In Erinnerung an Renate Holland-Moritz (RHM) (VI) – Filmkritik: JFK-STONE-washed (1992)

JFK – STONE – washed von Renate Holland-Moritz (1992) (Eine Filmkritik)

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Die US-Amerikaner lieben ihr Land. Selbst ihre allmächtige und allgegenwärtige Stasi, die Central Intelligence Agency, lassen sie vertrauensvoll gewähren. Oder haben Sie jemals von einem demonstrierenden Ami den Ruf gehört: »CIA in the Production!« Na bitte. Die Jungs sollen ruhig machen, was sie wirklich können: spionieren, infiltrieren, zersetzen. Und Akten anlegen. Oder auch nicht. Kein Gott und kein Gauck, von den die Bespitzelten ganz zu schweigen, dürfen da reingucken.

Diese Art Umgang mit den amerikanischen Stasiakten hat einen nicht zu unterschätzenden sozialen Aspekt: Sie schafft Arbeit. Eine Menge Leute, z. B. Journalisten, Buchautoren und Filmemacher, können eine ganze Menge Geld damit verdienen.

Greifen wir nur einen Fall heraus: den Kennedy Mord. Die Protokolle, so denn überhaupt noch welche vorhanden sind, werden allerdings veröffentlicht. Wenn auch erst anno 2038, ganz 75 Jahre nach der Tragödie. Aber man hat ja schließlich ein Langzeitgedächtnis.

Unter den Augen Tausender Schaulustiger war der jüngste Präsident der Vereinigten Staaten am 22. November 1963 in Dallas erschossen worden. Der blitzartig gefaßte Täter hieß nicht J. R. Ewing, sondern Lee Harvey Oswald, war 24 Jahre alt, mit einer Russin (!) verheiratet und selbstverständlich Kommunist.

Nachdem er zwei Tage lang seine Unschuld beteuert hatte, wurde auch er vor laufenden Kameras gekillt. Und zwar vom mafiösen Nachtclubbesitzer Jack Ruby, den es kurze Zeit später ebenfalls dahinraffte.

Als das neugierige Volk nach Aufklärung schrie, stellte der neue Prä-sident Lyndon B. Johnson eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des Obersten Richters der USA Earl Warren zusammen.

Nun dauerte es nur noch zehn Monate, bis jedermann erfahren konnte, wie alles gelaufen war.

Also: Oswald, das Kommunistenschwein, hatte die Tat ganz allein geplant und begangen. Aus einem uralten defekten Gewehr feuerte er innerhalb von acht Sekunden drei Schüsse auf sein 50 Meter entferntes bewegliches Ziel JFK ab. Eine Kugel erwies sich als zauberkräftig. Sie traf Kennedy erst in den Rücken und dann in den Hals. Danach verließ sie den Präsidenten, um den vor ihm sitzenden Gouverneuer Connally durch den Rücken in die Brust zu treffen, im freien Flug einen Speichenknochen seiner linken Hand zu zersplittern, sich anschließend durch seinen rechten Oberschenkel zu bohren und endlich direkt vor die wachsamen Polizisten zu rollen.

So und ähnlich überzeugend argumentierte der Warren Report. Wer sich beim Durchackern der 26 Bände nicht totgelacht hatte, kam unter Umständen auf die Idee, selbst Nachforschungen anzustellen. Es fanden sich Zeugen, die andere Schützen gesehen und drei weitere Schüsse gehört hat-ten. Die Spuren führten in die Unterwelt und ins Pentagon, zu FBI und CIA, und wer was ausgesagt hatte, das auf eine Verschwörung, gar auf einen Staatsstreich deutete, verstummte sehr bald und für immer.

Nun brach die Zeit der Vermarktung an. Mehr als 100 Fernsehsendungen wurden ausgestrahlt und mehr als 600 Bücher erschienen zum Fall Kennedy. Darunter »Auf der Spur der Mörder« von Jim Garrison, Bezirksstaatsanwalt von New Orleans. Er bewies, daß Oswald ein kleiner CIA-Spitzel war, der den tödlichen Schuß gar nicht geführt haben konnte. Er untersetzte auch die Komplott-Theorie durch einleuchtende Fakten.

Und nun wirds leider ein bißchen kriminell. Oliver Stone (»Platoon«) bemächtigte sich nämlich des Garrison-Reports und strickte es zu dem Hollywood Monumentalsschinken »JFK John F. Kennedy – Tatort Dallas« um.

Wieder und wieder zelebriert der manische Filmer den Mordhergang in einer unentwirrbaren Verschlingung von Dokumentaraufnahmen und nachgestellten Szenen. In trommelfeuerartiger Abfolge von Wort und Bild entbietet er jeden Krümel der Garrisonschen Recherchen. Als Lockfett benutzt er dieses spezifische Hollywood-Schmalz, von dem einem so richtig schön schlecht wird. Wenn beispielsweise Sissy Spacek alias Mrs. Garrison gurrt, der tote JFK möge sich ein bißchen gedulden, weil sie dringend mit Mr. Garrison ins Bett will. Oder wenn der eins so nett mit dem Wolf tanzenden Kevin Costner, nunmehr STONE-washed wie ein magenkranker Hauptbuchhalter, als Jim Garrison Tränen vergießt, weil mit dem Mord an Kennedy »der heimliche Mord im Herzen des amerikanischen Traums« stattgefunden habe.

Denn – und das ist das Glaubensbekenntnis des Oliver Stone – JFK war der Messias. Wäre uns der Erlöser nicht schon wieder genommen worden, hätte es keinen Vietnamkrieg gegeben, kein Watergate und keinen Golfkrieg. Frieden wäre auf Erden und den Schwarzen wie den Weißen ein Wohlgefallen. Amen.

Und dann läßt Stone seinen Helden noch einen denkwürdigen Satz sagen: »Wenn das Alte nicht mehr funktioniert, dann geh einen Schritt weiter nach Westen.«

Bis Amerika etwa? Besten Dank! Da sind mir einfach zu viele Spinner. Und vor allem viele zu viele unkontrollierbare Stasileute.

Renate Holland-Moritz (1992)

Ach und Wolfgang Neuss hatte auch noch was zu den Kennedy Mördern gesagt, moment mal ich muss mal nachsehen, nachhören.

Wolfgang Neuss hat seinen Onkel und seine Tante in Treptow besucht. „Ein Glück, sagt er, daß dieser Oswald-Mörder Rubinstein heisst. Stell dir mal vor, der heisst zufällig Müller, Meier oder Schulze? Würden die Leute in der ganzen Welt noch glauben, wäre ein Deutscher gewesen!“ (Das jüngste Gerücht. Von und mit Wolfgang Neuss, LP Fontana 885405 Schallplatte 1964).

Aus dem Buch : Der Totale Neuss, Seite 302. Zitat: „1963 – Zwei Jahre nach dem Mauerbau steckt der Ost-West-Dialog in einer Krise. Nach zähen Verhandlungen zwischen den deutsch-deutschen Behörden kommt es zu einem Passierscheinabkommen, das Westberlinern ermöglicht, ihre Verwandten im Ostteil der Stadt zu besuchen. Im November fällt Kennedy, der noch im Juni vor dem Schöneberger Rathaus die Berliner mit dem Spruch »Ich bin ein Berliner« begeistert hatte, in Dallas einem Attentat zum Opfer. Der mutmaßliche Kennedy-Mörder Lee Harvey Oswald wird – bereits in Polizeigewahrsam – von Jack Rubinstein alias Ruby, einem Barbesitzer von zweifelhaftem Ruf, auf offener Straße erschossen. Die näheren Umstände des Kennedy-Mordes wurden nie aufgeklärt.“

Briefe an Wiebeke (I) Die Freiheit des Andersdenkenden – (das klein gedruckte)

Romische Zahlen am BUG

PDF Freiheit359kleingedruckt

PDF Briefe an Wiebeke (I)

PDF RosaLuksenburgFreiheit

Hallo W., die erste Wahrheit (Prawda) im neuen Jahr: Ich hab herausgefunden, warum das Rozalia Luksenburg (richtige Schreibweise) Zitat oft ohne Quellenangabe abgedruckt wird. Dahinter verbirgt sich eine boese Absicht. Eine boese Absicht, die man nur herausfindet, wenn man das Zitat dann endlich gefunden hat. Ein Zufall fuehrte mich auf diese Spur. Ich hatte gerade ein Buch abgeschlossen und war sehr unzufrieden damit, wusste aber eigentlich nicht so recht, warum es mir nicht gefallen hat. Das Buch, dir kann ich das ja schreiben, ist von Florian Huber, erschienen im Berlin Verlag, was eine Unterabteilung vom Piper Verlag in Muenchen ist. Es heisst : „Die Rache der Verlierer, Die Erfindung des Rechtsterrors in Deutschland“. Leider verspricht der Umschlag mehr, als der Inhalt tatsaechlich hergibt.

Keine neuen Erkenntnisse, aber die alten Erkenntnisse sorgsam relativiert, so daß man mit den Nazis richtig Mitleid bekommt, wie schlecht man mit ihnen damals (AFD – NSU fehlt) und heute umgegangen ist und wird. Es ist langweilig und unnoetig. Besonders dann, wenn man vorher von Sebastian Haffner „Der Verrat“ gelesen hat. Aber ein Freund hat mir ein zweites Buch geschickt, was er vorher selber gelesen hatte und dieses Buch, ueber die gleiche Problematik (ebenfalls aus dem Piper Verlag in Muenchen), ist ein Jahr vorher erschienen und bringt tatsaechlich einige Informationen, von denen ich noch nicht wusste. Auf dem Umschlag der Titel „1918 Aufstand fuer die Freiheit – Die Revolution der Besonnenen“ von Joachim Käppner. Einzige Kritik an diesem Buch sind die Anmerkungen, die sehr unuebersichtlich und unpraktisch angeordnet sind, wenn man die Erklaerungen der Anmerkungen hinten im Buch sucht. Sie sind immer dem Haupttitel und nicht den Zwischenueberschriften zugeordnet.

