Briefe an Eugen (XLV) Heinrich Hannover

Hallo Eugen,

Heinrich Hannover
(31.10.1925 -14. Januar 2023) Foto von Georg Maria Vormschlag (28.05.2016)
Römische Zahlen

ich wiederhole mich nur ungern. Aber auf der Archivseite von Heinrich Hannover habe ich den Text von ihm „Höre ich richtig: Vertrauen zum Rechtsstaat!?“ nicht gefunden. Nun kennst Du mich ja gut. Imgrunde bin ich doch ein fauler Hund. Und jeden Text abzuschreiben liegt mir auch nicht so. Auch wenn es die zehn Finger und den Kopf wachhaelt. Und so habe ich heute eine Mehl an die Seite geschickt, mit der Frage, wo ich diesen Text aus dem Kursbuch 51 herunterladen kann. Aber fünf Episoden aus seinem Text sind es wert, schon heute abgeschrieben zu werden, J.

PDF Briefe an Eugen (XVII) Heinrich Hannover

Hallo Eugen, heute kam Post aus München, sie haben den Text leider nicht digital, nur auf Papier, da wird mir wohl nichts Anderes übrig bleiben, J.

Creative commons.org
cc
Zeichnung Helga Bachmann

Briefe an Eugen (II) Bergedorf

Hallo Eugen, hier nur ein Zeitungsausschnitt, den ich heute im Netz gefunden hab. Du wirst nicht glauben in welcher Zeitung.

Aufstand
Bergedorfer Zeitung am 23.10.1923, Seite 3

Briefe an Wiebeke (XLII) Neue Fundstücke über Ernst Henning

PDF Briefe an Wiebeke (XLII) Neue Fundstücke über Ernst Henning

Römische Zahlen
Römische Zahlen

Hallo Wiebeke, auf meiner Suche nach dem Vornamen der Frau Rieck bin ich einen Schritt weitergekommen. Auf der Internetseite der Österreichischen Nationalbibliothek (Anno) habe ich einen aufschlussreichen Artikel gefunden, der am Dienstag , d. 17. März 1931 in der Wiener Allgemeinen Zeitung erschienen ist. Leider hat die Besitzerin des „abgeschossenen Daumens“ immer noch keinen Vornamen, aber ich hatte nach dem Lesen doch das Gefühl, daß wir auf der Suche einen Schritt weitergekommen sind. Martina Scheffler hatte 2006 in ihrem Buch Mord über Deutschland festgestellt: „Nach 1933 sind sämtliche Prozessakten aus dem Prozeß gegen Jansen, Bammel und Höckmair durch die Nationalsozialisten vernichtet worden.“ (Mord über Deutschland, Lit Verlag Hamburg 2006, Seite 86, ISBN 3-8258-9404-5). Das führt dazu, daß wir an anderen Orten suchen müssen. Um Dir die Sache einfacher zu machen, habe ich eine Abschrift angefertigt. Am Ende habe ich dann noch ein paar Ergänzungen angefügt. Viel Spaß beim Lesen, J.

Abschrift: Quelle: Wiener Allgemeine Zeitung (52. Jahr, Nr. 15837 auf Seite 4). Dienstag, d. 17. März 1931: „Revolverschlacht im Autobus. Wie der Hamburger Kommunist Henning ermordet wurde. Hamburg, d. 16. März. (Tel.=Union.) Zu der Bluttat in einem Autobus der Linie Zollenspicker-Hamburg, der der kommunistische Bürgerschaftsabgeordnete Henning zum Opfer gefallen ist, berichten die Hamburger Montagsblätter weitere Einzelheiten.

Ein Augenzeugenbericht in den „Hamburger Nachrichten am Montag“ besagt, daß der Autobus Ochsenwärder ― Hamburg etwa mit zehn Personen besetzt war. Auf der rückwärtigen Sitzreihe hatten drei Männer Platz genommen, die in der Station Fünfhausen eingestiegen waren.

Vor ihnen saß der kommunistische Bürgerschaftsabgeordnete Henning und sein Parteigenosse Cahnbley aus Altona, die von einer politischen Versammlung in Zollenspicker kamen. Auf der langen Strecke von Annenhof nach Spadenland erhoben sich die drei hinzugekommenen Fahrgäste und riefen dem Autobusführer zu: „Halten oder wir schießen“.

Im gleichen Augenblick krachten auch bereits mehrere Schüsse. Henning wurde getroffen und sank bewusstlos einer neben ihm sitzenden Dame in den Schoß. Die Dame wurde von drei bis fünf Schüssen in die Beine getroffen.

Hennings Begleiter Cahnbley warf sich nach den ersten Schüssen auf den Boden und stellte sich tot. Er erhielt lediglich eine ungefährlichen Streifschuß.

Eine andere Dame wurde durch einen Schuß am Daumen verletzt. Die drei Täter konnten in der Aufregung schnell den Wagen verlassen und flüchten.

Die verletzten Frauen sowie einige andere Passagiere verließen den Wagen, der daraufhin im schnellsten Tempo weiterfuhr und auf der nächsten Polizeiwache Bericht erstattete. Es sollen insgesamt etwa 15 Schüsse abgefeuert worden sein. Bei den Tätern handelt es sich um junge Leute im Alter von 20 bis 25 Jahren.

Dem Kontrolleur war es aufgefallen, daß die jungen Leute nicht selbst für sich bezahlt hatten, sondern ein Einwohner aus Ochswärder ihnen die Fahrt bis Hamburg bezahlte. Außer dem getöteten Henning sind vier weitere Insassen des Autobus mehr oder minder schwer verletzt worden, darunter zwei Frauen und ein Kind.

Die „Hamburger Nachrichten am Montag“ erfahren von dem Führer des Autobus, daß kurz nach dem Verlassen der Haltestelle Fünfhausen an ihn der Ruf gerichtet wurde, anzuhalten.

Da er aber weiterfuhr wurde ihm bedeutet, es sei bitterer Ernst. Gleichzeitig bemerkte er in den Händen der Leute mehrere Revolver. Er stoppte daher den Wagen. Dann erscholl der Ruf „weisen sie sich aus“ und gleich danach fielen etwa 15 bis 18 Schüsse.

Hamburg, 16. März. (C. N. B. ) Die Täter sind junge Leute im Alter von 20 bis 25 Jahren.

Nach der Tat ergriffen sie nicht sofort die Flucht, sondern hielten sich noch einige Minuten vor dem Gefährt auf und riefen: „Sind sie auch wirklich beide tot?“ Dann liefen sie querfeldein und stoben auseinander.

Zu den tödlichen Verletzungen des Henning ist zu bemerken, daß die erste Kugel ziemlich tief in die linke Seite eindrang, während der zweite Schuß ins Herz ging. Die Täter nahmen an, daß Henning nicht tödlich getroffen sei und feuerten deshalb in der Absicht, ihn am Kopf zu treffen, noch weitere fünf Schüsse ab, die aber die Lehrerin in den Oberschenkel trafen.“

Überschrift:

„Zwei Täter haben sich gestellt. Hamburg, 16. März (Tel.=Union) Zu der Ermordung des Kommunisten Henning wird gemeldet:

Zwei der Täter stellten in der Nacht vom Sonntag zum Montag um 2 Uhr 30 Min. bei der Kriminalpolizei im Stadthause. Sie wiesen sich aus als der am 16. Februar 1909 in Seegeberg geborene Albert Ernst Jansen und Otto Ernst Hans Bammel, geboren am 27. Mai 1905 in Wittingen, Kreis Isenberg. Jansen war früher Polizeiwachtmeister und ist wegen nationalsozialistischer Betätigung entlassen worden. Bammel ist Handlungsgehilfe. Beide sind Mitglieder der nationalsozialistischen Partei. Der dritte Täter ist der am 11. August 1903 in München geborene Hans Alois Hockmeyer, er ist gleichfalls Mitglied der nationalsozialistischen Partei. Mit seiner Festnahme ist zu rechnen.“

Anmerkungen Februar 2024

Im Text gibt es vier Druckfehler, die vermutlich durch telefonische Übertragung entstanden sind. Ansonsten ist dieser Zeitungsartikel erstaunlich zuverlässig. Es fehlt die Namensangabe der Person aus Ochsenwärder (heute Ochsenwerder), die den drei jungen Männern, die kein Geld für Fahrkarten bei sich hatten, die Busfahrscheine bezahlt hatte.

Von dem Ehepaar Rieck und ihrem zehnjährigen Kind, die ebenfalls im Bus gesessen hatten, fehlen leider die Vornamen. Im Ort Ochsenwärder Oortkathen gibt es im Einwohnerverzeichnis (1931 -2.107 Einwohner) einen Bäcker = Rieck, O., der am Elbdeich 76 wohnt. Eine Frau Rieck, A. hat am Dobbelersweg 50 eine Zig. Hdlg.. Der Dobbelersweg befindet sich in Fahrtrichtung des Busses. Heute gibt es in der Nähe die U-Bahn Station Hammer Kirche. Im Autobus befand sich noch der Kassierer Wulff. Die Autobusunternehmer waren Willy und Martin Wulff. Vermutlich Brüder. Der Sitz des Unternehmens ist in Hamburg in der Banksstraße 154. Ob Willy oder Martin Wulff der „Kraftwagenführer“ oder der „Kassierer“ war, ist aus den gefundenen Texten aus der „Bergedorfer Zeitung“ nicht zu entnehmen. Die Frau, deren Daumen weggeschossen wurde, ist jene Frau Rieck, deren Vorname bisher unbekannt geblieben ist. Die „angeschossene Berufsschullehrerin“, die später nach Rendsburg verzog, hieß Johanna Heßberg. Aber erst nach ihrer Heirat. Im Bus war sie noch Fräulein Johanna Marcinowski, die “ . . . beim Fortbildungs=Schulverband der Hamburger Marschlande angestellt ist.“ (Bergedorfer Zeitung vom 17.3.1931) Leider hat die Bergedorfer Zeitung den Namen von dem Fräulein falsch geschrieben. („Frl. Marcinowski“). Aus der Heiratsurkunde geht hervor daß ihr „Mädchenname“ Johanna Irmgard Marinowski war. Geboren am 30.11. 1897 in Siegmar, heute ein Ortsteil von Chemnitz. Ihr Ehemann hieß Wilhelm Heßberg und war in Mühlheim/Ruhr geboren.

