Vor dreissig Jahren: Nichtwähler sind die Partei der Mitte. Interview mit Günther Thews.

Günther Thews, aidskranker Kabarettist und Ex- „Tornado“ über seine letzte Kommunalwahl, einem Wunschbürgermeister für Kreuzberg und das Nichts im Berliner Zentrum. Das Interview erschien am 25. Mai 1992 in der TAZ. Die Fragen stellte Mathias Bröckers.

taz: Günther, das ist ja nun deine letzte Kommunalwahl …

Günther Thews: Na Gott sei Dank ist es die letzte. Diese Wählerei ist mir ja schon länger zutiefst suspekt, und ich habe mich schon immer gefragt, warum will einer überhaupt Politiker werden, sich hinstellen im grauen Anzug und Schlips und sagen: „Ich weiß, wo’s lang geht, ihr müßt mich wählen.“ Die Motivation für einen solch schmierigen Job ist mir ziemlich rätselhaft.

Du bist also ein klassischer Nicht-Wähler?

Die Partei der Nicht-Wähler ist ja hochinteressant: Erst mal ist es ja schon so ziemlich die größte Partei, und dann, das ist das Wichtigste, sind da alle drin: Rechte und Linke, Dicke und Dünne, Intelligente und Blöde — wenn so ein Skin aus dem Osten nicht wählen geht, ist das ein anderer Ausdruck, als wenn hier ein linker Intellektueller vier Nächte über die Frage gesoffen hat: „Geh‘ ich nun hin oder nicht?“ Der Skin bleibt zu Hause, weil er den Wahlzettel nicht lesen kann und nicht weiß, wo er sein Hakenkreuz für den Führer hinmachen muß — der kritische Linke hier hat natürlich ganz andere Gründe. Und wenn man sich dieses Spektrum anguckt, repräsentiert die Partei der Nicht-Wähler wirklich die Bevölkerung, die Nicht-Wähler sind also die eigentliche Partei der Mitte.

Aber ist einfach Nicht-Wählen nicht auch ein bißchen einfallslos?

Ich habe mir ja auch schon überlegt, ob wir nicht Alternativen haben— so wenig wie die Politiker bewegen, könnte man ja glatt auch wieder Magier, Kartenleser, Regenmacher usw. einsetzen, das heißt, wir wählen hier einen Kreuzberger Bezirks-Schamanen, der unsere Geschicke lenkt. Aber so einen wie den SPD-Kandidaten Peter Strieder? Nee, den würde ich nur wählen, wenn er wirklich macht, was ich mir vorstelle, und zum Beispiel erlaubt, daß auf Immobilienhaie mit Damenrevolvern geschossen werden darf oder für ein quasi autofreies, knastfreies, drogenverbotsfreies Kreuzberg sorgt oder hier zumindest mal lokal realisiert, was schon Willy Brandt für die ganze Welt wollte: Kinderrepubliken, also im weitesten Sinne UFA-Fabrik-ähnliche Kommunen.

Du bleibst also am Sonntag zu Hause?

Ja wie komme ich denn dazu, die Drecksarbeit der Politiker, ihre Korruption und Eitelkeit, auch noch zu legitimieren, indem ich in eine langweilige Schule gehe und mein Kreuz mache? Wenn ich mir schon dieses sogenannte Wahllokal ansehe — da habe ich aber ’ne ganz andere Wahl für’n Lokal.

Hast du denn eine Prognose?

Erinnern wir uns an unseren Freund Wolfgang Neuss: „Der Berliner ist hinterfotzig“ — also Vorsicht bei Prognosen. Viel interessanter ist doch die Frage: Warum haben eigentlich die Schimpansen keine Kommunalwahl, und warum brauchen wir so etwas? Also wenn jemand öffentlich fordern kann, die Oberbaumbrücke sechsspurig zu untertunneln, Unter den Linden achtspurig zu untertunneln, wenn man solche Visionen frei äußern darf, ohne dafür gleich einen in die Fresse zu kriegen — dann kann ich doch auch so phantastische Sachen fordern wie Bezirks-Zauberer für Kreuzberg. Ganz grundsätzlich für Demokratie und Wahlen gilt natürlich: Was soll ich mich beherrschen lassen, wenn ich mich kaum selbst beherrschen kann?