Dort habe ich jedenfalls den Hinweis auf das Luksenburg (Luxemburg) Zitat gefunden und gleich mal das entsprechende Buch dazu bestellt, um zu ueberpruefen, was die Suche nicht gerade einfach macht, wenn man ueberpruefen will, wer was wann gesagt hat und ob die Quellenangaben tatsaechlich stimmen. Das mit der Freiheit und dem Andersdenken. Die Luksenburg Angabe stimmt jedenfalls. Das Zitat findet sich im Band 4, Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke. August 1914 bis Januar 1919, erschienen im Dietz Verlag Berlin (Ost) 1983. Auf Seite 359. Damit Du erleben kannst, was der Hintergrund fuer die Quellenangabe, die fehlende ist, habe ich Dir die Seite auf den Skaenner gelegt. In einer 4 Punkt Schrift befindet sich das Zitat im Kleingedruckten und war der Dame offensichtlich nicht so wichtig, erschienen unter Nummer 3 findet sich:
„3) Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis: „Freiheit nur fuer die Anhaenger der Regierung, nur fuer die Mitglieder einer Partei – moegen sie auch noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen haengt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird. (Im Kapitel Zur russischen Revolution)““.

Weil es bei Frau Luxemburg eben nur kleingedruckt am Rand erscheint, deswegen verzichten die Damen und Herren Zitate Sucher immer darauf, den Platz zu nennen, an dem es gedruckt erscheint. Das musste mal geschrieben werden. Und noch ein Hinweis: Der Band 4 der Gesamtausgabe hat ein Vorwort von 56 Seiten. So viele Seiten sind sehr selten bei Vorwoertern. Das koennte man schon „Vor Roman“ nennen. Dazu kommt noch eine redaktionelle Vorbemerkung von zwei Seiten. Aber so ist das bei Menschen, die schon so lange nicht mehr unter uns weilen. Die koennen sich gegen sechsundfuenfzig (56) Seiten Vorwörter und zwei Seiten Vorbemerkungen nicht wehren. Das haette Rosa bestimmt gemacht. Der letzte Text in diesem Buch wurde in der Roten Fahne vom 14. Januar 1919 unter dem Titel: „Die Ordnung herrscht in Berlin“ veröffentlicht. (Band 4, S. 536) (Ps: Im Register gibt es keinen Hinweis auf dieses Zitat, obwohl das Register achtzehn Seiten hat. Aber fuer eine Randnotiz reichte wohl der Platz nicht aus. Das war 1983 vermutlich nicht modern, oder? Den Dietz Verlag in Berlin gibt es doch noch? Oder gehoert der schon einem Andersdenkenden?

Rosa Luxemburg 1915 Foto Paul Bommel (Wikipedia cc)

Vor 50 Jahren: DIE WIRKLICH WAHRE GESCHICHTE DER WALDE 81

Vor 50 Jahren: Die wirklich, wirklich, wahre Geschichte der Walde 81

Ich hatte nicht viel Zeit. An jenem Freitag im Februar. Februar 2020. Ein kurzes Foto und schnell wieder zurück. Zu Hause habe ich mir dann die Sache genauer angesehen. Erst war ich erschrocken. Dann erbost. Und dann habe gedacht: Sie haben es nicht verstanden. Sie dachten, sie haben die Fassade restauriert. Aber sie haben das Bild nur zerstört. Nach 45 Jahren. Nur ein Missverständnis? Wie kann das sein? Woher kommt es? Vielleicht kennen sie nur die Kurzversion: Ein besetztes Haus? Vielleicht verstehen sie mehr, wenn sie sich die Zeit nehmen für die lange Version? Wenn sie das Besondere verstehen. Das, was uns unterscheidet von ihnen heute. Und das alles nur, weil mich einer, der am Anfang nicht dabei war, einer aus dritten Walde Generation, gefragt hat, ob die erste Generation nicht was zum 50. Geburtstag der Walde 81 machen will. Der 50. Geburtstag wäre dann irgendwann im Sommer 2022.

Aus der Walde: Ein tragbares Bierfass (10 Liter), umgearbeitet zu einem Papierkorb. Gefunden im Juli 1972 im Haus Hotel Stadt Görlitz in der Waldemarstrasse 81 in SO 36, Berlin Kreuzberg. Als der Behälter noch als tragbares Bier Fass benutzt wurde, hatte die Waldemarstrasse eine andere Nummerierung. Hotel Stadt Görlitz, Waldemarstrasse 20, Telefon 66 65 11. Als Inhaber wird Otto Sauer genannt, was Sinn macht.

Korrektur 2022. Nein, eine andere Nummerierung hat es nicht gegeben: Waldemarstr. 20 war Waldemarstr. 20. Und Nummer 81 war Nummer 81.

Dieser Link hat uns den Weg zur Waldemarstr. 20 gezeigt: http://www.zwangsarbeit-forschung.de/Lagerstandorte/Kreuzberg/kreuzberg.html

Wenn man diesem Link Glauben schenkt, dann ist der gefundene Biereimer tatsächlich aus dem Hotel Stadt Görlitz, Waldemarstr. 20. Inhaber (1942-45): Otto Sauer. Damals genannt: Ausländerheim Hotel Stadt Görlitz, von AEG-AT gemietetes Hotel frühester Beleg 1.1.1942 bei einem Luftangriff am 14. April 1945 zerstört.

Dieser Otto Sauer hat vermutlich das Haus in der Waldemarstrasse 81 gekauft oder gemietet und hatte seine Habe u. a. auch den Biertransportbehälter mitgenommen.

Aber gibt es nach diesem offensichtlichen Missverständnis: Wir bleiben drin und wir bleiben alle, noch einen Grund sich zu treffen? Gibt es wirklich irgendwas zu Feiern? Vielleicht haben sie mit ihrer angeblichen >Restaurierung< alles verbockt? Vielleicht haben wir es auch verbockt, weil nicht alles in die Gegenwart gekommen ist, von dem, was damals so passiert ist. Vielleicht hilft ihnen die wirklich wahre Geschichte der Walde 81 weiter. Ihnen und letztlich auch uns. Damit wir einen Grund zum Feiern finden! Wie einfach wäre das Leben gewesen, wenn es so gewesen wäre, wie es übermittelt wurde. Einmal besetzen und fertig. Nein, so ist es nicht gewesen. So leicht hatten wir es nicht. Vielleicht wird es klarer, wenn wir die Mühen ausführlich schildern, die wir bei der Umsetzung hatten. Vielleicht macht es denen Mut, die heute vor einer ähnlichen Mühe stehen und sie noch scheuen.

Also kommt jetzt die wirklich wahre Geschichte der Walde 81. Ein Haus. Gemietet. Nicht besetzt. Ein Mietvertrag, der nach zwei Jahren endet, ausläuft. Ein Untermietvertrag. Ein Untermietvertrag, den man, mit dem Hauptvermieter gerne verlängern würde. Der aber nicht will. Der keine Mieter will. Der nur ein leeres Haus will. Ein Haus, dass man schnell abreißen kann. Ein Vermieter, der sich weigert zu vermieten. Sich weigert, weil hier mit dem Abriss das große Geld zu machen ist. Jeder Abriss, der ein paar Tage dauert, spült 300 TDM in die Kassen des Hauptvermieters. Einem Vermieter, dem man einen großen Brief auf die Hauswand schreibt, nachdem man schon so viele Briefe geschrieben hat, die nicht oder nur mit Nein beantwortet wurden. Ein Brief, damit es alle sehen können. Mit der einzigen Botschaft, die man hat: WIR BLEIBEN DRIN. Und jetzt heute. 2020. Fünfundvierzig Jahre später stellt sich die Frage: Wieso ist das damals gelungen? Das mit dem DRIN BLEIBEN?

Block 100 haben sie es genannt. Und den Block weg gehauen. Die Herren der Kugelbagger und der Wasserspritzen. Mit Kugelbagger und Wasserspritzen haben sie sich die Freiflächen vergoldet. Jede Lücke ist bares GELD für sie, so hatten sie und wir später auch, herausgefunden. Wieso konnte es dennoch gelingen, das Haus in der Walde 81 den Abrisskugeln zu entreißen?

Oft hatte der Gegner doch schon gezeigt, wie übermächtig er war! Damals in Kreuzberg. Mit Prämien wurden die Mieter ins Märkische Viertel gelockt: Weg von der Toilette, eine halbe Treppe tiefer. Weg von der Ofenheizung, mit den Briketts und Eierkohlen im Keller oder auf dem Dachboden.

Dann die >Zwischenmieter< ohne Rechte. Die Mieter zum Kaputtwohnen der Häuser: Studenten und Migranten. Die selten zueinander fanden. Und es manchmal dann doch gelang, dass gemeinsam an einem Strang gezogen wurde. Und auch noch in die gleiche Richtung. Nicht einfach so was. Nur mit Pinseln allein nicht zu schaffen.

Der Gegner, der Nicht-Vermieter, der sich über die wahren Machtverhältnisse von uns täuschen liess, die vor Ort herrschten. Hätten sie auch nur geahnt, wie kurz unsere Arme doch waren. Unsere Plakate kamen gut an. Ein einziges, gut gemachtes, hatte eine große Wirkung. Täuschend ähnlich den offiziellen Plakaten. Nur in wenigen Exemplaren fanden sie aufmerksame Beobachter. Und immer wieder gab es Richtigstellungen der Gegner. Nein, so sei es nicht. Es wäre so und so. Hätten sie geahnt, wie wenig aktive Menschen diese Plakat Fälschungen in die Öffentlichkeit gebracht haben. Sie wären mit ihren Gegendarstellungen nicht darauf eingegangen. Und erst diese Gegendarstellungen machten unsere Forderungen tatsächlich populär. Hätten sie gewußt, das da nur kleiner Haufen aktiv war, dann wären unsere Drohungen glatt verpufft. Und es waren ja auch keine ernsten Drohungen.

In Wahrheit hatten wir gar nichts zum Drohen, wenn wir am Telefon behaupteten, es würde etwas passieren, wenn nicht in 15 Minuten das Wasser in dem Haus gegenüber wieder angestellt wird, das sie im Auftrage gerade hatte abstellen lassen. Wir hatten nichts zum Drohen. Sie wußten nur, die Leute mögen uns und sie nicht. Aber die, bei denen das Wasser dann nach 15 Minuten wieder aus dem Hahn lief, die wurden unsere Freunde. Oder wenn sie mal wieder heimlich den Strom abgestellt hatten und die Mieter plötzlich im Dunkeln saßen und der entsprechende Anruf bei Ihnen ankam. Wenn nicht . . . dann. Ich kann es nur wiederholen. Eigentlich hatten wir nichts zum Drohen. Aber die Leute, denen wir auf diese Weise geholfen haben, zeigen sich dankbar.