Polizeimeister Richard hatte in der fraglichen Nacht „Dienst in der Wache 29“. (Bergedorfer Zeitung). Nun gibt es im fraglichen Zeitraum im Adressbuch keine Wache 29, sondern nur eine Wache 28. Die ist am Hammer Deich 57. Das passt. Und Richard Rieck und A. Rieck haben am Dobbelersweg 50 in Hamburg 26 einen Zigarettenladen. Auch das passt. Es könnte sich um das gesuchte Ehepaar handeln. Im Hamburger Adressbuch gibt es im Nebenort von Ochsenwärder, in Kirchwärder, allein zwanzig Einträge mit dem Namen Rieck. Irrtum meinerseits: Es gab doch eine Wache 29. Das habe ich dem Buch von Jan -Frederik Korf (Von der Konsumgenossenschaftsbewegung zum Gemeinschaftswetk der Deutschen Arbeitsfront – Dissertation von Jan Frederik Korf) entnommen (siehe beiliegender Pdf Auszug). Es gibt sogar eine ISBN Nummer. Die lautet: (978-3-8334-7304-3)

Die Wache 29 war 1931 in der Vierländerstraße 280. Dort im Straßenverzeichnis ist ein A. Kalinowski eingetragen. Abkürzung Rev. Kommis. Im ersten Stock.

Die Obduktion der Leiche von Ernst Robert Henning hatte ergeben, daß er von drei Kugeln in den Rücken getroffen worden war. Vor Gericht sagte der Zeuge, Kriminalinspektor Behrmann, der die Ermitttlungen nach dem Mord geleitet hatte, aus: „Eine Waffe wurde bei Hennings nicht gefunden.“ Was schließen wir daraus? Ja, richtig. Mal sehen ob wir nicht doch noch die Vornamen finden. Bis bald, J.

pdf Anmerkungen 1359-1375

Pdf Die Ermordung von Ernst Henning JF Korf

Oortkatenweg Foto Jens Meyer
Oortkatenweg
Oortkatenweg Foto Jens Meyer
Zeichnung Helga Bachmann
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Briefe an Eugen (XLV) Victor Serge

(Zeichen: 1.174)

PDF Briefe an Eugen (XLV) Victor Serge (Zeichen 1.174)

Briefe an Eugen (XVIII) Victor Serge

Römische Zahlen am BUG
Römische Zahlen

Hallo Eugen,

das habe ich mal aus einem Buch abgeschrieben. Das Buch ist zuerst 1951 in Frankreich erschienen. Geschrieben hat es Victor Serge.

Victor Serge

Der Originaltitel der französischen Ausgabe ist, wenn ich das richtig abgeschrieben habe: »Mémoires d’un Révolutionnaire 1901-1941« erschienen bei Editions du Seuil, Paris. Deutsch im Räte Verlag, Wiener Neustadt 1974. Printed in Austria – Westdeutsche Ausgabe. 542 Seiten.

Auf Seite 428 steht das Zitat: „Als Revolutionäre, die eine neue Gesellschaft schaffen wollten,>die größte Demokratie der Arbeiter<, hatten wir mit unseren eigenen Händen ahnungslos die bedrohlichste Staatsmaschine gebaut, die man sich vorstellen konnte, und als wir es empört bemerkten, wandte sich diese Maschine, von unseren Brüdern und Genossen gesteuert, gegen uns und zermalmte uns.

In einen unversöhnlichen Despotismus verwandelt, zog die russische Revolution nicht mehr die Massen in Deutschland an, die mit ihren Hilfsmitteln und ihren Nerven am Ende waren.

Der Nazismus richtete sich ein, indem er den Marxismus nachahmte, den er verfluchte. Europa bedeckte sich mit Konzentrationslagern, verbrannte Bücher oder ließ sie einstampfen, behandelte das Denken mit der Straßenwalze, verbreitete durch alle seine Lautsprecher irrsinnige Lügen.“

Victor Serge (Seite 428-429)

(Mexiko 1942 – Februar 1943)

Brief an eine juengere Freundin

Brief an eine Freundin (zwanzig Jahre juenger als ich) betrifft: Korona Buecher . Jetzt lese ich seit vier Tagen ein Buch, dass ich einmal vor gefuehlten dreissig Jahren gekauft habe, weil es als Maengel Exemplar besonders guenstig war und weil es ausserdem auch gut aussah in meiner Sammlung edition suhrkamp. Ich habe es, aufgrund des Titels, fuer ein Werk gehalten, das besonders viel Langeweile verbreitet. Langweilig und wissenschaftlich. Ein Buch, dass man auf jeden Fall nicht gelesen haben muss. Und jetzt (nach dreissig Jahren) nehme ich es aus dem Regal und entdecke, dass es aeusserst kurzweilig ist, es ueberhaupt nicht trocken wissenschaftlich ist und gerade zu amuesant. Es handelt sich um Band 820, der Reihe Edition suhrkamp. „Wolfgang Abendroth – Ein Leben in der Arbeiterbewegung.“ Gespraeche, aufgezeichnet und herausgegeben von Barbara Dietrich und Joachim Perels (2. Auflage 1977), da warst Du ja erst zwoelf Jahre alt. Vermutlich kennst Du es, weil Deine Beruehrungsaengste mit den Intellektuellen und jenen, die als Intellektuelle so daher kommen, ja eher geringer sind als bei mir. Jedenfalls habe ich großes Vergnuegen und habe endlich verstanden, warum so manches passiert ist, was ich bisher immer nicht verstanden hatte, wie z.B. den kampflosen Uebergang der Arbeiterbewegung, als am 30. Januar der Greis die Macht uebergeben hat. Jens

T 34 Denkmal in Berlin

na warum ist der wohl hier? Ich mein nicht das Tier.

Die Staatsanwaltschaft auf der Seite der Mörder

Abschrift: Wolfgang Abendroth Über Klassenjustiz und Arbeiterklasse in der Weimarer Zeit.(Aus Wolfgang Abendroth, Ein Leben in der Arbeiterbewegung, Edition Suhrkamp, Band 820, Gespräche mit Barbara Dietrich und Joachim Perels. Seite 96.)

„Klassenjustiz wirkte sich in mehrfacher Hinsicht gegen die Arbeiterklasse aus. In der politischen Strafjustiz insofern, als sich die äußerste Rechte an Verbrechen und Morden leisten konnte, was immer sie wollte. In den Jahren 1919 und 1920 wurden Hunderte deutscher Arbeiter von den Freikorps ermordet. (109) Es begann mit der Ermordung linker und kommunistischer Arbeiterfunktionäre, griff dann über auf Mitglieder der USPD, traf auch Pazifisten wie Paasche, schließlich auch bürgerliche Politiker wie z. B. Erzberger und Rathenau. (110) In den beiden letzten Fällen wurden zwar ernstliche Strafverfahren eingeleitet, im übrigen aber stand die Staatsanwaltschaft auf der Seite der Mörder. Kam es dennoch zu einem Strafverfahren, so wurden Scheinstrafen ausgesprochen – ich erinnere an den sehr spät durchgeführten Prozeß wegen des Mordes an Rosa Luxemburg (111) – , oder es erfolgte Freispruch. Wenn sich dagegen Arbeiter politisch etwas »zuschulden kommen ließen«, hagelte es Strafen noch und noch – so bei allen sogenannten Gewaltdelikten, dann in extensiver Auslegung dieser Gewaltdelikte wegen Landfriedensbruchs und Hausfriedensbruch bei Auseinandersetzungen in Versammlungen und schließlich bei der Teilnahme an Massenstreiks oder bei gewaltsamen Auseinandersetzungen wie nach dem Kapp-Putsch. Für die Justiz der damaligen Zeit war es selbstverständlich, daß sie Anlässe dieser Art benutzte, um hohe Strafen zu verhängen.“ (112)

(109) Freikorps waren gegenrevolutionäre militärische Verbände, die von Offizieren der alten kaiserlichen Armee gebildet und geführt wurden; vgl. Arthur Rosenberg, Geschichte Weimarer Republik, Frankfurt/Main 1961 S. 59 ff.; Emil J. Gumbel, Vom Fememord zur Reichskanzlei, Heidelberg 1962 S. 45 ff.(110) Vgl. Emil J. Gumbel, a.a.O. , S. 45 ff.(111) Vgl. Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Dokumentation eines politischen Verbrechens, hrsg. von Elisabeth Hannover-Drück und Heinrich Hannover, Frankfurt/Main 1967, S. 59-126(112) Vgl. Emil J. Gumbel, a.a.O., S. 46 f. ; Heinrich Hannover und Elisabeth Hannover-Drück, Politische Justiz 1918-1933, Frankfurt /Main 1966. (Für alle, die es nicht wissen, bzw. nicht wußten (so wie ich) heisst a.a.O= am angegebenen Ort!)

