanierungsgesellschaft BEWOGE mit 25 Leuten, haben wir immerhin erreicht, das wir “bis auf weiteres“ drin bleiben können. Es ist uns aber vollkommen klar. daß dies nur ein kleiner Aufschub ist, und daß die Bedrohung um keinen Deut geringer geworden ist. Um zu überlegen, wie das zu leisten ist, um die nächsten Aktionen vorzubereiten, treffen wir uns: Jeden Mittwoch. 20.00 Uhr, Waldemarstr. 81

Abgeschrieben in der Bernhard Nochtstrasse (Parallel Strasse zur: St. Pauli Hafenstrasse). Für ALLE ABSCHREIBER gilt: Man sollte doch darauf achten, das das ABGESCHRIEBENE auch RICHTIG ist. Hier wurde FALSCH abgeschrieben. Die Hafenstrasse meint etwas ANDERES, was auch an dem beigefügten Bild (siehe oben) deutlich wird. Regel Nr. 1 beim ABSCHREIBEN lautet immer: Was man nicht im Kopf hat, sollte man auch nicht aus dem Ärmel schütteln.

Berlin. Mariannenplatz. 1974.
Foto Jens Meyer. Mariannenplatz. Berlin. 1974

Geschichten aus der Walde 81 / Bemalung 1. Mai 1975

Pdf Zehn Texte aus der Waldewaldemai 6Zehn Texte aus der Waldemarstrasse 81
1 Der Zollstock. Ich weiss nicht mehr genau, wer es war. Es war eine Frau. Jedenfalls, diejenige die im ersten Stock in der Mitte später eingezogen ist. Der Herbst war schon da, der Winter stand vor der Tür. Die Heizung lief noch nicht. Es war im Oktober oder September. Es wurde nachts schon sehr kalt. 4 Zimmer auf der ersten Etage. 6 Zimmer in der zweiten Etage, ebenso sechs in der dritten und dann gab es noch das Dachgeschoss. Ausser dem Erdgeschoss, das Gemeinschaftsetage werden sollte mit einer Küche war noch nichts verteilt. Ich war an der Heizung zu gange. Die lief noch nicht wieder. Überall gab es Leckagen. Im zweiten Stock riss mir ein Rohr ab, das ich nur kurz angefasst hatte. Und dann kam ich am ersten Stock, dem mittleren Zimmer vorbei und da war eine Frau am Ausmessen „Ihres“ Raumes. Ich war erschüttert. Während alle anderen an Gemeinschaftsinteressen dachten, dachte sie offensichtlich nur an ihre individuellen, obwohl eine Raumverteilung noch gar nicht stattgefunden hatte. Mich hat das damals sehr empört.

2 Ich nehm immer alles gerne, was aus dem Osten kommt. Wir hatten ein sehr schönes Flugblatt gemacht. Mit unserem Logo „Wir bleiben drin“. Mit vielen Fotos und wenig Text. Ganz im Gegensatz zu den Parteiheinis vom roten Haus gegenüber, die immer möglichst viel Text auf ihren Flugblättern unterbrachten. Ich erinnere kaum, wie sie alle hiessen. KPD/SEW/KBW/USW. Jedenfalls waren wir stolz, dass unser A 3 Blatt weder mit dem nahen Osten noch mit dem fernen Osten etwas zu tun hatte. Rainer (Graff) hatte die Fotos der Häuser geliefert. Dann sind wir mit den riesigen Blättern von Wohnung zu Wohnung gegangen. Ich glaub die Rückseite war türkisch gedruckt. Und dann hat uns mal eine Oma aufgemacht und gesagt, geben sie mal her, ich nehm immer alles gerne, was aus dem Osten kommt. Noch Jahre später war ich erschüttert über solche Ignoranz. Wo wir uns doch solche Mühe gegeben hatten.