Sie kommen und gewinnen Vertrauen. Zeigen Verständnis, Sympathie und was man ihnen zur Unterschrift vorgelegt hat. Oft, ohne jede gesetzliche Grundlage. Das solche Texte in die Öffentlichkeit gelangen, das wollen sie auf jeden Fall verhindern. Und weil ein seriöses Auftreten die halbe Miete ist, werden auch die ungesetzlichen Texte in den Mietverträgen immer seltener. So merken die Herren von der städtischen Gesellschaft BEWOGE, auf der anderen Seite wird ihr Handeln genau beobachtet. Beachten plötzlich Gesetze, von denen sie früher behauptet hatten, es gäbe sie gar nicht. Ersatzwohnraum muß nicht nachgewiesen werden. Solche Sätze werden jetzt vermieden.

Als sich das bei den Verantwortlichen herumgesprochen hatte, wurden unsere Anrufe oft sofort bis nach oben durchgestellt. Zu den Herren an der Spitze. Zwingelberg und Könnecke und wie sie alle hiessen, die sich da eine goldene Nase, natürlich nicht für sie selbst, verdient haben.

Und sieht man sich heute ihre >Hinterlassenschaften< an, ihre verfallenen Neubauten und vergleicht sie mit der unseren, so schneidet >unser Haus<, die Walde 81, nicht schlecht ab.

Unser Vertrag war im November 1974 ausgelaufen. Es gab einen Menschen in der Baubehörde, der fand unsere Gemeinschaft glaubwürdig. Und unterstützte uns. Er ist zwischenzeitlich verstorben und soll deshalb hier auch namentlich genannt werden: Hermann Hucke, Mitarbeiter in mittlerer Ebene der Wohnungsverwaltung. (Wir hatten ihm viel zu verdanken). Im Februar 1975 der vertragslose Zustand. Wir blieben drin. Nun war das Haus tatsächlich besetzt. Das Haus war verkauft worden. An wen, das wußten wir nicht. Und wir bekamen Unterstützung. Von vielen und einem, der sich mit den geltenden Gesetzen gut aus kannte.

Auch er, schon verstorben: Rainer Graff. Architekturstudent. Er und einige andere haben den Baum, der dann am 1. Mai 1975 auf die Hauswand gepinselt wurde, entworfen und sich auch darüber Gedanken gemacht, wie man die Bemalung ohne teures Gerüst hinbekommen kann. Mit Kreide wurden die Umrisse der Zeichnung auf die Fassade gebracht. 250,00 DM kosteten die Farben (gelb, grün, weiss) und einige Stunden bis das Bild fertig war und 45 Jahre seine Propagandawirkung verbreitete. Dreissig Leute aus dem Haus und der Nachbarschaft waren beteiligt.

Ich war befreit wegen Höhenangst und durfte mit der Kamera Aufnahmen machen. Es ist natürlich nur meine Wahrheit, die in diesem Text untergebracht ist. Aber vielleicht auch unsere Wahrheit. Das werde ich wissen, sobald ich diesen Text unter denen verbreitet habe, die damals dabei waren. Wer alt ist und rückwärts schaut, so wie wir, ahnt noch, das der Weg, der jetzt so klar hinter uns liegt, kein gerader Weg war. Als gerader Weg wäre er sicher nicht möglich gewesen. Er war ein Weg voller Zweifel. Mit Schrecken, die wir noch nicht ahnten. Doch auch mit viel Glück, für das wir nichts konnten. Das zwar erhofft war, aber dann doch mit Wucht auf uns nieder prallte. Im Ergebnis meist, rückwärts schauend, viel Bestätigung und Zuneigung.

Nein, ich hätte es nicht anders machen wollen und dahinter auch der Zweifel, dass der Weg anders nicht so steinig gewesen wäre, das manche, die den Versuch vorzeitig abgebrochen haben, besser daran gewesen sind. Einen Versuch der Klärung ist es allemal wert. Schon damit künftige Generationen, die Nutzen von unseren damaligen Tätigkeiten haben, nicht denken, dass dieser Weg ohne Mühe war. Dass man sich einfach davon lügen kann. Und bequem auf den Erfolg warten. Auf das Schlaraffenland. Oder gar, das das bequeme Leben auch die Kraft hat, anderen zum einem bequemen Leben zu verhelfen. Etwas zu tun für die, die einem Leid tun.

So wie die, die jetzt nach 50 Jahren in einer Genossenschaft wohnen, für die sie nichts können und sich deshalb in falscher Weise äußern über die, die ihnen diese Bequemlichkeit ermöglicht haben und deshalb zu der Ansicht gelangen, dass sie nichts zerstört, sondern nur etwas restauriert haben. Da müssen wir jetzt widersprechen. Nein sagen. Das haben wir nicht gemeint. Wir sprachen von uns. Und wir wollten anderen zeigen: Es geht. Es geht, wenn man etwas für sich selber tut. Das gibt auch anderen den Mut, etwas für sich selber zu tun. Eben trotzig zu behaupten: WIR BLEIBEN DRIN und nicht scheinheilig für andere zu behaupten WIR BLEIBEN ALLE. Eine Parole, die abgemalt ist und abgemalt klingt. Abgemalt in der Hafenstrasse in Hamburg.

Eine Parole, die vermutlich die Flüchtlinge meint, für die man etwas tun muss, damit sie nicht alle ertrinken. Nein, das war die Walde 81 nicht. Und das ist vermutlich auch der Grund, warum die Parole: WIR BLEIBEN DRIN dort 45 Jahre gestanden hat. Bevor der Text unter WIR BLEIBEN ALLE verschwunden ist. Fünfundvierzig Jahre sind eine lange Zeit. Und darauf sind viele von uns, die damals dabei waren, stolz.

Auch auf die Gefahr hin, das jemand äußert: Die sind ja nicht drin geblieben. Die sind ja alle ausgezogen. Die durchschnittliche Wohnverweildauer in der Walde 81 ist niemals berechnet worden. Vielleicht sechs Jahre? Für viele war diese Zeit prägend. Manche erinnern sich gerne, so wie ich. Manche erinnern sich mit Schrecken und würden es gerne ungeschehen machen und die ganze Sache vergessen. Die erste Besatzung der Walde 81 waren Menschen, die im Stadtteil Charlottenburg gemeinsam einen Laden gemietet hatten (In der Neuen Kantstrasse 31), in dem sie ihre Kinder gemeinsam betreuen wollten.

Kinderladen wurde das genannt. Ein leerstehender Laden wurde gemietet. Davon gab es damals viele. Umgebaut. Eine Zentralheizung wurde von uns eingebaut. Wer wollte schon jeden morgen im kalten Kinderladen im Winter den Kachelofen anmachen? Das waren Paare. Verheiratet oder nicht. Und Kinder in dem Alter zwischen 8 und 12 Monaten, die gerade laufen lernten. Dort lagen viele Hoffnungen. Nicht mehr zwangsweise auf dem Topf sich stubenrein sitzen müssen. Nicht rosa oder blau. Nicht nur Betreuung durch Frauen, sondern auch durch Männer, die den Kindern etwas beibringen sollen. Um dabei selbst auch gleich etwas zu lernen. Wissen, das vorher nur einem Geschlecht zugänglich war. Wir nannten das Ganze: Sozialpsychologischer Arbeitskreis Charlottenburg e. V.. Fortbildung, einmal in der Woche.

Zum Beispiel: Die Reinlichkeitserziehung. Als frühes Unterdrückungsinstrument des Bürger- und Kleinbürgertums. Die Rolle der Frau in der Beziehung der Geschlechter. Die Rolle des Mannes in der Beziehung der Geschlechter. Ehegefängnisse vermeiden. Wir wollten alles. Und das sofort. Aber erst mal musste die Heizung im Kinderladen finanziert und selbst gebaut werden. Einige Eltern aus diesem Kinderladen wollten, nachdem der in Schwung gekommen war, auch ihre persönlichen Wohnverhältnisse ändern und suchten ein entsprechendes Haus für ein solches Projekt. Ehegefängnisse an der Spitze der Bewegung. Erste Besatzung. Im Sommer 1972 war es dann so weit. Der Kinderladen lief einwandfrei. Wir hatten eine Erzieherin eingestellt und jede Woche einmal hatte jeder einmal in der Woche Kinderdienst.

Für mich war die Sache einfach, weil ich durch meinen Studienplatz an der dffb vieles möglich machen konnte. Für meine damalige Frau war die Sache schon schwieriger, weil sie eine Festanstellung hatte, wo man nicht ohne weiteres Kurzarbeit machen konnte. Doch für Studenten war die Sache einfach. Jedoch nicht für alle Studentinnen. Da gab es die Sorte Hausfrau, Mutter und Mann auf Arbeit. Aber auch: Nur Hausfrauen, die kaum Probleme damit hatten. Wir waren bunt gemischt. Sogar Menschen, die keine eigenen Kinder hatten, wurde der Zugang zum Kinderladen nicht versperrt. Sie kümmerten sich vorwiegend um die Vermittlung der Theorie.

Einer arbeitete als Bronzegießer in einer Kunstgießerei (Bildgiesserei Hermann Noack). Bronze und andere Buntmetalle. Die Firma gibt es heute noch. Aber er ist schon vor längerer Zeit verstorben. Keine besonders gesunde Arbeit. Wir fanden für Jeden, der mitmachen wollte, Lösungen. Lösungen, die alle zufrieden stellen sollten. In einem wöchentlichen Arbeitskreis holten wir fehlendes Wissen über die frühkindliche Erziehung nach und erarbeiteten zusammen Modelle, wie wir unsere Kinder anders erziehen wollten. Kinder, die demnächst fünfzig Jahre alt werden. Anders als in der herkömmlichen Erziehung. So, wie sie immer und überall praktiziert wurde und vermutlich auch noch wird. Jungs weinen nicht. Mädchen bekommen rosa Kleidung. Jungs blaue. Gib das schöne Händchen.

Auch die Beziehungen sollten sich ändern. Wir planten eine große Wohngemeinschaft. Bis eines Tages unser Kunstgießer aus Kohlhasenbrück mit einer Sonntagsausgabe der Berliner Morgenpost ankam. Oder war es die BZ? Seine Frau hatte die Anzeige von dem Hotel gefunden, das dort angeboten wurde. Von mir wurden damals beide Zeitungen, weil Springer, bestreikt. Bestreikt ist natürlich falsch. Nicht wahrgenommen. Nicht gekauft. Ich wurde der Freund des INFO BUG, später der Freund des ID für unterbliebene Nachrichten. Und Leser, das will ich gar nicht verstecken, der Frankfurter Rundschau und in der Walde auch Leser der täglich erscheinenden Wahrheit (Zeitung der SEW, was der Ableger der SED in Westberlin (in dieser Schreibweise) war). Was man vielleicht den Jüngeren erklären muss.