Vor 50 Jahren: DIE WIRKLICH WAHRE GESCHICHTE DER WALDE 81

Vor 50 Jahren: Die wirklich, wirklich, wahre Geschichte der Walde 81

Ich hatte nicht viel Zeit. An jenem Freitag im Februar. Februar 2020. Ein kurzes Foto und schnell wieder zurück. Zu Hause habe ich mir dann die Sache genauer angesehen. Erst war ich erschrocken. Dann erbost. Und dann habe gedacht: Sie haben es nicht verstanden. Sie dachten, sie haben die Fassade restauriert. Aber sie haben das Bild nur zerstört. Nach 45 Jahren. Nur ein Missverständnis? Wie kann das sein? Woher kommt es? Vielleicht kennen sie nur die Kurzversion: Ein besetztes Haus? Vielleicht verstehen sie mehr, wenn sie sich die Zeit nehmen für die lange Version? Wenn sie das Besondere verstehen. Das, was uns unterscheidet von ihnen heute. Und das alles nur, weil mich einer, der am Anfang nicht dabei war, einer aus dritten Walde Generation, gefragt hat, ob die erste Generation nicht was zum 50. Geburtstag der Walde 81 machen will. Der 50. Geburtstag wäre dann irgendwann im Sommer 2022.

Aus der Walde: Ein tragbares Bierfass (10 Liter), umgearbeitet zu einem Papierkorb. Gefunden im Juli 1972 im Haus Hotel Stadt Görlitz in der Waldemarstrasse 81 in SO 36, Berlin Kreuzberg. Als der Behälter noch als tragbares Bier Fass benutzt wurde, hatte die Waldemarstrasse eine andere Nummerierung. Hotel Stadt Görlitz, Waldemarstrasse 20, Telefon 66 65 11. Als Inhaber wird Otto Sauer genannt, was Sinn macht.

Korrektur 2022. Nein, eine andere Nummerierung hat es nicht gegeben: Waldemarstr. 20 war Waldemarstr. 20. Und Nummer 81 war Nummer 81.

Dieser Link hat uns den Weg zur Waldemarstr. 20 gezeigt: http://www.zwangsarbeit-forschung.de/Lagerstandorte/Kreuzberg/kreuzberg.html

Wenn man diesem Link Glauben schenkt, dann ist der gefundene Biereimer tatsächlich aus dem Hotel Stadt Görlitz, Waldemarstr. 20. Inhaber (1942-45): Otto Sauer. Damals genannt: Ausländerheim Hotel Stadt Görlitz, von AEG-AT gemietetes Hotel frühester Beleg 1.1.1942 bei einem Luftangriff am 14. April 1945 zerstört.

Dieser Otto Sauer hat vermutlich das Haus in der Waldemarstrasse 81 gekauft oder gemietet und hatte seine Habe u. a. auch den Biertransportbehälter mitgenommen.

Aber gibt es nach diesem offensichtlichen Missverständnis: Wir bleiben drin und wir bleiben alle, noch einen Grund sich zu treffen? Gibt es wirklich irgendwas zu Feiern? Vielleicht haben sie mit ihrer angeblichen >Restaurierung< alles verbockt? Vielleicht haben wir es auch verbockt, weil nicht alles in die Gegenwart gekommen ist, von dem, was damals so passiert ist. Vielleicht hilft ihnen die wirklich wahre Geschichte der Walde 81 weiter. Ihnen und letztlich auch uns. Damit wir einen Grund zum Feiern finden! Wie einfach wäre das Leben gewesen, wenn es so gewesen wäre, wie es übermittelt wurde. Einmal besetzen und fertig. Nein, so ist es nicht gewesen. So leicht hatten wir es nicht. Vielleicht wird es klarer, wenn wir die Mühen ausführlich schildern, die wir bei der Umsetzung hatten. Vielleicht macht es denen Mut, die heute vor einer ähnlichen Mühe stehen und sie noch scheuen.

Also kommt jetzt die wirklich wahre Geschichte der Walde 81. Ein Haus. Gemietet. Nicht besetzt. Ein Mietvertrag, der nach zwei Jahren endet, ausläuft. Ein Untermietvertrag. Ein Untermietvertrag, den man, mit dem Hauptvermieter gerne verlängern würde. Der aber nicht will. Der keine Mieter will. Der nur ein leeres Haus will. Ein Haus, dass man schnell abreißen kann. Ein Vermieter, der sich weigert zu vermieten. Sich weigert, weil hier mit dem Abriss das große Geld zu machen ist. Jeder Abriss, der ein paar Tage dauert, spült 300 TDM in die Kassen des Hauptvermieters. Einem Vermieter, dem man einen großen Brief auf die Hauswand schreibt, nachdem man schon so viele Briefe geschrieben hat, die nicht oder nur mit Nein beantwortet wurden. Ein Brief, damit es alle sehen können. Mit der einzigen Botschaft, die man hat: WIR BLEIBEN DRIN. Und jetzt heute. 2020. Fünfundvierzig Jahre später stellt sich die Frage: Wieso ist das damals gelungen? Das mit dem DRIN BLEIBEN?

Block 100 haben sie es genannt. Und den Block weg gehauen. Die Herren der Kugelbagger und der Wasserspritzen. Mit Kugelbagger und Wasserspritzen haben sie sich die Freiflächen vergoldet. Jede Lücke ist bares GELD für sie, so hatten sie und wir später auch, herausgefunden. Wieso konnte es dennoch gelingen, das Haus in der Walde 81 den Abrisskugeln zu entreißen?

Oft hatte der Gegner doch schon gezeigt, wie übermächtig er war! Damals in Kreuzberg. Mit Prämien wurden die Mieter ins Märkische Viertel gelockt: Weg von der Toilette, eine halbe Treppe tiefer. Weg von der Ofenheizung, mit den Briketts und Eierkohlen im Keller oder auf dem Dachboden.

Dann die >Zwischenmieter< ohne Rechte. Die Mieter zum Kaputtwohnen der Häuser: Studenten und Migranten. Die selten zueinander fanden. Und es manchmal dann doch gelang, dass gemeinsam an einem Strang gezogen wurde. Und auch noch in die gleiche Richtung. Nicht einfach so was. Nur mit Pinseln allein nicht zu schaffen.

Der Gegner, der Nicht-Vermieter, der sich über die wahren Machtverhältnisse von uns täuschen liess, die vor Ort herrschten. Hätten sie auch nur geahnt, wie kurz unsere Arme doch waren. Unsere Plakate kamen gut an. Ein einziges, gut gemachtes, hatte eine große Wirkung. Täuschend ähnlich den offiziellen Plakaten. Nur in wenigen Exemplaren fanden sie aufmerksame Beobachter. Und immer wieder gab es Richtigstellungen der Gegner. Nein, so sei es nicht. Es wäre so und so. Hätten sie geahnt, wie wenig aktive Menschen diese Plakat Fälschungen in die Öffentlichkeit gebracht haben. Sie wären mit ihren Gegendarstellungen nicht darauf eingegangen. Und erst diese Gegendarstellungen machten unsere Forderungen tatsächlich populär. Hätten sie gewußt, das da nur kleiner Haufen aktiv war, dann wären unsere Drohungen glatt verpufft. Und es waren ja auch keine ernsten Drohungen.

In Wahrheit hatten wir gar nichts zum Drohen, wenn wir am Telefon behaupteten, es würde etwas passieren, wenn nicht in 15 Minuten das Wasser in dem Haus gegenüber wieder angestellt wird, das sie im Auftrage gerade hatte abstellen lassen. Wir hatten nichts zum Drohen. Sie wußten nur, die Leute mögen uns und sie nicht. Aber die, bei denen das Wasser dann nach 15 Minuten wieder aus dem Hahn lief, die wurden unsere Freunde. Oder wenn sie mal wieder heimlich den Strom abgestellt hatten und die Mieter plötzlich im Dunkeln saßen und der entsprechende Anruf bei Ihnen ankam. Wenn nicht . . . dann. Ich kann es nur wiederholen. Eigentlich hatten wir nichts zum Drohen. Aber die Leute, denen wir auf diese Weise geholfen haben, zeigen sich dankbar.

Sie kommen und gewinnen Vertrauen. Zeigen Verständnis, Sympathie und was man ihnen zur Unterschrift vorgelegt hat. Oft, ohne jede gesetzliche Grundlage. Das solche Texte in die Öffentlichkeit gelangen, das wollen sie auf jeden Fall verhindern. Und weil ein seriöses Auftreten die halbe Miete ist, werden auch die ungesetzlichen Texte in den Mietverträgen immer seltener. So merken die Herren von der städtischen Gesellschaft BEWOGE, auf der anderen Seite wird ihr Handeln genau beobachtet. Beachten plötzlich Gesetze, von denen sie früher behauptet hatten, es gäbe sie gar nicht. Ersatzwohnraum muß nicht nachgewiesen werden. Solche Sätze werden jetzt vermieden.

Als sich das bei den Verantwortlichen herumgesprochen hatte, wurden unsere Anrufe oft sofort bis nach oben durchgestellt. Zu den Herren an der Spitze. Zwingelberg und Könnecke und wie sie alle hiessen, die sich da eine goldene Nase, natürlich nicht für sie selbst, verdient haben.

Und sieht man sich heute ihre >Hinterlassenschaften< an, ihre verfallenen Neubauten und vergleicht sie mit der unseren, so schneidet >unser Haus<, die Walde 81, nicht schlecht ab.

Unser Vertrag war im November 1974 ausgelaufen. Es gab einen Menschen in der Baubehörde, der fand unsere Gemeinschaft glaubwürdig. Und unterstützte uns. Er ist zwischenzeitlich verstorben und soll deshalb hier auch namentlich genannt werden: Hermann Hucke, Mitarbeiter in mittlerer Ebene der Wohnungsverwaltung. (Wir hatten ihm viel zu verdanken). Im Februar 1975 der vertragslose Zustand. Wir blieben drin. Nun war das Haus tatsächlich besetzt. Das Haus war verkauft worden. An wen, das wußten wir nicht. Und wir bekamen Unterstützung. Von vielen und einem, der sich mit den geltenden Gesetzen gut aus kannte.