3 Ein Weihnachten nicht wie jedes Jahr. Wir hatten uns viel vorgenommen. Michael arbeitete bei der Schnapsfirma . . . als Lagerverwalter. Weiss der Teufel wie er die Kartons mit dem Zeugs vor der Inventur gerettet hat. Wir haben sie jedenfalls abgeholt. Ich glaub mit unserm VW Bus. Kann aber auch ein anderes Auto gewesen sein. Jedenfalls machten sich alle daran (Michael vorneweg, der der hatte die Bestände schließlich vor der Inventur gerettet), die gefährlichen Drogen zu entsorgen. Dry Gin und Bobadilla 103, der damals bei uns gerade modern war. Wenn man das Wort Bobadilla noch einwandfrei aussprechen konnte, dann war man noch nicht betrunken. Irgendwie wurde dann aber alles weniger witzig, weil bei Michael kam Eifersucht auf und er meinte, das seine Frau Sonja mit Loretto rummache beziehungsweise er mit ihr. Zuerst gingen die Möbel im Erdgeschoss zu Bruch, aus einem Tischbein wurde ein Knüppel, mit der Michael auf die Suche nach dem vermeintlichen Nebenbuhler ging, den er aber nicht fand. Irgendwann wussten wir keinen Rat mehr, der Knüppel war ziemlich lebensbedrohlich. Polizei war verpönt aber letztlich wussten wir nichts anderes mehr. Sie kamen dann auch. Und im nu war Michael wieder nüchtern und ging zur Tür, als sie klingelten und sagte den Herren Polizisten, die sonst üblicherweise Bullen hießen, der Randalierer sei schon weg. Und das war denn ja auch so.

4 Kostüm im Hof. Einmal hatte Michaela ihr Kostüm gesucht. Michaela kam gerade aus der Tschechoslowakei und hatte sich noch nicht an unsere Kleiderordnung angepasst. Günther war mit ihr verheiratet, hatte auch ein Kind mit ihr. In Prag hatten sie geheiratet. Und weil sie vom Westen viel gehört hatte, hatte sie eben auch ein Kostüm. Ihr wertvollstes Stück. Günther war diese Woche für die Wäsche zuständig. Und das Kostüm hatte er dann im Kochwaschgang in die Waschmaschine gesteckt, weil er eben politische Ökonomie studierte und in den einfachen Dingen des Lebens nicht so bewandert war. Irgendwie war es anschliessend auf die Wäscheleine im Hof gelangt, weil man es nicht mehr als Kostüm erkennen konnte. Aber Günter war sich keiner Schuld bewußt. Sie fand es dann im Hof auf der Wäscheleine (oder unter der Wäscheleine?).

5 Der Frühstückstisch ist öd und leer die Wohngemeinschaft guckt blöd umher. Ein Fleischmesser und kein Fleisch. Zu erzählen von Helmut und allen Beteiligten. Wer noch beteiligt war, weiß ich nicht mehr, wir hatten ja immer zu zweit Küchendienst. Jedenfalls gab es kein ordentliches Messer in der Küche und so war ich der Meinung, wenn man nur einmal am Essen spart hat man für Jahrzehnte ein ordentliches Werkzeug. So kaufte ich für 45 Mark ein Messer und 5 Mark waren dann glaub ich noch übrig für Essen. Das war doch eine sinnvolle Investition, das Messer haben die doch heute noch! Und einmal Fasten ist doch nur gesund. Zum Ausgleich hab ich einmal einen Zentner Miesmuscheln angeschleppt, das Pfund für 90 Pfennig. Kann mich noch heute an den Genuß erinnern!