Die verschiedenen Parteien (links von der SPD) hatten 1972 eigene Parteizeitungen. Ein Fan des “Vorwärts“ (die Parteizeitung der SPD) hat es, meiner Erinnerung nach, in der Walde nicht gegeben. Auch die Zeitungen der studentischen (angeblich) kommunistischen Zeitungen hatten es in der Walde nicht leicht. (Gegenüber am Mariannenplatz dagegen, in dem Haus, in dem damals eine Apotheke war, gab es mehrere, studentische Wohngemeinschaften, die Anhängerinnen des KBW waren und die Linien, die der KBW so zog, auch mitzogen, was zu einer gewissen Unglaubwürdigkeit führte). Später hat der KBW dann ein Haus in der Oranienstrasse gekauft. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der KB (aus Hamburg) dagegen hatte hier in SO 36 nicht viele Anhänger und fand daher auch keine Verbreitung. Während das INFO BUG (die Zeitung der Spontis) aus der Stephanstrasse, das jede Woche erschien und für 0,50 Pfennig käuflich zu erwerben war, von mir gerne gelesen wurde. Besonders die Kleinanzeigen auf der letzten Seite. Auch unsere Anzeigen. Wenn ein Zimmer frei geworden war, oder auch, wenn ein Kind geboren war. Loretto, so war sein Spitzname, richtig hiess er Bernhard Koch, brachte uns jedenfalls diese Sonntagsausgabe der Berliner Morgenpost mit der Anzeige: Leeres Hotel in Kreuzberg zu verpachten. Den genauen Text der Anzeige weiß ich leider nicht mehr.

Aber irgend wie funkte die Sache. Das war zwar nicht unser Bezirk, aber unsere Geldbeutelgröße. Ein Hotel, was seit einiger Zeit leer stand, weil ungünstig gelegen. Am Rande der Stand. Dicht bei der Mauer. Im Sanierungsgebiet. Sanieren, so lernte ich, heißt >gesund machen<. (Wer sich dort wie gesund machte, das konnte man vor Ort hautnah erleben). Die Zimmer wurden billig an Fremdarbeiter vermietet, die sich nur zeitweise in der Stadt aufhielten. Ein Hotel mit 23 Zimmern (je nachdem, wie man zählt), einer Gemeinschafts Küche, einer Kneipe mit Zapfhahn, einem großen Esszimmer, mit einem Tisch, der zwanzig Leuten Platz bot, einem Badezimmer mit einer Badewanne, in einem Anbau Platz für die Waschmaschine und Wäscheschleuder und einem Keller, in den sogar eine Tischtennisplatte passte. Variabel ein Kinderzimmer im ersten Stock, wo der gemeinsame Mittagsschlaf der Kleinen organisiert werden konnte und sollte. (Später stellte sich heraus, die Kleinen wollten dort keinen Mittagsschlaf halten. Sie wollten mittags nicht schlafen, oder lieber bei ihrer Mama schlafen oder sein).

Die Fremdarbeiter waren jedenfalls irgendwie ausgeblieben. Es lohnte sich nicht mehr, das Geschäft mit den Fremdarbeitern. Im letzten Winter hatte man das Haus nicht mehr beheizt und dann vergessen, das Wasser der Zentralheizung abzulassen. (Damals gab es noch richtige Winter, mit Frost und so). Also fror das Wasser in der Heizung ein. Wasser kann viel Kraft haben. Besonders, wenn es einfriert. Das Haus mit dreißig Räumen hatte rund sechzig Heizkörper, die, aus Gusseisen, dem Frost nicht widerstehen konnten und geplatzt waren. Besonderheit dieses Platzens war es, dass erst das Tauwetter, die Heizkörper, die sonst recht stabil sind, platzen ließ, als die Temperaturen im Frühling wieder anstiegen. Man glaubt gar nicht, wie viel Wasser sich in so einer solchen Heizungsanlage mit halb Zoll Rohren befindet (Sechs Stockwerke inkl. Dachgeschoss und Keller) und so folgte den geplatzten Heizkörpern jede Menge Wasser mit den üblichen Wasserschäden.

Die Heizkörper waren im Sommer durch neue Stahlradiatoren von der Pächterin ersetzt worden. Die Pächterin, die noch einen zweijährigen Mietvertrag mit einer städtischen Gesellschaft hatte, behauptete uns gegenüber, die Schäden seien nun alle behoben, die Leckagen beseitigt, was wir jedoch nicht glauben konnten, weil die Anlage vorsichtshalber nicht wieder mit Wasser aufgefüllt worden war. Was tut man, wenn man 25 Jahre alt ist, Maschinenschlosser gelernt hat und sein Leben verändern möchte? Richtig. Man gründet einen weiteren Verein. Den Sozialpsychologischen Arbeitskreis Kreuzberg e. V., wählt einen Vorstand und lässt diesen einen Mietvertrag unterschreiben. Ein befristeten Mietvertrag, der am 1. Oktober 1972 beginnt und 30. September 1974 endet. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, denkt man. Aber dann doch nicht.

Monatliche Kaltmiete für die Untermieterin (also uns) 1.250,00 DM pro Monat. Heizkosten, Wasser, Strom und Gas für die Gasherde in der Küche kommen noch dazu. Man kündigt im Einvernehmen die Wohnung, (bzw. hinterlässt sie einem Studienkollegen der Filmakademie) im Horstweg Nummer 6, im Hinterhaus. Drei Zimmer mit Ofenheizung, Kachelöfen, die mit Brikett geheizt werden. In Charlottenburg, dicht am Theodor Heuss Platz, wo zu dieser Zeit die Filmakademie beheimatet war, wo man 1970 das Studium begonnen hat. Der Beschluss lautet: Nun wird sich alles ändern.

Das erste, was sich änderte, waren die Temperaturen. Wir sind noch nicht eingezogen und es gibt im Oktober einen ersten Kälteeinbruch. Wir befüllen die Heizungsanlage, deren Kessel sich unter einer Garage im Nebenhaus befindet, mit Wasser. Und stellen fest, Leckagen überall. Schweißarbeiten sind nötig. Kein Problem. Zwei Personen bringen entsprechende Fähigkeiten mit. Dennoch wird die Sache aufwendig, weil nach jeder Leckage erst mal wieder das Wasser wieder raus muss, bevor die Reparaturarbeiten fortgesetzt werden können. Wir arbeiten uns vor, von unten nach oben. Im dritten Stock angekommen, wird eine Pause eingelegt. Im ersten Stock ist eine Frau aus unserer Gruppe dabei, mit Hilfe eines Zollstockes den Raum in der Mitte auszumessen, obwohl wir die Räume noch gar nicht verteilt haben. Klar ist nur das Erdgeschoss, das Gemeinschaftsraum werden soll.

Ich bin empört. Aber nur innerlich. Ein paar Monate später zieht sie wieder aus. Aus dem Zollstockzimmer. Mann und Kind nimmt sie mit. So schnell kanns gehen. In der Küche bauen wir über den Herd noch einen großen Lüfter ein und dann bringen unsere Möbel in die Walde 81. Geheizt wird mit Koks, den wir später mit gemeinsamen Blutspenden bezahlen. Und jeden Tag gibt es ein Abendessen. 50,00 Mark kommt jeden Tag in die Essenskasse. Frühstück und Abendessen (warm). Zwei Personen kaufen ein und kochen. Dort kommen auch die berühmten Mehlbeutel zu Einsatz. Und die gebratenen Heringe, die sauer eingelegt werden. Manchmal gibt es Napfkuchen mit Rosinen am Sonntag. Einige nennen es Gugelhupf.

Und immer wieder Plenum und Neuaufnahmen, wenn Personen das Weite gesucht hatten und Zimmer neu zu besetzen waren (Das erste Mal nach gefühlten drei Monaten). Die Kinder werden am Morgen mit einem Fahrzeug in den Kinderladen nach Charlottenburg in die Neue Kantstrasse gebracht. Später mit einem gemeinsamen VW Bus. (Ein Lottogewinn, dem mühsam ein neuer Unterboden eingeschweißt wird, wegen durchrosten).

Damit dieses Wissen von damals nicht verschwindet, ist es an der Zeit, 48 Jahre nach dem Beginn, endlich aufzuschreiben, wie das alles anfing. Das hier ist der ist nur ein Teil, der den ersten Mai 1975 mit einschließt. Bis zu meinem/unserem Auszug 1978. Eben die Verweildauer von sechs Jahren. Der Auszug hatte bei uns nichts mit der Waldemarstrasse 81, sondern eher mit der Stadt Berlin zu tun. Überall nur Opas, Omas und Studenten. Kein richtiges Leben. Wir ziehen in anderer Formation aus, als wir eingezogen sind. Seither trinke ich morgens meinen Kaffee immer nur aus großen Bechern.

Hamburg, d. 20. März 2020/ 15. Mai 2022 Jens Meyer

5. Mai 1975

Fotos Helmut Schönberger, Jens Meyer

Foto Helmut Schönberger
Foto von Helmut Schönberger: Die Kinder aus der Nachbarschaft.

INFO BUG 100 INFO BERLINER UNDOGMATISCHER GRUPPEN (Die Nummer 100 – Jubiläum vom 29. 03. 1976) Ich werde gleich 44 Jahre alt und immer noch ohne Lebensunterhalt.