Auch er, schon verstorben: Rainer Graff. Architekturstudent. Er und einige andere haben den Baum, der dann am 1. Mai 1975 auf die Hauswand gepinselt wurde, entworfen und sich auch darüber Gedanken gemacht, wie man die Bemalung ohne teures Gerüst hinbekommen kann. Mit Kreide wurden die Umrisse der Zeichnung auf die Fassade gebracht. 250,00 DM kosteten die Farben (gelb, grün, weiss) und einige Stunden bis das Bild fertig war und 45 Jahre seine Propagandawirkung verbreitete. Dreissig Leute aus dem Haus und der Nachbarschaft waren beteiligt.

Ich war befreit wegen Höhenangst und durfte mit der Kamera Aufnahmen machen. Es ist natürlich nur meine Wahrheit, die in diesem Text untergebracht ist. Aber vielleicht auch unsere Wahrheit. Das werde ich wissen, sobald ich diesen Text unter denen verbreitet habe, die damals dabei waren. Wer alt ist und rückwärts schaut, so wie wir, ahnt noch, das der Weg, der jetzt so klar hinter uns liegt, kein gerader Weg war. Als gerader Weg wäre er sicher nicht möglich gewesen. Er war ein Weg voller Zweifel. Mit Schrecken, die wir noch nicht ahnten. Doch auch mit viel Glück, für das wir nichts konnten. Das zwar erhofft war, aber dann doch mit Wucht auf uns nieder prallte. Im Ergebnis meist, rückwärts schauend, viel Bestätigung und Zuneigung.

Nein, ich hätte es nicht anders machen wollen und dahinter auch der Zweifel, dass der Weg anders nicht so steinig gewesen wäre, das manche, die den Versuch vorzeitig abgebrochen haben, besser daran gewesen sind. Einen Versuch der Klärung ist es allemal wert. Schon damit künftige Generationen, die Nutzen von unseren damaligen Tätigkeiten haben, nicht denken, dass dieser Weg ohne Mühe war. Dass man sich einfach davon lügen kann. Und bequem auf den Erfolg warten. Auf das Schlaraffenland. Oder gar, das das bequeme Leben auch die Kraft hat, anderen zum einem bequemen Leben zu verhelfen. Etwas zu tun für die, die einem Leid tun.

So wie die, die jetzt nach 50 Jahren in einer Genossenschaft wohnen, für die sie nichts können und sich deshalb in falscher Weise äußern über die, die ihnen diese Bequemlichkeit ermöglicht haben und deshalb zu der Ansicht gelangen, dass sie nichts zerstört, sondern nur etwas restauriert haben. Da müssen wir jetzt widersprechen. Nein sagen. Das haben wir nicht gemeint. Wir sprachen von uns. Und wir wollten anderen zeigen: Es geht. Es geht, wenn man etwas für sich selber tut. Das gibt auch anderen den Mut, etwas für sich selber zu tun. Eben trotzig zu behaupten: WIR BLEIBEN DRIN und nicht scheinheilig für andere zu behaupten WIR BLEIBEN ALLE. Eine Parole, die abgemalt ist und abgemalt klingt. Abgemalt in der Hafenstrasse in Hamburg.

Eine Parole, die vermutlich die Flüchtlinge meint, für die man etwas tun muss, damit sie nicht alle ertrinken. Nein, das war die Walde 81 nicht. Und das ist vermutlich auch der Grund, warum die Parole: WIR BLEIBEN DRIN dort 45 Jahre gestanden hat. Bevor der Text unter WIR BLEIBEN ALLE verschwunden ist. Fünfundvierzig Jahre sind eine lange Zeit. Und darauf sind viele von uns, die damals dabei waren, stolz.

Auch auf die Gefahr hin, das jemand äußert: Die sind ja nicht drin geblieben. Die sind ja alle ausgezogen. Die durchschnittliche Wohnverweildauer in der Walde 81 ist niemals berechnet worden. Vielleicht sechs Jahre? Für viele war diese Zeit prägend. Manche erinnern sich gerne, so wie ich. Manche erinnern sich mit Schrecken und würden es gerne ungeschehen machen und die ganze Sache vergessen. Die erste Besatzung der Walde 81 waren Menschen, die im Stadtteil Charlottenburg gemeinsam einen Laden gemietet hatten (In der Neuen Kantstrasse 31), in dem sie ihre Kinder gemeinsam betreuen wollten.

Kinderladen wurde das genannt. Ein leerstehender Laden wurde gemietet. Davon gab es damals viele. Umgebaut. Eine Zentralheizung wurde von uns eingebaut. Wer wollte schon jeden morgen im kalten Kinderladen im Winter den Kachelofen anmachen? Das waren Paare. Verheiratet oder nicht. Und Kinder in dem Alter zwischen 8 und 12 Monaten, die gerade laufen lernten. Dort lagen viele Hoffnungen. Nicht mehr zwangsweise auf dem Topf sich stubenrein sitzen müssen. Nicht rosa oder blau. Nicht nur Betreuung durch Frauen, sondern auch durch Männer, die den Kindern etwas beibringen sollen. Um dabei selbst auch gleich etwas zu lernen. Wissen, das vorher nur einem Geschlecht zugänglich war. Wir nannten das Ganze: Sozialpsychologischer Arbeitskreis Charlottenburg e. V.. Fortbildung, einmal in der Woche.

Zum Beispiel: Die Reinlichkeitserziehung. Als frühes Unterdrückungsinstrument des Bürger- und Kleinbürgertums. Die Rolle der Frau in der Beziehung der Geschlechter. Die Rolle des Mannes in der Beziehung der Geschlechter. Ehegefängnisse vermeiden. Wir wollten alles. Und das sofort. Aber erst mal musste die Heizung im Kinderladen finanziert und selbst gebaut werden. Einige Eltern aus diesem Kinderladen wollten, nachdem der in Schwung gekommen war, auch ihre persönlichen Wohnverhältnisse ändern und suchten ein entsprechendes Haus für ein solches Projekt. Ehegefängnisse an der Spitze der Bewegung. Erste Besatzung. Im Sommer 1972 war es dann so weit. Der Kinderladen lief einwandfrei. Wir hatten eine Erzieherin eingestellt und jede Woche einmal hatte jeder einmal in der Woche Kinderdienst.

Für mich war die Sache einfach, weil ich durch meinen Studienplatz an der dffb vieles möglich machen konnte. Für meine damalige Frau war die Sache schon schwieriger, weil sie eine Festanstellung hatte, wo man nicht ohne weiteres Kurzarbeit machen konnte. Doch für Studenten war die Sache einfach. Jedoch nicht für alle Studentinnen. Da gab es die Sorte Hausfrau, Mutter und Mann auf Arbeit. Aber auch: Nur Hausfrauen, die kaum Probleme damit hatten. Wir waren bunt gemischt. Sogar Menschen, die keine eigenen Kinder hatten, wurde der Zugang zum Kinderladen nicht versperrt. Sie kümmerten sich vorwiegend um die Vermittlung der Theorie.

Einer arbeitete als Bronzegießer in einer Kunstgießerei (Bildgiesserei Hermann Noack). Bronze und andere Buntmetalle. Die Firma gibt es heute noch. Aber er ist schon vor längerer Zeit verstorben. Keine besonders gesunde Arbeit. Wir fanden für Jeden, der mitmachen wollte, Lösungen. Lösungen, die alle zufrieden stellen sollten. In einem wöchentlichen Arbeitskreis holten wir fehlendes Wissen über die frühkindliche Erziehung nach und erarbeiteten zusammen Modelle, wie wir unsere Kinder anders erziehen wollten. Kinder, die demnächst fünfzig Jahre alt werden. Anders als in der herkömmlichen Erziehung. So, wie sie immer und überall praktiziert wurde und vermutlich auch noch wird. Jungs weinen nicht. Mädchen bekommen rosa Kleidung. Jungs blaue. Gib das schöne Händchen.

Auch die Beziehungen sollten sich ändern. Wir planten eine große Wohngemeinschaft. Bis eines Tages unser Kunstgießer aus Kohlhasenbrück mit einer Sonntagsausgabe der Berliner Morgenpost ankam. Oder war es die BZ? Seine Frau hatte die Anzeige von dem Hotel gefunden, das dort angeboten wurde. Von mir wurden damals beide Zeitungen, weil Springer, bestreikt. Bestreikt ist natürlich falsch. Nicht wahrgenommen. Nicht gekauft. Ich wurde der Freund des INFO BUG, später der Freund des ID für unterbliebene Nachrichten. Und Leser, das will ich gar nicht verstecken, der Frankfurter Rundschau und in der Walde auch Leser der täglich erscheinenden Wahrheit (Zeitung der SEW, was der Ableger der SED in Westberlin (in dieser Schreibweise) war). Was man vielleicht den Jüngeren erklären muss.

Die verschiedenen Parteien (links von der SPD) hatten 1972 eigene Parteizeitungen. Ein Fan des “Vorwärts“ (die Parteizeitung der SPD) hat es, meiner Erinnerung nach, in der Walde nicht gegeben. Auch die Zeitungen der studentischen (angeblich) kommunistischen Zeitungen hatten es in der Walde nicht leicht. (Gegenüber am Mariannenplatz dagegen, in dem Haus, in dem damals eine Apotheke war, gab es mehrere, studentische Wohngemeinschaften, die Anhängerinnen des KBW waren und die Linien, die der KBW so zog, auch mitzogen, was zu einer gewissen Unglaubwürdigkeit führte). Später hat der KBW dann ein Haus in der Oranienstrasse gekauft. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der KB (aus Hamburg) dagegen hatte hier in SO 36 nicht viele Anhänger und fand daher auch keine Verbreitung. Während das INFO BUG (die Zeitung der Spontis) aus der Stephanstrasse, das jede Woche erschien und für 0,50 Pfennig käuflich zu erwerben war, von mir gerne gelesen wurde. Besonders die Kleinanzeigen auf der letzten Seite. Auch unsere Anzeigen. Wenn ein Zimmer frei geworden war, oder auch, wenn ein Kind geboren war. Loretto, so war sein Spitzname, richtig hiess er Bernhard Koch, brachte uns jedenfalls diese Sonntagsausgabe der Berliner Morgenpost mit der Anzeige: Leeres Hotel in Kreuzberg zu verpachten. Den genauen Text der Anzeige weiß ich leider nicht mehr.