6 Linke Seite Ventile abgerissen. Loretto hatte im Lotto einen VW Bus gewonnen. Einen mit Mitteltüren und geteilter Frontscheibe. Das Fahrzeug hatte einem Urlaub von zwei Familien gedient. Dann war der TÜV abgelaufen. Jedenfalls beschloss die Wohngemeinschaft, den Bus als Gemeinschaftsbus zu übernehmen. Ob mit oder ohne Geld, wer weiß das heute schon noch? Jedenfalls wurde das Ding ohne TÜV in den Hof gestellt und rostete so eine Weile vor sich hin. Plenumsbeschluß hin oder her. Irgendwann haben wir uns dann dran gemacht. Alle Holme waren durchgerostet. Ich seh mich heute noch unter dem Ding liegen, neue Holme einschweissen und wie mir das brennende Terroson (der Unterbodenschutz, den man damals verwendete) immer erst Löcher in die Kleidung und dann in die Haut brannte. Es dauerte mindestens ein Jahr. Dann war der Boden komplett. Leider stellte sich anschließend heraus, dass beim Schweißen, die Stromversorgung gelitten hatte. Irgendjemand (war es Helmut?) hat sich dann daran gemacht, alle Kabel des Gemeinschaftsbusses auszutauschen. Und wir haben das Ding tatsächlich durch den Tüv bekommen (Ohne Zahnpastaschweissnähte, wie immer wieder empfohlen wurde). Dann kam der grosse Tag der Probefahrt. Das ganze Haus eingeladen und auf die Avus. Jedenfalls blieben wir mitten auf der Avus liegen. Irgendjemand war im ADAC und hat die Pannenhilfe angerufen. Die kam dann auch. Motorhaube offen. Wir sollten mal den Anlasser drehen. Nach dreimal drehen und horchen hat er dann gesagt: „Linke Seite sind die Ventile abgerissen.“ Und das war dann auch so. Selten habe ich wieder jemand getroffen, vor dessen Fachwissen ich noch heute Respekt habe. Es gibt doch immer wieder mal Leute (so alle zwanzig Jahre), die verstehen was von dem Handwerk, das sie ausüben.

7 Peter Lorenz im Keller. Es war vor irgendeiner Wahl in Berlin. (Ich durfte ja in Berlin nicht wählen, weil ich noch nie etwas behelfsmäßiges haben wollte, schon gar keinen behelfsmäßigen Ausweis). Jedenfalls war Peter Lorenz fünf Tage weg. Dann war er wieder da. Und alle Wohngemeinschaften wurden razziert. Tags zuvor hatten sie das Rauchhaus in Schutt und Asche gelegt. Jetzt kamen sie zu uns (Nach Helmuts Erinnerung ein Sonntag). Ich seh mich noch heute neben Cossi im ersten Stock, neben uns einer in voller Kampfausrüstung, Maschinenpistole im Anschlag. Er hat Cossi dann gefragt, warum er so zittert. Und ich hab ihn dann gefragt, ob er nicht wenigstens mal die Sicherung rein tun kann. Weiß nicht mehr, ob ers gemacht hat. Später als sie weg waren, haben wir dann das ganze Haus abgesucht, weil die Bullen hatten damals die schlechte Angewohnheit, selber Sachen zu verstecken, um dann ne Stunde später noch mal wiederzukommen und sie dann zu finden. Ich hab dann in der Waschküche im Hof noch ein altes Gewehr (in Ölpapier eingepackt) aus dem ersten Weltkrieg gefunden. Damals gab es noch das Gesetz der Alliierten, das für Waffenbesitz (dazu gehörten auch Schwerter) die Todesstrafe vorsah. Ich glaub aber, zu der Zeit haben sie das nicht mehr angewendet. (Die Recherche hat folgendes ergeben: Die Wahl fand statt am Sonntag, d. 3. März 1975. Parole des Spitzenkandidates der CDU Peter Lorenz war damals: „Mehr Tatkraft, schafft mehr Sicherheit“. (Die Entführer hatten da Peter Lorenz offensichtlich ein wenig missverstanden).

8 Im Treppenhaus. Bei der Szene auf dem Treppenabsatz mit den Bullen in Kampfausrüstung war ich auch dabei. die hatten wirklich Maschinenpistolen! Seh ich auch noch vor mir wie Cossi mit den Zähnen geklappert hat und mir die Knie gezittert haben. Dann kam der Befehl jeder gehe in sein Zimmer und jeder wurde von der Staatsmacht begleitet, die dann in den Zimmern rumschnüffelte, die Bücher beäugte und scheints irgendwas suchte. Mitgenommen haben sie nach meiner Erinnerung nichts, auch nichts beschädigt. Beim Rausgehen hat dann noch einer mit bezug aufs Rauchhaus sinngemäß gesagt, „Ihr seht, wir können auch anders“. Ich glaub die hatten das gleiche wie im Rauchhaus vor und waren dann verunsichert weil wir keine Jugendlichen waren, sondern Familien mit Kindern. Es war übrigens ein Sonntag Vormittag. Wir sehen beim Frühstück aus dem Fenster wie eine Hundertschaft die Straße vorn und hinten abriegelt. Aber während der Gefangenschaft Peter Lorenz im Volksgefängnis haben sie ihn doch auch bei uns gesucht und in den Kohlen (im Koks, sprich Steinkohle) rumgestochert.