Neu aus dem Antiquariat: Bücher von Berni Kelb

Natürlich hatte ich sie auch noch in meinem Schrank. Zwei Bücher, die mir damals sehr geholfen haben. Entdeckt im Antiquariat. Damals 3,50 DM/4,50 DM. Heute 4,00 Euro. Und ich habe sie beide noch mal gelesen. Wieder mal festgestellt. Sie sind immer noch aktuell. Hilfreich. Im Internet habe ich einen Nachruf von Klaus Wolschner (taz Bremen) aufgespürt. Hier die beiden Bücher: Sie sind beide dünn. Erfreulich dünn. Die >Betriebsfibel< hat 70 Seiten. < >Organisieren oder organisiert werden< hat 95 Seiten. In der Einleitung heißt es: „Es geschieht immer wieder, daß Genossen wie du versuchen, in ihrem Betrieb die Belegschaft zu agitieren. Und von diesen kriegen sie dann gesagt: >Das ist ja alles ganz schön, was du uns da erzählst. Aber mach man so weiter. Dann fliegst du bald raus! Auf deine – einer etwas kurzsichtigen Opferbereitschaft entspringenden – Erklärung: >Das macht mir gar nichts aus!< kommt dann die Antwort:>Uns aber.< Damit ist die Sache eigentlich erledigt. Du konntest dein Anliegen nicht vermitteln. Jetzt bist als Revolutionär isoliert.“

der Arbeitgeber 5 Köln 51. Oberländer Ufer 72

Klaus Wagenbach Verlag 1 Berlin 31 Jenaer Str.6

Sehr geehrte Herren,

in Ihrem Verlag ist die „Betriebsfibel“ von Herrn Berni Kelb erschienen, die jetzt auf den verschiedensten Lehrlingsveranstaltungen kursiert. Mehrere Leser erbitten in diesem Zusammenhang nähere Einzelheiten über die Person von Herrn Kelb. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir ggfs. einen Lebenslauf oder sonstige Unterlagen hierzu übersenden würden. Mit freundlichen Grüßen

(Dr. Heinrichsbauer)

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1 Berlin 31, den 10.1.73 Jenaer Straße 9 Berni Kelb c/o Verlag Klaus Wagenbach

An den arbeitgeber – Der Chefredakteur –

Sehr geehrter Herr Dr. Heinrichsbauer,

ich beziehe mich auf Ihr Schreiben vom 8.1.73. Der Verlag Klaus Wagenbach hat – feige, wie es von einem linken Verlag nicht anders zu erwarten ist – sich vor der Beantwortung Ihrer berechtigten Fragen zu drücken versucht, indem er Ihren Brief an mich weiterleitete. Ich werde mich bemühen, Ihnen angemessene Auskunft zu geben.

Ich stamme also aus einer Familie, die seit vielen Generationen damit beschäftigt war, Arbeit zu nehmen, obwohl geben nach einem bekannten Zitat eigentlich viel seliger ist, denn nehmen. Wir lebten davon, daß wir für die genommene Arbeit auch noch Geld forderten: die ständig steigenden Löhne. Den Verlockungen eines so bequemen Lebenswandels konnte auch ich mich nicht entziehen: durch die Erlernung eines Metallberufes setzte ich die Familientradition fort.

Verschlagen, wie unsereins ist, merkte ich bald, daß bei den Unternehmern außer Arbeit und Lohn noch mehr zu holen sein muß. Von da an war ich nur noch von der Gier getrieben, ihnen alles zu nehmen. Als geeignetes Mittel dazu erschien mir eine planmäßig ausgeweitete Kumpanei mit dem Ziel, auf Insubordination gerichtete Zusammenrottungen hervorzurufen. Das verdichtete sich bei mir zu der ‚Primitivformel :“Der Feind steht immer oben!“‚, wie Clemens Steindl es auf Seite 978 der Nummer 23/24-1972 Ihres Organs so treffend charakterisiert. Das Unbehagen gegenüber dieser Losung und ihre Ablehnung als Vereinfachung teilen Sie übrigens mit Nikolaus Neumann, der in der bekanntlich DKP-nahen ‚Deutschen Volkszeitung‘ meint, mein ‚eigentlicher Feind‘ seien die ‚organisierte Arbeiterschaft, die kommunistischen Parteien und die Gewerkschaften‘. Ich verstehe die Welt nicht mehr! Sie werfen mich mit den Leuten in einen Topf, die mich mit Ihnen in einen Topf werfen.

Doch weiter im Lebenslauf. Das schreckliche Ende des letzten Krieges brachte es ja mit sich, daß unsere Gesellschaft von Aufweichungstendenzen demokratischer, liberaler und selbst sozialistischer Art durchdrungen wurde. Auch ich kam mit solchen Liberalen, Intellektuellen und ähnlichen zwielichtigen Gestalten in Berührung (im Vertrauen: manche waren gar Juden!) Sie stifteten mich an, meine bösen Gedanken zum Zwecke der Verbreitung aufzuschreiben.

Das Ergebnis liegt Ihnen ja vor.

Im Ernst: Wir haben mit Fleiß darauf verzichtet, Daten zur Person des Verfassers zu veröffentlichen, wie es sonst bei Büchern üblich ist. Ich betrachte mich nicht als Schriftsteller. Andererseits habe ich es abgelehnt, ein Pseudonym zu wählen; denn ich kann zu dem, was ich geschrieben habe, stehen.

Wenn Ihnen mein bloßer Name nicht gefällt, hier ein kleiner Tip. Einer meiner früheren ‚Arbeitgeber‘ wüßte plötzlich über meinen Lebenslauf sehr detailliert Bescheid. Er ließ auch durchblicken, dan (s) meine Vermutung, woher er seine Informationen wohl habe, richtig sei. Was einem einzelnen ‚Arbeitgeber‘ möglich ist, dürfte für Sie als Verallgemeinerung des ‚arbeitgeber‘ doch sicher keine nennenswerte Schwierigkeit bereiten.

In der Hoffnung, Ihnen hiermit gedient zu haben, verbleibe ich

mit schönen roten Grüßen

Berni Kelb

Barfoot klopft an den Sargdeckel

(Ein Nachruf auf Berni Kelb von Klaus Wolschner (Taz Bremen)

1971 veröffentlichte eine „Betriebsfibel“ – das war der gesammelte Erfahrungsschatz seiner linksradikalen Betriebsarbeit – zuletzt bei der Maschinenfabrik Kampnagel. „Es geschieht immer wieder, daß Genossen wie du versuchen, in ihrem Betrieb die Belegschaft zu agitieren“, fängt das Buch an. Genau darum geht es: Wie kann man im Betrieb arbeiten, was sollte man lieber nicht machen? Ganz praktisch – und mit hohem Anspruch: „Unsere Arbeit gilt der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Sie hat das Ziel, jede Form der Herrschaft von Menschen über Menschen und die darauf beruhende Ausbeutung zu brechen.“ Kelb kannte auch den „inneren Feind“, die linken Funktionäre. Sein Rat: „Trau keinem, der dafür bezahlt wird!“

Dabei war Berni Kelb einmal Bestseller-Autor, jedenfalls in linken Kreisen, und seine Biografie ist ein Stück Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts: Er stammt aus einer streng kommunistischen Hamburger Arbeiterfamilie. Sein Name wurde Anfang der 70er-Jahre öffentlich bekannt über Bücher, in denen er seine eigene kommunistische Vergangenheit verarbeitete. Schonungslos rechnete er mit dem Pathos der illegalen KPD der Stalin-Ära ab: „Die Mitglieder hatten zwar noch ihren blinden Glauben und guten Willen, aber die bezahlten, illegalen Funktionäre konnten ihnen keine Perspektive aufzeigen. Sie waren in der Situation einer Drückerkolonne, die Ladenhüter verkaufen soll.“

Ein Dokument der Zeitgeschichte aus heutiger Sicht, das damals 4 Mark 50 kostete, heute bei Amazon 39 Cent plus Porto. Irgendwann in den 90er-Jahren stand Berni Kelb dann bei der taz in Bremen auf der Matte. Ein kleines, schrulliges Männchen, das für die, denen der Name nichts sagte, aufgrund seiner nackten Füße auffiel. Auch im Winter.

Natürlich war er nirgends organisiert, wo auch, war ein Einzelgänger. Und wollte dennoch etwas sagen. Hin und wieder haben wir einen Text von ihm gedruckt – zum Beispiel einen Kommentar über das auch damals diskutierte NPD-Verbot.

Ich habe den Namen Kelb über sein anderes Buch kennengelernt: „Organisieren oder organisiert werden. Vorschläge für Genossen links unten“ der Titel. Als die Reste der 68er-Bewegung autoritäre Organisationen gründeten, packte Kelb aus – zur Freude aller antiautoritär gesinnten, undogmatischen Spontis.

Berni Kelb, in den 50er-Jahren strammer Kommunist und bei der illegalen KPD, in den 70ern ein Einzelgänger und Theoretiker der Spontis, ist gestorben. Ein „barfüßiger Prophet und gefallener kommunistischer Erzengel“ war Berni Kelb, ein „Anarcho-Kommunist und Querulant“, das hat der frühere taz-Kolumnist „Urdrue“ einmal geschrieben. Am 5. 12. 2011 ist Berni Kelb gestorben, bitterarm, auch in Walle unbekannt. Bescheiden wie er war, hat er sich auch in seine Einsamkeit gefügt.

„Hitler kam an die Macht, weil die Industrie ihn finanziert hat“, war vor elf Jahren sein Argument. In der NPD sammeln sich dagegen „nur ein paar Psychopathen, wie es sie in jeder Gesellschaft gibt.“ Und dann sein Gedanke: „Antidemokratischen Parteien und Organisationen kommt man mit innerorganisatorischer Demokratie bei.“ Es müsste ein Parteiengesetz geben, das Maßstäbe für Transparenz und innerorganisatorische Demokratie setzt – die dann auch für eine NPD gelten würden.

Klaus Wolschner 9.12. 2011 Taz Bremen

Eine neue Heimat hat Berni Kelb seit den 90er-Jahren in einer Kultur gefunden, in der er aufgewachsen ist: bei den „Plattdeutschen“ und ihren Alltagsproblemen. Wie mit seiner Mutter in der Küche sang er im hohen Alter gern die plattdeutschen Lieder. Rund 50 Theaterkritiken über Aufführungen der niederdeutschen Bühne im Waldau-Theater finden sich im taz-Archiv unter seinem Künstlernamen Bani Barfoot. Und er hat das Schauspiel Rose Bernd von Gerhart Hauptmann ins Niederdeutsche gebracht, eine Tragödie voller Sozialkritik, menschlicher Einsamkeit und erotischer Verstrickung.

Foto: G. Klaut

von Barni Barfoot, erschienen in der Taz Bremen Drama un Komedie

„De Witwenclub“ vun Ivan Menchell: Premiere in de Komödie Bremen (vormals Niederdeutsches Theater)

Aff un an geevt se dor in Walle doch noch wat op Platt. Nu: „De Witwenclub“ vun den Amerikoner Ivan Menchell, na de düütsche Fassung vun Karin Kersten op Platt vun Hans Timmermann. Nich bloots de Autor, ok de Rejiessör (Thomas Wilberger), un de Dorsteller vun den eenzigen Keerl in’t Speel, den verwitweten Slachter Theo (Peter Wohlert) sünd Gäste. Kannst lang över nadenken!

Twee Szenarien gifft dat, – vun Bojan Boev bühnenbildnerisch excelent drapen – op de de Szenen afwesselnd speelen dot. De Komödie vun de dree Witfroons, de dat Stück den Namen verdanken deit, speelt in de Wahnstuuv vun Ida (Elfie Schrodt). Dat Drama – de deepere Sinn vun dat Stück – speelt op ’n Karkhoff.