Aber irgend wie funkte die Sache. Das war zwar nicht unser Bezirk, aber unsere Geldbeutelgröße. Ein Hotel, was seit einiger Zeit leer stand, weil ungünstig gelegen. Am Rande der Stand. Dicht bei der Mauer. Im Sanierungsgebiet. Sanieren, so lernte ich, heißt >gesund machen<. (Wer sich dort wie gesund machte, das konnte man vor Ort hautnah erleben). Die Zimmer wurden billig an Fremdarbeiter vermietet, die sich nur zeitweise in der Stadt aufhielten. Ein Hotel mit 23 Zimmern (je nachdem, wie man zählt), einer Gemeinschafts Küche, einer Kneipe mit Zapfhahn, einem großen Esszimmer, mit einem Tisch, der zwanzig Leuten Platz bot, einem Badezimmer mit einer Badewanne, in einem Anbau Platz für die Waschmaschine und Wäscheschleuder und einem Keller, in den sogar eine Tischtennisplatte passte. Variabel ein Kinderzimmer im ersten Stock, wo der gemeinsame Mittagsschlaf der Kleinen organisiert werden konnte und sollte. (Später stellte sich heraus, die Kleinen wollten dort keinen Mittagsschlaf halten. Sie wollten mittags nicht schlafen, oder lieber bei ihrer Mama schlafen oder sein).

Die Fremdarbeiter waren jedenfalls irgendwie ausgeblieben. Es lohnte sich nicht mehr, das Geschäft mit den Fremdarbeitern. Im letzten Winter hatte man das Haus nicht mehr beheizt und dann vergessen, das Wasser der Zentralheizung abzulassen. (Damals gab es noch richtige Winter, mit Frost und so). Also fror das Wasser in der Heizung ein. Wasser kann viel Kraft haben. Besonders, wenn es einfriert. Das Haus mit dreißig Räumen hatte rund sechzig Heizkörper, die, aus Gusseisen, dem Frost nicht widerstehen konnten und geplatzt waren. Besonderheit dieses Platzens war es, dass erst das Tauwetter, die Heizkörper, die sonst recht stabil sind, platzen ließ, als die Temperaturen im Frühling wieder anstiegen. Man glaubt gar nicht, wie viel Wasser sich in so einer solchen Heizungsanlage mit halb Zoll Rohren befindet (Sechs Stockwerke inkl. Dachgeschoss und Keller) und so folgte den geplatzten Heizkörpern jede Menge Wasser mit den üblichen Wasserschäden.

Die Heizkörper waren im Sommer durch neue Stahlradiatoren von der Pächterin ersetzt worden. Die Pächterin, die noch einen zweijährigen Mietvertrag mit einer städtischen Gesellschaft hatte, behauptete uns gegenüber, die Schäden seien nun alle behoben, die Leckagen beseitigt, was wir jedoch nicht glauben konnten, weil die Anlage vorsichtshalber nicht wieder mit Wasser aufgefüllt worden war. Was tut man, wenn man 25 Jahre alt ist, Maschinenschlosser gelernt hat und sein Leben verändern möchte? Richtig. Man gründet einen weiteren Verein. Den Sozialpsychologischen Arbeitskreis Kreuzberg e. V., wählt einen Vorstand und lässt diesen einen Mietvertrag unterschreiben. Ein befristeten Mietvertrag, der am 1. Oktober 1972 beginnt und 30. September 1974 endet. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, denkt man. Aber dann doch nicht.

Monatliche Kaltmiete für die Untermieterin (also uns) 1.250,00 DM pro Monat. Heizkosten, Wasser, Strom und Gas für die Gasherde in der Küche kommen noch dazu. Man kündigt im Einvernehmen die Wohnung, (bzw. hinterlässt sie einem Studienkollegen der Filmakademie) im Horstweg Nummer 6, im Hinterhaus. Drei Zimmer mit Ofenheizung, Kachelöfen, die mit Brikett geheizt werden. In Charlottenburg, dicht am Theodor Heuss Platz, wo zu dieser Zeit die Filmakademie beheimatet war, wo man 1970 das Studium begonnen hat. Der Beschluss lautet: Nun wird sich alles ändern.

Das erste, was sich änderte, waren die Temperaturen. Wir sind noch nicht eingezogen und es gibt im Oktober einen ersten Kälteeinbruch. Wir befüllen die Heizungsanlage, deren Kessel sich unter einer Garage im Nebenhaus befindet, mit Wasser. Und stellen fest, Leckagen überall. Schweißarbeiten sind nötig. Kein Problem. Zwei Personen bringen entsprechende Fähigkeiten mit. Dennoch wird die Sache aufwendig, weil nach jeder Leckage erst mal wieder das Wasser wieder raus muss, bevor die Reparaturarbeiten fortgesetzt werden können. Wir arbeiten uns vor, von unten nach oben. Im dritten Stock angekommen, wird eine Pause eingelegt. Im ersten Stock ist eine Frau aus unserer Gruppe dabei, mit Hilfe eines Zollstockes den Raum in der Mitte auszumessen, obwohl wir die Räume noch gar nicht verteilt haben. Klar ist nur das Erdgeschoss, das Gemeinschaftsraum werden soll.

Ich bin empört. Aber nur innerlich. Ein paar Monate später zieht sie wieder aus. Aus dem Zollstockzimmer. Mann und Kind nimmt sie mit. So schnell kanns gehen. In der Küche bauen wir über den Herd noch einen großen Lüfter ein und dann bringen unsere Möbel in die Walde 81. Geheizt wird mit Koks, den wir später mit gemeinsamen Blutspenden bezahlen. Und jeden Tag gibt es ein Abendessen. 50,00 Mark kommt jeden Tag in die Essenskasse. Frühstück und Abendessen (warm). Zwei Personen kaufen ein und kochen. Dort kommen auch die berühmten Mehlbeutel zu Einsatz. Und die gebratenen Heringe, die sauer eingelegt werden. Manchmal gibt es Napfkuchen mit Rosinen am Sonntag. Einige nennen es Gugelhupf.

Und immer wieder Plenum und Neuaufnahmen, wenn Personen das Weite gesucht hatten und Zimmer neu zu besetzen waren (Das erste Mal nach gefühlten drei Monaten). Die Kinder werden am Morgen mit einem Fahrzeug in den Kinderladen nach Charlottenburg in die Neue Kantstrasse gebracht. Später mit einem gemeinsamen VW Bus. (Ein Lottogewinn, dem mühsam ein neuer Unterboden eingeschweißt wird, wegen durchrosten).

Damit dieses Wissen von damals nicht verschwindet, ist es an der Zeit, 48 Jahre nach dem Beginn, endlich aufzuschreiben, wie das alles anfing. Das hier ist der ist nur ein Teil, der den ersten Mai 1975 mit einschließt. Bis zu meinem/unserem Auszug 1978. Eben die Verweildauer von sechs Jahren. Der Auszug hatte bei uns nichts mit der Waldemarstrasse 81, sondern eher mit der Stadt Berlin zu tun. Überall nur Opas, Omas und Studenten. Kein richtiges Leben. Wir ziehen in anderer Formation aus, als wir eingezogen sind. Seither trinke ich morgens meinen Kaffee immer nur aus großen Bechern.

Hamburg, d. 20. März 2020/ 15. Mai 2022 Jens Meyer

5. Mai 1975

Fotos Helmut Schönberger, Jens Meyer

Foto Helmut Schönberger
Foto von Helmut Schönberger: Die Kinder aus der Nachbarschaft.

Geboren am 6. Oktober 1935. Interview mit Walter T.

Interview mit Walter T. am 29. März 2011 (10.198 Zeichen) Geboren am 6. Oktober 1935 J.M.: Wann genau sind sie geboren?

W.T.: Am 6. Oktober 1935.

J.M.: Erinnern sie da aus ihrer Kindheit noch irgendwas, was sie da noch erlebt haben? War das schon hier in dieser Siedlung?

W.T.: Ich hab hier . . . also in dieser Siedlung nachdem ich aus der Klinik gekommen bin mit meiner Mutter gelebt bis . . . ich zu meinem Vormund gekommen bin . . . Und da war ich also . . . da war ich neun . . . vorher war ich . . . wie die Verhaftung war ich achteinhalb. J.M.: Wann war genau die Verhaftung?

W.T.: Müsste ich in irgendwelchen Sachen gucken . . .

J.M.: Steht auch vorne an der Tür . . . das war 1944 . . .

W.T.: Das war 1944, das war im Frühjahr.

J.M.: Wie alt waren sie da?

W.T.: Da war ich achteinhalb.

J.M.: Achteinhalb . . . und entsinnen sie da noch irgendwas? Auch vorher noch was, was sie so als Kind noch erlebt haben oder so ?