Von wem würdest du dich denn am liebsten beherrschen lassen, wenn überhaupt?

Na auf keinen Fall von Leuten wie Heinrich Lummer. Alle reden von Stolpe, aber ein Typ wie der kleine Lummer, ein echter IM, der auf Kosten der Stasi in Prag bumsen geht und bei den konspirativen Treffen bestimmt nicht nur Witze erzählt hat, der flutscht durchs Netz. Aber gucken wir doch mal, wer alles schon Kreuzberg regieren wollte: Cäsar wollte schon mal ganz Germanien beherrschen, Napoleon hat es ’ne Weile versucht, Coca-Cola hat sich jetzt einigermaßen festgesetzt, und jetzt kommt da so einer wie Striebel oder Strieder, und meint, er wüßte, wie man das macht. Also nee.

Du hast also keinen Wunschbürgermeister?

Doch. Ich wüßte einen, den wir ganz dringend importieren müßten: den Bürgermeister von Bangkok. Ein Spitzenmann, der früher General war und jetzt in der buddhistischen Tunika rumläuft und die Stadt regiert. Ein echter Erleuchteter, der sein ganzes Geld gleich an die Armen weitergibt, morgens um vier aufsteht und meditiert und dann schon mal zwei Stunden den Straßenfegern beim Saubermachen hilft, nicht als Presse-Show, sondern ganz selbstverständlich. Einer, der an seinem lächerlichen Ich nicht hängt, der die Identität als Bürgermeister nicht braucht und dem die Bevölkerung deshalb zutraut, daß er nicht korrupt ist. Und jetzt sitzt er im Knast. Da müssen wir ihn dringend rausholen und am besten als Asylant und Wunschbürgermeister gleich nach Kreuzberg einladen.

Kreuzberg — das wäre aber doch ein Abstieg, ganz Berlin scheint mir eher angemessen.

Der Senat kann ihn uns ja dann abkaufen, gegen Ablösesumme. Ich vermittle das gern, als Vermittler eines wahrhaft Unbestechlichen darf man ja ruhig ein bißchen Provision kassieren. Aber im Ernst: So ein Mann wäre ein Segen für die Stadt. Nimm nur mal den Potsdamer Platz. Der wird jetzt mit Bürohäusern betoniert, man weiß jetzt schon, es wird grauenhaft, obwohl die teuersten und besten Architekten der Welt am Werk sind. Ein Buddhist als Bürgermeister würde da sagen: Ja Mensch, seid ihr wahnsinnig, ihr seid die einzige Stadt der Welt mit einem leeren Zentrum, und das knallt ihr euch jetzt mit Autos und Beton voll??? Das Nichts in der Mitte, das leere Zentrum ist es doch gerade — nur das strahlt doch etwas aus.

Das werden unsere Christen und Sozialen nicht kapieren.

Na ja, man könnte aber doch mal zeigen, daß man nach 5.000mal „Tagesschau“ etwas gelernt hat — zwischendurch tritt ja selbst in der „Tagesschau“ ab und an die Wahrheit zutage. Aber das letzte, was unser SPD-Kandidat gelesen hat, um seine Visionen zu schärfen, ist ein Perry- Rhodan-Heft, als er im Krankenhaus lag. Wann soll sich denn die Phantasie eines Politikers entwickeln: Die gehen zur Schule, Bundeswehr, studieren Jura oder Verwaltung, sitzen dann in einem langweiligen Büro herum und sollen dann plötzlich ’ne Vision für die Stadt haben. Wo soll die herkommen, frage ich? Nicht mal ’ne bewußtseinserweiternde Pflanze nehmen sie da, sondern höchstens Schlaf- und Aufputschmittel. Deshalb müssen dringend diejenigen mit der politischen Arbeit betraut werden, die für Visionen und Phantasie hauptberuflich zuständig sind: die Künstler.