Dor dreept se sick jümmers, de Dree. Jedeen vun jem truuert op eer eegen Oort. De Een, Doris (Ingeborg Heydorn) föhlt sick verlaaten, de anner, Luzie (Isolde Beilé), bedragen, un de drütte, Ida, eenfach alleen laten.

Un denn kummt de Witwer Theo, de bloots dat Graff vun sien Froo besöken will, jem in de Mööt. Ida kennt em as Kundin, bloots so. Doris kennt em ok. Se meent, dat harr mol meist ’n Afeere warden kunnt. Is dat aver nich worden. Un Luzie, de em gor nich kennt, smitt sick an em ran.

Doröverhen geiht de Fründschaft vun den Witwenclub (in’t Original: Cemetery Club) natüürlich eerst mol koppeister. Man se koomt doch jümmers wedder tohoop. Op’t End op den Karkhoff, as Doris dootbleven is.

Fazit: Dat Stück is ’n vigelienschen Balace-Akt twüschen Komedie un Drama. Wat dor an seelischet Eelend sick afspeelen deit bi den gröttsten Deel vun de Minschheit, wat in dat Öller de Witwen jo sünd is meisterhaft mookt.

Besünners Ingeborg Heydorn speelt eer swore Rull, de so simpel utsüüt, heel inföhlsam. Elfie Schrodt speelt eern Deel meisterhaft, as wi dat vun eer wennt sünd. Isolde Beilé hett eer egens dankbore Rull as Luzie, de an’t Enn leer utgahn deit, ’n beten wat övertrocken. ’N sporsomere Gestik harr mehr brocht.

Technisch: ’n Rejissör schull mehr Moot opbringen, in’n Vörweg ’n poor Överlängen in de Dialogen to strieken. De Soufflöse (Ingrid Frana-Sieweke) hett ’n scheune Stimm, de drägen deit. Un Mildred (Sabine Junge) – dat weet wi nu (dank Lore Schnabel, Kostüme) endlich nau – hett ’n wunnerscheun’n Rüggen.

Barni Barfoot

Wie kommt es nun, daß die Arbeiter trotzdem weiterleben?

Darstellung der Realität im Kinderbuch – Leseprobleme von Arbeiterkindern im 19. Jahrhundert Auf dem Dachboden gefunden. Ein Text aus dem Jahr 1970:

Wie kommt es nun, daß die Arbeiter trotzdem weiterleben? „Wie kommt es nun, daß die Arbeiter trotzdem weiterleben?“ weiterlesen

Nachruf Werner Esser Geb. 1948

Erschienen im Tagesspiegel vom 16.10.2015 Nachruf auf Werner Esser (Geb. 1948)Er hätte wohl gesagt:Die letzten fünf Monate war ich glücklich.“

von Tatjana Wulfert

Wir bleiben drin.“ Der Spruch zieht sich über die Fassade, schwarze Buchstaben auf weißem Banner in den Ästen eines vom Sockel bis unters Dach gemalten Baumes . 1974 hatten Studenten das Haus in der Waldemarstraße 81 in Kreuzberg besetzt und ihre Losung auf die Vorderfront gepinselt. 2015 gibt es Baum und Banner immer noch: Sie blieben drin, die einst wilden und inzwischen etablierten Intellektuellen.
Werner gehörte dazu, einerseits. Andererseits hatte er nie in einer Vorlesung gesessen. Aber er kannte sich mit Wohngemeinschaften aus. Hatte damals in Düsseldorf, wo er aufgewachsen, zur Schule und in die Lehre gegangen war, fluchtartig sein Elternhaus verlassen, um in die erste WG der Stadt zu ziehen. „Du hast psychische Probleme“, war ihm wieder und wieder an den Kopf geworfen worden von seinem prügelnden Vater, seiner kalten Mutter, die wütend zu dem „linken Pack“ gelaufen war, um ihn da herauszuholen.
Daraufhin, und um nicht zum Bund zu müssen, zog er nach Berlin und entdeckte die Waldemarstraße: das riesige Wohnzimmer, die Gemeinschaftsküche, seine neue Familie. Bei der er aber nie eingezogen ist. Jeden Freitag kam er vorbei und bewachte das einzige Telefon. Nahm den Hörer ab, wenn es klingelte und rief den Verlangten, auch hoch bis in den vierten Stock. Oder er saß mit den Kindern der Bewohner auf einem Sofa und guckte die Sesamstraße. Oder zapfte, wenn gefeiert wurde, Bier für alle. Tagsüber half er in der Tankstelle um die Ecke aus, zog Reifen auf, wusch die Wagen, begann Unmengen zu essen. Und zu trinken. Er schlang, er soff, er verlor seinen Job und stand eines Tages vor der Tür einer Freundin. Sie fuhr ihn sofort ins Krankenhaus. „Er muss einen Entzug machen“, sagte der Arzt, „auf der Stelle.“
Werner rührte keinen Tropfen mehr an, nie wieder. Rauchte dafür wie ein Schlot, schüttete literweise Kaffee in sich hinein und fand Arbeit in einem Abrissunternehmen. Er mochte die Arbeit, und er hatte Glück, Glück im Spiel, gewann beim „B.Z.“-Bingo 10 000 Mark, reiste damit nach Schweden, Norwegen, Finnland. Er liebte die kalten Länder, und wenn er gekonnt hätte, wäre er bis zum Nordkap gefahren.
Aber das Abrissunternehmen ging pleite. Es blieben der Hartz-IV- Satz und die Flaschen, die er einsammelte, die Feste in der Waldemarstraße, auf denen er noch immer das Bier zapfte, das Frühstück einmal im Monat und die Geburtstagsessen mit seiner Freundin. Er dachte an seinen Bruder, den von den Eltern geliebten Sohn, der schon tot war und den er vermisste. Sein Knie schmerzte, er kam kaum noch die Treppen hoch, wurde operiert, aber es wurde nicht besser. Er fiel hin, mitten auf dem Bürgersteig. Zwei Frauen kamen vorüber. „Guck mal“, sagte eine, „das besoffene Schwein.“ Zwei türkische Männer halfen ihm auf und gaben ihm Wasser. Und als Werner glaubte, es könne nicht mehr schlimmer werden, stellten die Ärzte den Lungenkrebs fest.
Hätte ihn jemand über das Glück befragt, hätte er wohl gesagt: „Die letzten fünf Monate war ich glücklich.“
Die letzten fünf Monate lebte Werner im Pflegewohnheim „Am Kreuzberg“. Er wohnte in einem hellen Zimmer, er hörte seine Jennifer-Rush- und Klassikplatten. Er wurde vom mürrischen Einzelgänger zu einem beschwingten Mitmenschen. Die Pfleger und Schwestern wandten sich ihm zu, wann immer er Schmerzen hatte, wann immer Angst.
Seit dem 1. Januar 2015 gibt es für Sozialhilfeempfänger, deren Bestattung das Amt bezahlt, keine Namenstafel mehr und keinen Trauerraum für die Abschiednehmenden. Werner starb am 1. Januar. Während seine Urne zusammen mit 20 anderen in das Grab gelassen wurde, zündeten das Pflegepersonal und alte Freunde im Heim eine Kerze für ihn an bei Kaffee und Kuchen und Jennifer Rush. Die alten Freunde ließen ein Schild für ihn anfertigen und schraubten es neben die Tür in der Waldemarstraße 81: „Hier zapfte Werner Esser, er hat uns immer gut eingeschenkt.“

Tatjana Wulfert

Anmerkung 2018: Es ist nicht alles richtig, was Tatjana Wulfert da im Tagesspiegel geschrieben hat, aber so falsch auch wieder nicht, das man es nicht veröffentlichen könnte. Zwei Nachrufe: Rainer Graff und Werner Esser auf Personen, die mit der Walde 81 etwas zu tun hatten.WernerWaldemarstrasse4Tieresehendichan1

Sanierung heisst Gesundmachen: Rainer Graff

Nachruf Rainer Graff geb. 1941

Waldermarstrasse1975

„Als Gymnasiast gilt Rainer als introvertierter Träumer, der es im Leben schwer haben wird. 15 Jahre später schlägt er als freiberuflicher Architekt und Stadtplaner in SO 36, Kreuzberg, auf, im Schatten der Mauer, abgeschrieben, sich selbst überlassen. Viele Probleme, viel Fluktuation. Marode Altbauquartiere aus der Gründerzeit, riesige Fabriketagen, die Gewerke längst verschwunden. Lebensqualität sieht anders aus, wer kann, zeigt dem Quartier den Rücken. Wer hier bleibt, hat keine oder nur diese eine Wahl: Alte, Arme, Lebenskünstler und Migranten.

Wie viele ist auch Rainer ein Zugezogener, aber einer mit Visionen, die er nun umzusetzen versucht: anders wohnen, anders arbeiten, anders denken, anders leben.

Für sich und für andere. Der gelernte Maurer weiß, wo er anzusetzen hat – an der Bausubstanz, die es zu erhalten gilt. Die Mieten sind lächerlich. Mit Monika, Lebensgefährtin und bildende Künstlerin, beziehen sie eine 200 Quadratmeter große Fabriketage in der Naunynstraße, die keine 100 Mark kostet. Dafür ist sie aber im Winter auch nicht beheizbar. Sie suchen Gleichgesinnte mit ähnlichen Problemstellungen und Interessenlagen: „Neues Leben in alten Fabriketagen.“

Schnell spricht sich das im Kiez herum, es herrscht Aufbruchsstimmung. Theaterleute, Freiberufler und andere Wagemutige treffen sich auf Rainers Frühstücksfesten, die alle zusammenbringen. „Geht nicht? Gibt’s nicht!“ – Rainer, längst nicht nur Vordenker, sondern Macher, ist in seinem Element. Er baut eine Zentralheizung um Ölöfen, entwirft Schlafhöhlen aus Wetterballons und Hütten, die der eisigen Kälte in den riesigen Räumen trotzen sollen. Nach der Geburt seiner Kinder entstehen neue, für sie gedachte Räume im Raumsystem.

Die Verbindung von Leben und Arbeiten nimmt Konturen an. Nebenbei schreibt er an seiner Doktorarbeit „Antworten des Körpers auf städtische Räume“, mehr als fünf Jahre lang. Eine Herzensangelegenheit, eher experimentell als empirisch, die ein absurdes und abruptes Ende findet, als er seine handschriftlichen Notizen in einem Karton auf dem Autodach vergisst und losfährt.