W.T.: Also hier in der Berner Siedlung war ja . . . praktisch sone Insel, wo es nicht ganz so schlimm war . . . umging . . . ich weiß wir mußten irgendwann kriegten wir son Ding an die Hauswand, da mußten wir dann zu bestimmten Tagen ne Fahne reinstecken, meine Eltern hatten aber kein Geld für ne Fahne, ham sie gesagt, ne und ham sich denn . . . so ein . . . das kleinere häßliche zusammengenäht . . . nur um der Vorschrift genüge zu tun . . . das sind so Sachen . . . also das da denn sowas hing, warum sie ne kleinere, das hab ich natürlich nicht erst später . . . hintergekommen. Man macht sich ja also auch nicht so viel Gedanken . . . als Kind . . . da hat man andere Probleme . . . denn die Probleme, die die Erwachsenen hatten, mit dem Regime, da erfuhren wir nichts von. Durften wir nichts von erfahren, denn es war ja so . . . Spielkameraden wo . . . die aus dem Hause wo also NS begeistert waren und wenn ich mit dem über was geredet hätte was ich wenn ich was gewußt hätte . . . dann hätte der das seinen Eltern . . . und dann wär das schlimm gewesen. In der Schule waren also einige der Lehrer auch darauf aus die Kinder in die Richtung auszufragen, abzuklopfen vor allen wo man wußte, aus welchem Haus sie kommen . . . Mein Vater war hier im Gemeinderat und da wußte man natürlich, wo er steht, politisch und wurde man natürlich angebohrt von Lehrern . . . hab ich es bewußt nicht mitgekriegt ich konnte ja auch nichts sagen, weil ich nichts wußte. Das war also bewußt. so . . .

J.M: Haben ihre Eltern dieses Haus gebaut? Oder ?

W.T.: Nein dies ist eine Genossenschaft . . . eine . . . in den zwanziger Jahren gegründet . . . wurde . . . der sogenannte Gartenstadtgedanke . . . war geplant . . . das wurde also sehr viel in Eigenhilfe gemacht und das man dann später das in eigen ist es als übernehmen konnte. Und denn kamen aber die erste große Wirtschaftskrise und dann ging das nicht mehr und dann wurde das in eine Genossenschaft umgewandelt . . . ich meine, das gesagt wurde da . . . hat hier . . . je . . . eine Sparkasse oder die . . . na wie heisst sie noch die Landwirtschaftliche Geschichte . . . die hat also hier . . . auch im . . . im Buut (?) und auch am Bahnhof und so weiter auch noch die Felder zum Teil noch bewirtschaftet über einen Pächter und die haben also . . . Geld auch reingeschossen und dann Genossenschaft . . . es wird also nie mehr Eigentum Es wurde hier sehr viel in Eigenhilfe gemacht, die Strassen zum Teil wurden planiert und mit Grand und so weiter . . . Asphalt und so was gabs damals ja alles oder war nicht nötig, kamen paar Begrenzungssteine und das wars dann. Es wurden zum Teil für die Fussböden noch aus dem Wald der zum Teil noch . . . was gerodet wurde, zum Teil sollen Fußbodenbretter selbst gesägt worden sein, die anderen, die Häuser, die da hinten sind, diese Putzbauten da haben sie also selbst Mauersteine gebacken, in der Scheune, wo jetzt das Volkshaus ist, da war ne Scheune und da wurde zum Teil also die Steine selbst fabriziert und denn verbaut, also sehr viel in Eigenhilfe . . . aber . . .

J.M.: Was war ihr Vater von Beruf?

W.T.: Der war Dreher. Heute heisst das ja Zerspanungstechniker . . . ja das hat alles ja neu Namen. Naja, er war also Dreher. Hat also gelernt bei der Vulkan Werft . . . oder . . . nen Tochterunternehmen . . . oder was weiss ich . . . mein Großvater kam aus Stettin von der Vulkan Werft . . . als Schmied und ob er nun hier sich her nach Hamburg beworben hat oder versetzt wurde, weiß ich nicht. Ich konnte ihn nicht mehr fragen. Also, der ist bevor ich geboren wurde ist der schon verstorben und wenn man anfangt sowas zu fragen , dann wäre er ja noch älter gewesen. Ne also, der war Schmied und seine drei Söhne, die mit her gekommen sind, der eine war auch Dreher und der andere war Tischler, der hat nachher . . . hier in Hamburg im Hamburg im Arbeitsamt war er tätig, hat die Tischler betreut . . . nach dem Krieg, ja das war also . . .

J.M.: Und ihre Mutter, hat die auch einen Beruf gehabt?

W.T.: Ja, die war Kontoristin . . . sagt man dazu . . . hat man das früher wohl genannt, die hat also im Büro gearbeitet . . . und zwar in verschiedenen gewerkschaftlichen Sachen . . . in . . . das hab ich aber auch dann nur gehört . . . in Bäckerverband und nachher auch im Transportarbeiterverband und hat über die Gewerkschaftsbund also bei der Gewerkschaftsarbeit meinen Vater näher kennengelernt, der also bei der IG . . . bei der Metallarbeiterverband hiess das früher . . . Metallarbeiterverband auch ehrenamtlich tätig war so nebenbei . . . Gewerkschaft . . . den

J.M: Wissen sie noch, wo er zuletzt gearbeitet hat ?‘

W.T.: Das hiess Spillingswerk, was die gemacht haben, weiss ich nicht. Ich war mal mit meiner Mutter da und es war ja als Kind natürlich faszinierend, wenn da diese Stahlspäne so vom Drehstahl . . . vom bunten . . . sich so langsam durch den Raum schlängeln so . . . so das war also ganz interessant, aber was er da gedreht hat . . . es muß . . . im nachhinein kann man das so vermuten . . . also in der überwiegend in der Rüstung gewesen sein . . . denn er war uk gestellt . . . nannte sich das ja damals . . . also unabkömmlich im Wehrpass war abgestempelt . . . er mußte also in der Rüstung . . . vermutlich . . . oder für die Rüstung arbeiten.

J.M.: Ihre Eltern waren in der Kommunistischen Partei, oder?

W.T.: Ja, also mein Vater, soviel ich entnehmen konnte, was man so hört, liest oder noch gefunden hat, ja, meine Mutter kam aus der SAJ, das war die sozialistische Arbeiterjugend, die Jugendorganisation der SPD . . . die Kinder, die da vor waren, das nannte sich Kinderfreunde und ab einem gewissen Alter war es die SAJ , nach dem Krieg die Falken . . . das ist also . . . naja. Sie ist denn nachher aber in der USPD gewesen und von da aus nachher auch in die KPD. Also so. Ob sie vorher in der SPD war, weiss ich nicht . . . als Kind interessiert man sich nicht und fragt da nicht nach und weiss gar nicht was das ist. So ungefähr. Also das immer nur so im nachhinein, was man denn so zum Teil gefunden hat in Schriften und so weiter oder . . .

J.M.: Als ihre Eltern verhaftet wurden, da hatten sie ja gesagt, das hätten sie noch miterlebt. Also . . .

W.T: Ja

J. M.: Können Sie das noch mal schildern?

W.T.: Ja, also mein Vater . . . der wurde von der Arbeit abgeholt, der ist gar nicht mehr erst nach Haus gekommen. Und meine Mutter . . . wir hatten ja auf der Strasse . . . Stück weiter . . . Fußball gespielt . . . mit nen paar . . . und denn kam hier n Auto . . . kam hier ein Auto vorbeigefahren . . . ich glaub das war Wanderer war das . . . son komisches W war da vorne . . . habe ich also nachher erst . . . das das so einen Typ gab . . . ne . . . und denn stiegen zwei Männer in langen braunen . . . schwarzen Ledermänteln aus und gingen ins Haus . . . da wird man natürlich neugierig und guckt . . . aber naja . . . aber dann haben wir aber weitergespielt und dann hat meine Mutter mich reingerufen . . . und denn sassen die beiden Kerle da und . . . Bücherstapel . . . Bücherschrank leer geräumt. Radio hatten sie mitgenommen . . . oder da erst mal hingestellt . . . nachher mitgenommmen und dann also ich . . . wenn ich so die Körpersprache meiner Mutter . . . war Alarmstufe für mich . . . ich konnte das nicht . . . irgendwie sagen, was das nun ist . . . aber ich wußte das Alarmstufe Vorsicht . . . dann hat man versucht, mich auch auszufragen . . . nach Onkel Max . . . das war der Max Heykendorf, der untergetaucht war . . . den sie gesucht hatten . . . da hatten sie nachgefragt . . . und noch einen . . . einen . . . einen Bruns oder Brun, aber den kannte ich gar nicht, der soll aber hier auch übernachtet haben und untergeschlüpft sein und tagsüber war er denn irgendwo anders so . . . aber das habe ich als Kind nicht mit gekriegt. Ich weiss nur, dass wir da oben ne Abseite hatten und . . . .

J.M.: Unterm Dach?

W.T.: Unter der Dachschräge war ne Abseite, die hab ich jetzt rausgenommen, damit der Raum grösser wird . . . aber (lacht) und da war so ne Ausbuchtung von dem vorderen Fenster und da konnte man so rumkriechen und dahinter . . . da haben denn auch welche übernachtet . . . in der Anfangszeit . . . was ich noch genau . . . also . . . das hat man mich ausgefragt nach allem möglichen aber . . . weiss ich nicht . . . weiss ich nicht . . . das war . . .

J.M.: Wissen sie noch wann das genau war? Das war ja sicher lange bevor sie ermordet worden . . . sag ich mal so? Oder welche Formulierung haben Sie dafür?

W.T.: Bitte?

J.M.: Lange bevor Ihre Eltern ermordet wurden, nehm ich mal an . . . war das ja?