9 Peter Lorenz in Lankwitz. Ich finde es langsam auffällig, dass Jens sich vor allem an Ereignisse der ganz ersten Zeit erinnert, als wir von der 2. Waldegeneration noch nicht dort eingezogen waren. Es heißt doch immer, je älter, desto früher die Erinnerungen. Naja. ich hoffe es geht künftig vorwärts mit seinen Erinnerungen. An Konrad Lorenz war ich damals übrigens viel dichter dran. Er wurde in Lankwitz in der Siemensstraße festgehalten, nur zwei Häuser neben der Kriegsruine, in der ich damals gehaust habe. War mir völlig unbegreiflich, wie das in der spießigen Umgebung möglich war. Aber ich habe viele Zusammenhänge damals nicht begriffen, ja ja auch heute ist es nicht viel besser, aber heute ist ja noch nicht damals.(Wiebke)

10 Nougatbouletten. Küchendienst mit Uwe, dem Vegetarier. Zur Walde fällt mir immer wieder die Geschichte mit dem Küchendienst ein. Uwe war schon damals Vegetarier, ich nicht! Er hatte schon mehrfach vergeblich versucht sich durch seine Kochkünste vom Küchendienst suspendieren zu lassen. Voller Mißtrauen verließ ich mich bei dem ersten gemeinsamen Wirtschaften auf seine Kenntnisse der fleischlosen Kost. Es hörte sich auch ganz passabel an. Pizza und Nougatbouletten. Da ich mich damals mit fremdländischer Küche nicht auskannte, fand ich es nicht weiter bedenkenswert, dass die Pizzen flächendeckend mit Peperoni belegt wurden. Die Zutaten der Bouletten verhießen allerdings nichts Gutes. Heute kauft man solche verschrumpelten Kugeln als Früchtebällchen in einschlägigen Geschäften. Ich glaube für meine bis heute unüberwindbare Abneigung wurde damals der Grundstein gelegt. Nun gut, alle saßen am Tisch und trommelten schon, da wie so oft die Garungszeit sich unkalkulierbar dehnte. Das erste Blech wurde aufgeschnitten und gerecht verteilt. Nun waren wir ja durch viele Experimente im Zusammenleben, Kochen und Genießen einiges gewohnt. Deshalb wurden Neuerungen zunächst einmal wohlwollend und neugierig betrachtet, bzw. gekostet. So auch die ersten Stücken der gelungenen Pizza. Die Kinder ließen die ersten erstickten Hilferufe ertönen. Einige der Erwachsenen versuchten zunächst die Tränen zu unterdrückten und die Unerfahrenen wie ich bemühten sich, die teuflische Schärfe mit Flüssigkeit zu mildern, sie bezahlten dafür mit einer grundlegenden Lebenserfahrung: Teuflische Schärfe läßt sich nicht ersäufen, sie muss durchgestanden werden. Schließlich saß nur noch Uwe kauend vor seinem Teller und behauptete, er könne die Nahrungsverweigerung der anderen nur als Ignoranz der vegetarischen Küche verstehen. Als Trost kündigte er die Nachreichung von Bouletten an. In manchen Gesichtern breitete sich vorsichtig hoffnungsvolle Zuversicht aus. Mit der Darreichung dieser vorgeblichen Köstlichkeiten endete die Mahlzeit ziemlich abrupt. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, ob die Bällchen wirklich geworfen wurden oder ob ich es nur erwartet hatte. Fakt ist, dass weder Uwe noch ich vom Küchendienst befreit wurden, aber in der Folgezeit gesellte sich jeweils eine erprobte Kraft an unsere Seite bis, ja bis ich eine Spezialität meiner Heimat servierte – die Mehlbeutel, aber das ist eine andere Geschichte. (Wiebke)

NilpferdzweiAugeFalls jemand das Gericht nicht kennen sollte, das sich da auf dem Teller befindet, es handelt sich um die Hamburger Spezialität „Labskaus“. SWN 29-21werbleibtwodrinKodak Tri XWandmalBy-nc-sa_color
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