Als er nach Kreuzberg zurückrast, fliegen einige Blätter vom Wind bewegt über den Oranienplatz. Den Rest hat die Müllabfuhr beseitigt, eine Rekonstruktion ist unmöglich. Er trägt es mit Fassung. Für die Universität und eine klassische akademische Laufbahn ist der Individualist mit Freiheitsdrang, der Systemen skeptisch gegenübersteht, sowieso nicht geschaffen. Er ist sein eigenes System. Und in Kreuzberg gibt es für ihn genug zu tun.

Die Hausbesetzerbewegung hat sich formiert. Rainer hat mit den heterogenen, oft politisch radikalen Gruppen keine Berührungsängste. Immerhin hat ihn der Geist der 68er ja auch gestreift, auch wenn er politischen Heilsversprechen eher indifferent begegnet. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die Bewahrung der heruntergekommenen Altbausubstanz durch die Instandsetzung unter ökologischen Gesichtspunkten. Das ist für alle Neuland. Rainer hetzt von Versammlung zu Versammlung, formuliert Ziele und treibt Fördergelder auf, trifft auf Zustimmung und entschlossene Ablehnung. Er gründet einen Verein und einen alternativen Sanierungsträger, kommuniziert mit allen Parteien und Institutionen und vernetzt die verschiedensten Initiativen. Sein scheinbar autoritäres, zielorientiertes Auftreten macht ihn angreifbar.

Er braucht lange, um Gegenpositionen akzeptieren zu können. Von „Graf Naunyn“ oder „Architektenmafia“ ist die Rede, aber davon lässt er sich nicht beeindrucken, wenn er in weißer Maurerhose auf seiner Solex von Baustelle zu Baustelle fährt. Die Internationale Bauausstellung 1987 hat schon im Vorfeld Gelder in den Kiez gespült, die vieles ermöglichen, was sonst Utopie geblieben wäre. Dachbegrünungen, der freie Kinderladen „Langer Rüssel“, den er auch für seine Kinder mitbegründete, Gewächshäuser und Hofgärten genauso wie sein Abwasserprojekt „Vertikalsumpf“, das seine Gegner als „Rheinfall von Schaffhausen“ verlachen.

An einer Hauswand läuft das Brauchwasser von oben nach unten durch ein ausgeklügeltes, mit Schilf bepflanztes Tonnensystem, um gefiltert als Grauwasser wieder (ver) wendbar zu sein. Auch wenn die Anlage heute nicht mehr in Betrieb ist, die Tonnen an der Hauswand erinnern an die Kühnheit des Versuchs. Andere Spuren seines Wirkens sind aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Zum Beispiel das Objekt „Windfühler IV“ auf dem Oranienplatz, ein vertikal gekippter Katamaran, dessen Segel sich nach dem Wind richteten und den gespannten Drähten sphärische Klänge entlockten. Oder die Kletterskulptur „Ost-Geist“ aus Bambus, mehr als drei Meter hoch, gekrönt von einer japanischen Maske.

Nach dem Mauerfall eine berufliche Enttäuschung, ein lang vorbereitetes Projekt erhält den Zuschlag, aber sein Name fehlt. Er verlässt Kreuzberg, ein beruflicher, dann ein privater Neuanfang. Er zieht an den Wannsee. Neue Lebensgefährtin, zwei kleine Kinder, für Jahre ein Verwaltungsjob bei der Landesentwicklungsgesellschaft in Potsdam. Trotzdem behält er seine Fabriketage in Kreuzberg, ein Schauraum für seine Designobjekte wie die Loftbox. Plötzlich eine schwere Krankheit, für die sein wacher Geist keine Problemlösung findet. Eine Trauerfeier, auf der sich viele Kreuzberger einfinden. Ihr Lebensraum sähe ohne ihn grauer aus.“ Erschienen im Tagesspiegel vom Sonnabend, d. 25. Mai 2013 geschrieben von Erik Steffen

Waldemarstrasse19758
Wirbleibendrinwibleibendrin-2Wandmal By-nc-sa_colorIMG_3013-300x199Fotos von Helmut Schönberger und Jens Meyer. Im Bild (oben) ist Rainer Graff beim Malen zu sehen. (Der Herr mit dem Lockenkopf in der Mitte des Bildes)

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5. Mai 1975
Wenn MalerInnen nichts mehr einfällt, dann malen sie die Bilder ab. (Siehe Bild oben und siehe Bild unten)



Abgeschrieben in der Bernhard Nocht Strasse (Parallel Strasse zur St. Pauli Hafenstrasse). Für ALLE ABSCHREIBERINNEN gilt: Man sollte doch darauf achten, das das ABGESCHRIEBENE auch RICHTIG ist. Hier wurde FALSCH abgeschrieben! Die MalerInnen der Hafenstrasse meinten etwas ANDERES, was auch an dem beigefügten Bild (siehe oben) deutlich wird. Regel Nr. 1 beim ABSCHREIBEN lautet: Was frauman nicht im Kopf hat, sollte manfrau auch nicht aus dem Ärmel schütteln!

Wolf Donner. Gegenkurs Out of the past

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Wolf Donner aus dem Jenseits: Out of the past

„Alle Macht den Regisseuren“

Ein (leider) immer noch sehr aktueller Text von Wolf Donner. Zuerst veröffentlicht im Tip (Berlin) im Dezember 1992. Anschließend abgedruckt im dem Buch: Wolf Donner: Gegenkurs, Ausgewählte Kinotexte von 1983 – 1992 Verlag Klaus Stemmler Berlin. Das Buch gibt es leider nur noch antiquarisch. „Wolf Donner. Gegenkurs Out of the past“ weiterlesen

Alle Welt tuts – der Leidensweg eines VOBO Kurzfilmes

Tieresehendichan3Schließlich bin ich Beamter Der Leidensweg eines Vobo Kurzfilmes. Wenn der Namensvetter mit 450 Kopien “startet“ (wie die Branche das so nennt), dann ist das schon was.

Pdf Volkszählungsfilm

Abseits dieser Geldmenge vollzog sich in den letzten Monaten ein anderer “Kinogroßversuch“. Mit über 80 Kopien wurde der Anti-Volkszählungsfilm “Alle Welt tuts“ in den Kinos gezeigt. Finanzierung, Produktion und Vertrieb gleicht eher einem Abenteuerroman. Wie immer wenn Linke in diesem -ihrem- Lande daran gehen, etwas herzustellen, dann gibt es diese ständigen Wiederholungen: Erstens ist kein Geld da und zweitens ist es auch zu spät, um etwas aufzutreiben. Übrig bleibt nur die Idee. Diesmal Ideenmacher Thomas Amman und Niels Bolbrinker. Der eine hat grade in einem Fernsehbeitrag gezeigt, wie leicht die Geldautomaten der Hamburger Sparkasse zu überlisten sind. Statt nun dies Wissen, wie jeder vernünftige Mensch, für sich zu behalten und in Zukunft immer über genügend Bargeld zu verfügen, was macht er? Für ein vergleichsweise jämmerliches Honorar einen Magazinbeitrag.

Die Folge: Die Hamburger Sparkasse kündigt das Konto. Beleidigt über so viel Öffentlichkeitsarbeit. Kein Konto, kein Überziehungskredit für den VOBO Kurzfilm. Ohne Geld bekommt man keinen Rohfilm, kein Kopierwerk arbeitet umsonst, keine Kamera kann gemietet werden. Es ist März und die Volkszählung steht vor der Tür. Während viele noch überlegen, ob sie sie reinlassen, sitzen Amman und Bolbrinker am Küchentisch und überlegen, wie das nötige Geld zu beschaffen ist. Am Stichtag – wir erinnern uns – es sollte der 25. Mai (1987) sein – sollen die Kopien in den Kinos laufen. Im nächsten Monat lernen sie eine Menge: Über sog. Rohfilm, “Selbstverwaltete Filmförderung“ über “kommunale“ und “Beamtenkinos“, über Bürokratie und “linke alternativ-Bürokratie“ und auch über den Beifall, mit dem man nicht rechnet.

Der “Hürdenlauf“ der Finanzierung beginnt in Hamburg. Beim “selbstverwalteten“ Hamburger Filmbüro e. V.. Seit der Gründung 1979 hat sich dieses Büro zu einem “sozialdemokratischen Musterprojekt“ entwickelt.

Kein Geschäftsführer, kein Buchhalter, keine Schreibkraft, die nicht mindestens die Fähigkeit von Politikern haben – nämlich Werbung zu machen, ohne etwas von der Sache zu verstehen. Am linken Rand der SPD – aber eben doch SPD. Fraktionszwang. Für spontane Politik ist kein Platz. Reden werden gehalten: In der Zeitung muß es stehen, am besten, wenn noch ein Bild dabei ist. Da geht es nur zuletzt um Film. Da müssen die richtigen Formulare ausgefüllt werden.

Die Einreichfristen müssen eingehalten werden. Da muß die Richtung stimmen. Da werden Politik-Karrieren angefangen. Und wenns nicht in die richtige Richtung geht, da gibt es eine Menge Vorschriften, mit denen unliebsame Projekte und Personen beiseite geschoben werden können. Nein – kein Geld für die VOBO Film. Erstens, der Einreichtermin ist verstrichen. Zweitens, das Gremium hatte bereits einen ähnlichen Film kurz vorher abgelehnt. Wie man es gewohnt ist, zum Schluß wird die Ablehnungsbegründung auch noch solidarisch: Man würde ja privat gerne wollen . . . aber leider.

Der Vorstand – wie bei vielen Vereinen – ähnlich mutig auf die Frage, wie sich denn das Filmbüro e. V. in der Volkszählung selber verhalten wolle. Im Valentin Musäum hängt die Antwort an der Wand: “Mögn täten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns nicht getraut.“ Schließlich kann man nicht vor der Bürgerschaftswahl für die SPD werben und hinterher die Herren in die Pfanne haun. Für Hamburg heißt die Schlußfolgerung: Wer 10 Mille Subvention haben will, muß die hohen Herren der Politik bei Laune halten. Grade machen hat auch seinen Preis. Gratisangst? Vielleicht. Zum Ausprobieren reicht der Mut nicht.

Kein Geld vom Hamburger Filmbüro e. V.. Also eine Antrag an Netzwerk Hamburg. Nur leider geht das Gerücht, die hätten zurzeit überhaupt keine Gelder frei. Zeit ist knapp, also erst mal angefragt, ob das Gerücht stimmt. Dafür sind die “Alternativ-Banker“ wieder zu fein. Sie bestehen auf einem Antrag.