W.T.: Ja das war an dem Tag, an dem sie verhaftet wurden. Sie sind also Anfang 44 . . . ja dann haben sie . . . dann hat meine Mutter gesagt . . . ich muß jetzt mal mitfahren mit dem Auto, die haben Bücher und Radio eingepackt . . . und Du gehst rüber zu Frau Lübcke, die wohnte denn in Nummer 23 und heute abend dann kommt Tante Erna, die war mit ihrer Tochter, die waren ausgebombt in Habichtstrasse Barmbek, da in der Ecke ham die gewohnt . . . Dieselstrasse . . . waren ausgebombt . . . die hatten wir dann hier aufgenommen . . . der Mann war als Soldat irgendwo an der Front . . . und die war aber mit ihrer Tochter in Hamburg gewesen, hatten da Verwandtenbesuche gemacht und sollte erst abends nach Haus kommen. Ob . . . und das sind so Vermutungen . . . die man hat sie bewußt da zu irgendwo zu jemand hingelockt, damit sie nicht hier ist . . . es sind nur Vermutungen . . . das kann man nicht . . . sagen das das so war . . . wird so zum Teil so vermutet . . . ne das man sie bewußt hier nicht haben wollte . . . he . . . die Beamten . . . die Bekannten, da irgendwo nen Tipp gekriegt haben . . . lad die doch mal ei . . . so ungefähr . . . weiss ich nicht . . . kann sein . . . ja und denn . . . kamen die nachher abends rüber und ich wieder her und denn hab ich meine Eltern nie wieder gesehen . . . also . . . das war also . . . mann . . . zu Anfang ist das ja so, da denkt man . . . naja die kommen wohl irgendwann wieder . . . aber was . . . also man weiss denn auch nicht . . . man macht sich Gedanken . . . warum und weshalb . . . warum sind sie nicht da. warum kommen sie denn . . . so ungefähr . . . warum lassen sie mich hier allein . . . solche Gedanken hat man als Kind . . . denn natürlich . . .

J.M.: Waren sie ein Einzelkind? Oder waren da noch Geschwister?

W.T.: Ich war als Einzelkind übrig geblieben. Ich hab also einen älteren Bruder gehabt, der noch vor meiner Geburt gestorben ist. Damals war ja die Kindersterblichkeit relativ groß . . . oder größer wie jetzt . . . er hatte irgendwie . . . ne Krankheit . . . irgendwo . . . mit Durchfall und was weiss ich nicht alles . . . und hat das also irgendwie vielleicht auch . . . nach damaligen Gesichtspunkten . . . nicht vielleicht nicht ganz richtig behandelt oder wie oder was aber er ist verstorben und meine Schwester, die nach mir geboren wurde, die ich also nur gefühlt hab, wie sie im Bauch gestrampelt hat von meiner Mutter . . . das durfte ich dann auch, guck mal das hier . . . das ist dein Bruder oder Schwester . . . wußte man damals noch hatte ja damals kein Ultraschall . . . also naja . . . die ist aber aus dem Krankenhaus gar nicht rausgekommen. Da waren also . . . das Herz soll auf der falschen Seite gewesen sein und noch ein paar organische Schäden, die also . . . nicht überlebensfähig waren . . . und somit bin ich praktisch der einzigste der nachgeblieben wurde . . . entsprechend natürlich verpiepelt von meiner Mutter. Kann man sich vorstellen . . . ne, zwei verloren, jetzt müssen wir aber aufpassen . . . ne . . . ich weiss, da hatten wir so komische lange Strümpfe noch bis fast in den Sommer rein. Ich war kaum um die Ecke habe ich sie runtergekrempelt . . . (lacht)

J.M.: Oder das Leibchen . . .

W.T.: Das Leibchen und diese Hemdhosen . . . das waren die Leibchen und mit den Gummibändern . . . die wurde sofort abgemacht . . . und auf dem Rückweg wieder . . . aber so Sachen . . . gut das waren so Sachen . . . woran ich mich also recht genau erinnern kann . . . hier hinten auf dem Hof . . . jetzt ist der Schuppen . . . weg . . . . . . da stand son Schuppen dahinter war n Birnbaum und drunter . . . hinter dem Schuppen und rundherum waren Johannisbeerbüsche gepflanzt und in der Mitte war Rasen . . . so da konnte man Sitzen, ohne gesehen zu werden und waren hin und wieder immer Diskussionsrunden. Da kamen Leute, die ich nicht kannte . . . also . . . aber eine Person, die war also . . . weil sie entsprechend etwas größer war wie die anderen und . . . hat mich irgend wie fasziniert . . . das war der Adolf Kummernuß . . . der spätere ÖTV Vorsitzende . . . der Adolf Kummernuß . . . der kam mehr aus der aus der sozialdemokratischen . . . Richtung und hier waren also auch Kontakte zwischen den . . . obwohl die sich ja ne zeitlang . . . was zwar idiotisch war . . . aber gut . . . praktisch bekämpft hatten in der Hoffnung das . . . das sie nachher über die Stärkeren sind, wenn das . . . der andere Spuk vorbei ist, aber der andere Spuk ist stärker geworden, weil sie sich zum Teil selbst behindert haben . . . also hier war so ne kleine Kontaktstelle . . . ich weiss das von anderen, die hinterher gesagt haben, ja . . . ich wir haben da auch immer mit deinem Vater und mit deinen Eltern diskutiert und so weiter . . . Ich weiss auch, dass einige, die damals bei der KPD waren . . . also hinterher . . . nachher gesagt haben, ne also was die Kommunisten in Rußland machen gefällt uns nicht, die sind dann nachher bei der . . . so ähnlich wie Herbert Wehner, die sind dann nachher bei der SPD gelandet . . . solch gibt . . . so einer, der hatte mich darauf hin mal angesprochen. Aber also hier also war ne kleine Kontaktstelle und hier kamen auch . . . und die die nach dem Krieg also auch hin und wieder . . . noch wieder für mich gesorgt oder oder oder Behördensachen erledigt undsoweiter . . . die Gertrud Meyer. Gertrud Meyer, die hat ja Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand mit der Ursel Hochmuth geschrieben. Die Gertrud Meyer, die war mit unseren Eltern befreundet, die kam hier öfter und wir waren auch da zu Besuch ja . . . die hat da

J.M.: Haben sie später mal rausgefunden . . . wie das . . . das war ja wahrscheinlich die Gestapo, die mit den grünen Mänteln . . . wie die da drauf gekommen sind?

W.T.: Es gibt dort verschiedene Versionen oder Vermutungen. Und die Vermutungen wer dahinter stecken könnte habe ich nie rausgekriegt, das hat man mir verweigert . . .

J.M.: Die Akte?

W. T.: Ne, habe ich nicht gesehen.

J.M.: Aber es gibt eine?

W.T.: Ja wahrscheinlich, die Verhörsakte . . . hab ich nicht gesehen. Ne ich wollte also gerne wissen, wer sie angeblich verpfiffen haben sollte. Gingen hier Gerüchte in Berne rum, aber wenn ich fragte, sie wissen es nicht. Sie hatten wahrscheinlich Befürchtung das ich dann irgendwie . . . hochkommende Rachegefühle hab und dann da . . . aber gut. Das ist also . . . mein Vater gehörte zu den Leuten, die kein Blatt vorn Mund nahmen und es ist so, wenn der in der Hochbahn sass und kam von der Arbeit und da war einer den kannte er gut aus der Bewegung heraus oder so, dann fing er an mit dem zu diskutieren und das war immer zieml . . . für die anderen oha Mensch Richard sei ruhig so ungefähr . . . und manche sind also wenn sie gesehen haben, dass er in die U-Bahn eingestiegen ist, in den nächsten Wagen gegangen, um . . . nicht der Gefahr ausgesetzt zu sein dass da irgendwelche Leute was mithören und sofort hinlaufen. Es kann also sein, daß diese . . . ja ich weiss nicht ob das mutig ist . . . vielleicht auch schon leichtsinnig zu bezeichnen, dazu geführt hat, dass ihn irgendeiner angezeigt hat. Meine Eltern aber . . . es gibt eben auch die andere Version, sie haben ja an dieser Widerstandsgruppe Bästler Jacobs Absagen, mit der Gruppe haben sie zusammen gearbeitet oder waren da mit bei und da soll einer . . . einen der gegen Franko gekämpf hat, ein Spanienkämpfer, der soll da gefangen genommen worden sein, umgedreht worden sein und hier nach Hamburg geschickt worden sein, und der war denn als Maulwurf hier und hat dann verschiedene Sachen hochgehen lassen. Das ist die andere Version.

J.M.: Hatten sie auch mal versucht, das rauszukriegen, da irgendwie im Staatsarchiv oder so?

W.T.: Ne ne ich bin . . .

J.M.: Es ist ja vielfach so gewesen, dass die Gestapo nicht so gut organisiert gewesen ist, nicht so viele Spitzel hatte, wie es der Staatssicherheitsdienst in der DDR hatte . . . Das die meisten durch Denunziation aufgeflogen sind.

W.T.: Es ist möglich, das die Version mit diesem Spanienkämpfer scheint mir wohl die richtige zu sein. Ich weiss das nicht. Denn die wußte ja auch verschiedene Namen und nach denen er gefragt hatte undsoweiter.

J.M.: Hat es denn einen Prozeß gegeben?

W.T.: Nein, es ist ohne Prozeß . . . sie sind ohne Prozeß . . . sind auch nicht hingerichtet worden . . . offiziell . . . mein Vater hatte es . . . durch die viele Arbeit und schlechte Ernährung . . . er hat nachher in Neuengamme, aus einem Brief geht das hervor, der er geschrieben hat . . . meinen Großeltern, dass er wieder als Dreher arbeitet . . . und mit Neuengamme, das habe ich dann auch mal wieder gehört und gelesen hatte Mauser mit Häftlingen zusammen gearbeitet . . . also da hatte er wieder als Dreher gearbeitet . . . Mauser war ja Waffenhersteller, nicht nur Schieblehren, sondern auch Waffen . . . also.

J.M.: Schieblehre hab ich ja noch.

W.T.: (lacht) Ja, ja der hat auch Waffen, Pistolen und Gewehre und so was gebaut.

J.M.: Im KZ?