Soll dann Ben Wargin entscheiden, ob wir ’nen Jäger 90 kriegen oder nicht?

So direkt ja nun auch wieder nicht. Aber eine Art runden Tisch von allen kreativen Leuten — und die suchen sich denn irgendeinen smarten, dußligen Politiker, der ihre Beschlüsse perfekt auosführt. Der wird direkt bezahlt, und wenn er nicht spurt, fliegt er raus wie in der Bundesliga. Nun können die Künstler ja auch nicht immer viel miteinander anfangen — aber jeder hat in seinem Bereich eine Vision entwickelt und kann am runden Tisch kundtun, wie er sich die Welt als großes Kloster denn so vorstellt. Die Politiker führen dann nur noch aus. Ich glaube, daß ist unsere einzige Chance, eine Antwort darauf zu finden, wo es langgehen muß. In meinem Krimi hier habe ich gerade einen guten Satz gelesen: „Wenn du die Antwort nicht findest, mußt du selber die Antwort werden.“

(Interview: Mathias Bröckers)

PDF Abschrift Nichtwähler Günther Thews vor dreissig Jahren1

Faksimili Interview (I)

Faksimili Interview (II)

Günther Thews in einer Drehpause ist unser Mann für den guten Ton mit der Nagra und mit vollem Haupthaar.
Günther Thews bei den Dreharbeiten 1974

Die Drei Tornados: Holger Klotzbach, Günter Thews, Arnulf Rating. Trikont Verlag. Die 3 Tonados 1977-1988. Indigo

Kuchekäschtle

Foto Jochen Hergersberg Berlin 1979

Kuchekäschtle. Wir mochten uns. Martin Streit und ich. Später kam noch Berthold Podlasly dazu. An Martin denke ich manchmal. An Berthold auch. Wir hatten eine ähnliche Biografie vor der dffb. Waren auf der Proletenwelle in die Akademie gespült worden. Wir wollten viel und schnell lernen, um damit weg von den Proleten zu kommen. Viele Mitstudenten wollten grade dahin, wo wir grade von weg wollten. So haben wir uns zusammengetan. Ich erinnere mich an einen Grundkursfilm mit einer langen Kamerafahrt. Der Film hatte den Arbeitstitel >Inga<*, so hieß die Frau, mit der ich damals verheiratet war. Etwas besseres war uns zu dem Zeitpunkt nicht eingefallen. Inga arbeitete als Pädagogin in einem Jugendfreizeitheim. Das sollte auch unser Film behandeln. Er ist sehr lang geworden und sollte den Zusammenhang von Arbeit und Freizeit darstellen. Eine lange Kamerafahrt sollte um einen Häuserblock stattfinden. Auf der einen Seite ein Regierungsgebäude, auf der gegenüberliegenden Seite ein Jugendfreizeitheim. Unsere Kamerafahrt sollte optisch den inhaltlichen Zusammenhang von beiden Einrichtungen zeigen. Zehn Minuten, eben so lange, wie eine 120 m Kassette in einer 16 mm Kamera (Arri BL) reichte. Die Wirkung, die wir uns davon erhofft hatten, trat beim Publikum aber nicht ein.

Die beste Geschichte, die sich immer wiederholt hatte und die Martin Streit mir immer und immer wieder erzählen mußte war die, von der Autobahn, die bei Magdeburg über die Elbe querte. Er war Besitzer eines alten Buckel Volvo mit Schweizer Kennzeichen. Und er war Besitzer eines Schweizer Passes, weil er in der Schweiz geboren und aufgewachsen war. Manchmal, aber eher selten, sprach er auch so, wie die da sprechen. >Kuchekäschtle<** hat mir immer besonders gut gefallen. Die Geschichte mit dem Buckel Volvo, der Autobahn und der DDR ging so. Dazu muß man wissen, daß wir beide (Martin und ich) den DDR Sozialismus, den real existierenden, wie sie ihn nannten, nicht sehr mochten.