In drei Wochen trifft sich der Vergabeausschuß, der über den Antrag befindet. Netzwerk Berlin hat mehr Geld. Manfred Herold mit Berliner Wohnsitz übernimmt die Verhandlungen. Geld ist da. Zuständig, so befindet der Netzwerkgutachter in Berlin ist zunächst einmal Hamburg. In sechs Wochen tagt der nächste Vergabeausschuß “Netzwerk Berlin“. Die “Berliner Abteilung“ übersendet der “Hamburger Filiale“ einen Fragenkatalog. Der sieht so aus, wie 1980 Fragebögen ausgesehen haben. Wie denn die Produzenten politisch einzuschätzen seien, ob Hamburg das Projekt unterstützen würde, wenn es Geld hätte und ähnlich hypothetische Fragen. Die Volkszählung findet doch auch in Berlin statt? Der Einwand zieht nicht. Konzepte werden verschickt und begutachtet. Hamburg begutachtet und verweist mangels Masse nach Berlin zurück.

Nach 6 Wochen hin und her, findet der “Antragsannehmer“ von Netzwerk Berlin das Konzept sei sehr schlecht und ausserdem sei es ja viel zu spät für den Film. Aber: nach ihm gehe es ja nicht. Inzwischen auch das Ergebnis des Landes NRW in Mühlheim. Auch hier – wie in Hamburg – die formale Begründung. Man würde ja gerne den Film fördern, aber man könne nicht. Die Einreichfristen wären verstrichen. Welche Kinos in Berlin denn diesen Kurzfilm zeigen werden?

Der Verleih in Hamburg war in der Zwischenzeit fleissig. Es gibt zehn: Bali, Filmkunst 66, Filmbühne, Sputnik, Movimento, Eiszeit, Notausgang, Xenon, Graffiti, und Kino im Kob. Die sollen die Leute von Netzwerk anrufen. Machen sie aber leider nicht. Hin und her. Sitzungen, Anhörungen. Dann die erste Finanzhilfe. Ein Verein aus Kreuzberg spendet 1.000,00 DM. Auch Netzwerk Berlin ist inzwischen so weit, es kommen 4.000,00 DM.

Die Produktionssumme ist damit noch nicht zusammen. Aber ein Anfang. Die Bayern Grünen sagen einen Zuschuss zu. Klausel: Alle anderen Landesverbände der Grünen sollen auch bezahlen. Die AL in Berlin wird angefragt. Jemand kennt den Kassenwart dort und winkt ab, zwecklos. Bei der GAL in Hamburg tobt der Wahlkampf. Keine Zeit für den Nebenschauplatz. Doch die “Bürovorsteherin“ setzt sich sehr für das Projekt ein. Einige Bezirke bringen 1.000,00 DM zusammen.

Auf der Suche nach weiteren Geldgebern fällt dem Verleih auch die TAZ ein. Viel Papier wird gegen die Volkszählung bedruckt, warum sollten da nicht 3.000,00 DM für Kinobilder übrig sein? Die Redaktionskonferenz schmettert den üblen Bettelversuch eines “anderen Projektes“ ab. Kein Geld für Bilder.

Die Bundesgrünen sind immer nicht erreichbar. (Bisher hat nur die Bundespost an dem Projekt gut verdient. Die Telefonkosten schnellen in die Höhe.) Schließlich findet sich bei den Bundesgrünen doch eine Ansprechpartnerin. Eine Zusage kommt. Die Kinos sollen die Kopien bezahlen. Ein ungewöhnliches Ansinnen. Normalerweise kriegen sie Geld für die “Werbefilme“, die sie zeigen. Amman und Bolbrinker haben schon mal mit der Herstellung des Kurzfilmes angefangen.

Konntens wieder nicht abwarten. Inzwischen sind 12.000,00 Mark zusammen. Ungefähr die Hälfte des benötigten Geldes. Der Verleih telefoniert mit Kinos (gewerblichen und subventionierten). Erstaunliches kommt da zu Tage. Ungesehen und ohne Papier bezahlt das Kommunale Kino in Hamburg zwei Kopien. Doch auch das andere Extrem: Der Direktor des Deutschen Filmmuseums (wie sich der Leiter des Kommunalen Kinos in Frankfurt gerne nennen läßt) hat eine andere Antwort bereit: “Leider ginge das nicht – weder zeigen, noch bezahlen. Schließlich sei er Beamter im Staatsdienst.“ Ob Beamte denn keine eigene Meinung haben dürfen und ob er den Film nicht mal wenigstens vorher sehen will? “Nein, will er nicht.“

Auch die Beteuerung, dass kein Boykottaufruf im Film enthalten ist, bringt keine Zusage aus Frankfurt. Beamte sind eben Beamte. Auch in Kiel beim Kommunalen Kino gehts ähnlich ab. Man will darüber diskutieren und meldet sich wieder. Der Verleih wartet vergeblich auf den Rückruf. Schließlich meldet sich der Verleih wieder in Kiel. Die zuständige Sachbearbeiterin ist leider in Urlaub gefahren. Eine Ansichtskopie wird geschickt. Innerhalb einer Woche sollen sie diese ansehen und bei Nichtgefallen zurückschicken. Die Woche vergeht. Keine Kopie kommt. Also wird der Film in Kiel gezeigt. Denkste. Der Stichtag ist vorüber (25. Mai 1987), die Kopie kommt zurück. Kleiner Zettel: “Film konnte leider nicht gezeigt werden. Er kam zu spät“.

Mit dem Mut ist das so eine Sache. Offener dann doch die Leute vom Cinema Quadrat in Mannheim. Ihr Büro ist direkt im Rathaus Mannheim (E5). Wenn sie den Kurzfilm zeigen, werden die Zuschüsse gestrichen. Das ist ihnen die Sache nicht wert. Das kann man akzeptieren. Lieber so, als windelweich. Die Kollektive unter den Kinos gibts ja auch noch. Der chronische Geldmangel bestimmt ihre Arbeit. In Freiburg und Stuttgart wird so richtig demokratisch entschieden. Ob man noch mal wieder anrufen kann? Der Programmausschuß tagt am Montag. Mit Freiburg klappts dann noch. Mit Stuttgart nicht.

Inzwischen hat Flebbe aus Hannover 10 Kopien gekauft. Das gibt Auftrieb. Die AG Kino hilft beim Telefonieren. Doch der amtierende Vorsitzende schaltet sich ein. Er möchte keine Bestellscheinaktion. Schließlich die Frage, was ist mit Kino Abaton im gleichen Hause? Das kann nur der Geschäftsführer entscheiden, sagen die Angestellten. Doch der ist nicht zu erreichen. Schließlich, eine Kulturveranstaltung, der Geschäftsführer des Abaton hält eine Rede. Für Filmemacher Bolbrinker ist es die Gelegenheit, den Kurzfilm anzubieten. Er findet den Film gut. Kann aber nicht allein entscheiden, das hätte nun niemand gedacht. Schließlich stimmen auch die anderen zu. Letztlich doch nur eine Formsache.

Alle Kinobesitzer fliegen an die Cote da Sur. Cannes ruft. Auf Frau Gregor vom Arsenal in Berlin hat den Flugschein schon gekauft. Sie verspricht zurück zu rufen. Der Verleih wartet – wie so oft bei den Beamtenkinos – vergeblich. Alf Boldt wäre der richtige, aber der ist noch bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen.

Auch die Filmtheaterbetriebe Kloster & Steenwerth (York, OFF, Manhattan u. a.) in Berlin melden sich nicht wieder. Die hängen am Tropf der Filmförderungsanstalt, vermutet die Berliner Kinoszene. Er hängt so direkt am Tropf, dass er denkt, die machen Schwierigkeiten. Kein Georg Kloster. Da kommen dann doch eher die armen Kinos infrage: Sputnik, Movimento, Bali, Steinplatz und richtig, die nehmen auch Kopien. Bayern ist – wie gedacht – ein wenig erfolgreicher Versuch. München ja, zunächst die beiden Freak Kinos – Werkstatt und Maxim – und dann noch ein Kino der AG Kino.

In Regensburg sind wir wider Erwarten mit einer Kopie erfolgreich (Ostentor Kino, Werner Hofbauer). Im Augsburger Stadtkino ist der Bearbeiter gerade in Urlaub. Die Weber Broth. sind nach Cannes abgeflogen. Die anderen Mitarbeiter des Klein Konzerns haben keine Kompetenz für eine Ausgabe, die 100,00 DM überschreitet.

Wir schicken drei Ansichtskopien, mit der Maßgabe, diese bei Nichtgefallen innerhalb einer Woche zurückzusenden. Die Kopien kommen zurück, aber erst am 20. August (1987) mit einem kleinen Zettel der Buchhalterin, Kopien wurden nicht angefordert, nicht gezeigt, werden also auch nicht bezahlt. Was ist mit den Franken los, hat denen der Strauß auch schon den Schneid abgekauft? Ich beginne einen kleinen Streit.

Doch nicht nur Zustimmung, denen vom Roxy Kino in Dortmund ist unser Angriff zu seicht, sie hätten gerne was schärferes. Sie schicken die Kopie wieder zurück, aber innerhalb der besagten Woche. Das geht in Ordnung. Auch beim Arsenal Kino in Tübingen passiert eigenartiges. Die Kino Gruppe begutachtet den Film, will ihn einsetzen, aber der Vorführer hat Angst, also wird er bezahlt, aber nicht gezeigt. Gleichzeitig hat auch Zimmermann (Friedrich Zimmermann, damals Innenminister, heute tot) einen Werbefilm zimmern lassen, der bundesweit gestartet wird.

Viele Kinos weigern sich, diesen in die Werbeblöcke aufzunehmen und schicken ihn an die Agentur zurück. Wenn jetzt unser kommt, dann gibt es unterschiedliche Reaktionen:

1) Die pluralistische (Wir haben nicht für die Volkszählung geworben, also dürfen wir jetzt auch nicht gegen die Volkszählung werben) bzw., beide zu zeigen, wobei sie bei ersten Geld bekommen und beim zweiten Geld bezahlen sollen. (Was sie natürlich meistens nicht einsehen). Hier bricht das vorhandene Manuskript ohne jede Zusammenfassung ab . . .

Vom Original Manuskript übertragen von Tieresehendichan3

Jens Meyer am 15. Mai 2014

Demonstrant in Hamburg
Hachmannplatz

Betrifft: Volkszählung Stichtag 25. Mai 1987