Das war in der dffb mehrheitsfähig. An der Magdeburger Autobahnbrücke gab es eine Geschwindigkeitsbegrenzung. 30 Std/kmh waren ausgeschildert. Ohne jeden ersichtlichen Grund. Das Schild diente vorwiegend der Devisenbeschaffung des Arbeiter- und Bauernstaates. Und jedes Mal wenn Martin an diese Stelle kam, beschleunigte er auf die Höchstgeschwindigkeit, die der Buckel Volvo noch schaffte. (Hundertzwanzig km/h). Hinter der Brücke lagen die Volkspolizisten, wie sie genannt wurden, auf der Lauer und stoppten den Buckel Volvo in freudiger Erwartung auf das viele Westgeld, dass sie jetzt kassieren würden.

Aber Martin hatte nie >Devisen< bei sich. Sie mussten ihn jedes Mal laufen lassen, notierten seine Schweizer Anschrift und sein Kennzeichen. Geld haben sie nie bekommen. Irgend wann haben sie sich das nicht mehr gefallen lassen und er musste jedes Mal das Flugzeug nehmen, wenn er nach >Westdeutschland< Berlin verlassen wollte. Den Buckel Volvo haben sie nicht mehr reingelassen. Und den Schweizer Bürger auch nicht.

Vermutlich waren ihnen die Verwaltungskosten zu hoch geworden. Er hat nach der dffb viele Filme fürs Fernsehen und bei anderen Filmen die Kamera gemacht. Wir haben uns nicht aus den Augen verloren. Selbst an dem Tag, als er sich eine Überdosis gab, haben wir noch miteinander telefoniert. Ob die Geschwindigkeitsbegrenzung an der Magdeburger Autobahnbrücke noch besteht, weiß ich nicht. Ich fahre immer mit der Bahn nach Berlin und zurück. In dem Heft >dffb volljährig< von 1984, wo vorne das Bild einer Schauspielerin und das von Heinz Rathsack zu sehen ist, antwortet Martin Streit auf die Frage, ob er noch Utopien habe. (Wenn möglich, ausführlich beschreiben): >Ich möcht‘ einer gewesen sein wie Petersen einmal einer sein wird.***<

Ps: * Der fertige Film trägt den Titel: >Deine Freizeit gehört dir noch nicht< Im Vorspann sind die Filmemacher genannt: Berthold Podlasly, Michael Mosolff, Martin Streit und ich (Jens Meyer). Natürlich alphabetisch geordnet, wie sich das gehört.

** Kuchekäschtle = Küchenschrank

*** Gemeint hat Martin Streit vermutlich den Wolfgang Petersen, dessen dffb Abschlußfilm den Titel trug: >Ich werde dich töten, Wolf<. Auch der zweite aus unserem Grundkurstrio, Berthold Podlasly, hat sich umgebracht. So bin ich der Übriggebliebene dieses Trios. Auch dieser Satz kommt aus dem Kino: >Die Besten sterben immer zuerst< Und aus welchem Film ist dieser Satz? Hah, da kommt ihr nie drauf! Da könnt ihr lange raten! Huch, ich hatte ganz vergessen, ihr habt ja jetzt Maschinen, die für euch suchen! Na, dann mal los!

Jens Meyer 4. November 2018

 

Und hier ist des Rätsels Lösung: Sie stammt aus der deutschen Synchronisation von „Fanfan, der Husar“ (Fanfan la tulipe) von Christian-Jaque und wird dem Schauspieler Gérard Philipe in den Mund gelegt. Das ist seine Antwort auf den Satz seines Vorgesetzten, der behauptet hatte, man hätte ihm im Krieg schon vier Pferde unter dem Arsch weggeschossen. 26. Oktober 2021.

cc
Tonmann Günther Thews in einer Arbeitspause
Foto Jochen Hergersberg Berlin 1979