W.T.: Im KZ oder ausserhalb, denn wurden sie eben irgendwo hingebracht in die Werkstatt und denn abends wieder zurück. Da ist er also krank geworden und ist angeblich an der Krankheit verstorben, ob er jetzt nun auch Folter ausgesetzt war in Verhören, wissen wir nicht. Es ist zu vermuten. Bei meiner Mutter war das so sich an Verführers Geburtstag erhängt haben, am 20. April war das glaub ich soll sich am 20. April am Bettgestell erhängt haben. Es gibt da eben Sachen . . . die sagen, man wollte sie erpressen, wenn sie nichts sagt, dann komm ich ins Heim, damit wollte man sie erpressen. Sie wollte aber nichts sagen. Das ist die einer Version und die andere Version ist an diesem Tagen wurde unter den Wachmannschaften heftig gefeiert und gesoffen und da kam es zu Übergriffen. Weiss ich nicht. Fuhlsbüttel. War ja Frauengefängnis und meine Tante, in dem Haushalt bin ich ja auch groß geworden, sein Vater war denn noch mein Vormund

(Ende Band 1)

(Band 2)

J.M.: Wo waren wir? Bei Detlev.

W.T.: Ja, also bei meiner Tante, die war mit ihren Eltern . . . also mit meinen Großeltern zusammen noch zu Leichenschau . . . und die hat gesagt . . . so sieht keiner aus, der sich erhängt hat. Weil sie auch schon . . . mal praktisch . . . Erhängte gesehen hat. So kann . . . ne . . . die muß anders umgekommen sein. So . . . aber wie, weiss man nicht . . . das war . . .

J.M.: In welcher Schulklasse waren sie als ihre Eltern abgeholt worden sind ?

W.T.: Ich war ja in der zweiten . . . hier in der Berner Schule . . . so ich war also in der Berner Schule . . . der Lehrer, den wir hatten, der schien ziemlich . . . naja . . . neutral zu sein, aber ich weiss das nicht genau, der war . . . der war hier mit einigen zusammen in der Klasse, die immer noch in Berne wohnen . . . früherer Sportsamtsleiter Heiner Widderich . . . der wohnte hier am Ende Moschlauer Kamp . . . oder . . . Rudolf Burack,

der Betriebsrat im Springer Verlag nachher war, mit dem waren meine Eltern auch befreundet und der Vater war aber im Krieg gefallen naja also, hier bin ich groß geworden . . . und ja wie das mit meiner Mutter dann . . . weiss ich nicht . . . also . . . das war eben . . . so offiziell, soll sie sich erhängt haben . . . und na . . . man weiss es nicht . . .

J.M.: Denen ist ja eigentlich nix zu glauben.

W.T.: Ja . . . nach dem Krieg hat sich denn der Adolf Kummernuß auch ein bißchen drum gekümmert, der hat dann über die . . . ÖTV, wie sie dann nach dem Krieg . . . mir eine kleine Zusatzrente . . . 50,00 Mark im Monat oder so hab ich da gekriegt . . . das weiss ich noch . . . bis ich dann selbst in die Lehre kam und denn . . .

J.M.: Was haben sie da gelernt?

W.T.: Ich hab ja . . . heute nennt sich das Konstruktions Mechaniker

J.M.: Maschinenschlosser?

W. T.: . . . Stahlbauschlosser

. . . beim Kampnagel. Den Kranbau.

J.M.: Hatte ich auch Leute, die in meiner Berufsschulklasse waren von Kampnagel. Ich hab doch HDW gelernt.

W.T.: Bei Kampnagel habe ich gelernt und denn bin ich vorher hin noch mal zum Gewerkschaftshaus . . . mich bedankt . . . hab ich zum Abschied noch ne Armbanduhr geschenkt bekommen . . . und die Frage war, was machst du, was lernst du auch bei Kampnagel . . . bist denn schon in der Gewerkschaft . . . ich sach . . . ne noch nicht, aber das ist für mich also ganz klar..und denn sagte er . . . Moment, denn is er runtergegangen . . . kam er wieder mit Mitgliedsbuch . . . März schon bezahlt . . . April mußt du selbst bezahlen, sagt er, denn bist du in der Lehre . . . denn bin ich also gleich ab ersten Tag in die Gewerkschaft . . . ich bin also . . . es hat bei mir . . . wollen wir mal ein büschen zurückblenden . . . ich war ja hier . . . nachdem mein Vater verstorben war . . . mußte mein Onkel, mußte einer die Vormundschaft übernehmen . . . das hat mein Onkel gemacht . . . und dat güng aber nur , wenn ich da wohn . . . so . . . und nun ist das

J.M.: Das war jetzt Detlevs Vater?

W.T.: Detlevs Vater . . . und hier dieses Haus . . . was also meine Eltern . . . man muß sagen . . . die Satzung sagt, das Nutzungsrecht in grader Linie vererbbar . . . So nun war ich Erbe für dies Nutzungsrecht . . . in vielen Gartenhäusern wurden eben auch Verfolgte rausgeschmissen und wurden Nazis reingesetzt . . . hier hat der damalige Geschäftsführer . . . ich glaub Ahrens hiess der . . . oder so . . . aber . . . bin ich nicht ganz sicher, gesagt, nein (klopft auf den Tisch dreimal) . . . das schreiben wir auf den Namen von Walter T. . . nur ich war nicht wohnberechtigt . . . und ich wohnte ja auch gar nicht mehr . . . ich wohnte ja bei meinem . . . Dings . . . und denn hatten wir ja aber die Ausgebombten noch wohnen und dann nachdem . . . deren Häuser . . . die haben dann also hier gewohnt . . . praktisch als Untermieter bei mir . . . komische Konstruktion . . . aber . . . das ist wieder die andere Seite, es gab auch bei den Nazis vernünftige Leute . . . oder . . . oder . . . vernünftig kann man da nicht sagen . . . vernünftige Leute sind keine Nazis geworden . . . aber, es gab also Leute, die bißchen humaner waren . . . ne das kriegt der Sohn und so weiter . . . und deswegen bin ich nachher . . . wie ich geheiratet habe, gleich wieder hier rein . . . so lange habe ich bei meinem Onkel und Tante gewohnt . . .

J.M.: Entsinnen sie noch wie man sie als Kind behandelt hat? Weil ja wahrscheinlich bekannt war . . . dass.

W.T.: Also hier in der Berner Schule war das natürlich bekannt. Aber in dem Moment . . . also von der Verhaftung im Frühjahr bis zum Herbst . . . bis zum Tod meines Vaters war ich hier noch an der Schule und dann kam ich nach Oldenfelde . . . weil mein . . . die wohnten damals in der . . . heute heisst sie Wolliner Strasse . . . früher hiess sie Farmsener Strasse . . . wohnten in der Farmsener Strasse und von da sind wir in der Oldenfelder Schule mit meinem Cousin . . . mit Detlevs . . . ja Detlev ist der jüngste, da ist der zweitjüngste Bruder . . . in einer Klasse . . . der ist also ja . . . vier Monate jünger wie ich, ich bin im Oktober und er ist im Februar geboren nich . . . also . . . waren wir in einer Klasse und da wußte das keiner . . . und den Lehrern hatte man das halt eben nicht gesagt . . . die Eltern sind . . . im Krieg umgekommen . . . um . . . damit ich von einigen . . . und wir hatten da eine Lehrerin, das war . . . die war so nicht ganz . . . die hat man zwar nachher übernommen, weil es keine anderen Lehrer gab . . . aber . . . das war sone Nazi Tante . . . aber . . . wußte man das halt nicht erzählt. Und denn sind wir, als denn meine Großeltern starben . . . also die Eltern von Detlevs Mutter . . . wo wir vorher gewohnt hatten in der Wolliner Strasse . . . das war der Vater von Detlevs Vater . . . und der hatte . . . sein Vater hatte noch zwei Schwestern . . . die eine wohnte aber in drüben in irgendwo . . . Riesengebirge . . . ist aber denn mit Krieg oder mit hergeflüchtet und die andere war hier irgendwo in Norddeutschland Krankenschwester und da hatten sie also erst den Vater von meinem Onkel . . . praktisch hat meine Tante mit versorgt . . . der war ja allein, er war Witwer . . . aber wie denn mein Großvater starb . . . also von Detlevs Mutter der Vater dann konnte meine Oma da am Knill . . . mit dem Haus und Garten nicht alllein zurecht kommen und denn haben sie gesagt, denn ziehen wir dahin . . . und denn bin ich nach Farmsen zur Schule gekommen. Ich weiss sie hatten . . . um jetzt noch mal wieder auf Schule zu kommen . . . einen Lehrer hatten wir . . . das war ein Fachlehrer . . . ich sag nicht, was der immer unterrichtet hat . . . jedenfalls hatten wir bei dem Physik oder Chemie oder irgend sowas . . . und wenn der aus dem Lehrerzimmer kam . . . riß er die Tür auf: Heil Hitler, dann machte er die Tür zu, guten Morgen Jungs . . . (lacht) also der . . . der mußte nach aussen hin . . . das sind so Sachen . . . so einzeln Sachen, die . . . sind dann irgendwo . . . das sind Erlebnisse . . . die hat man gespeichert . . . und das weiss ich noch . . . ja und und den Lehrer, den wir dann in Farmsen hatten, der war kurz vor der Pensionierung, das war auch ein Altnazi . . . und dann hatten wir einen gekriegt . . . der war als Lehrer sehr gut . . . war . . . inzwischen hat man sich ja politisch auch ein bißchen . . . würde sagen . . . na . . . ein deutsch-nationaler gewesen . . . aber kein Nazi, in dem Sinne, der hatte noch irgendwo einen klein bißchen Land draußen in Schleswig Holstein und ackerte da auch noch selbst und bei dem haben wir dann verdammt viel gelernt . . . nech wir sind also . . . ich sag mal so . . . aus der Volksschule entlassen worden . . . mit einem Niveau, was heute die Mittelschule hat, ausser Sprachen, ausser Englisch . . . in der Zeit, wo Englisch war, haben wir im Bunker gesessen, sag ich immer so . . . also wir haben nicht viel Englisch gehabt . . . aber . . . ja es kam nachher Englisch . . . aber den habe ich bewußt . . . mich rauskatapultiert, in dem ich Mist gemacht hab und dann wurde ich rausgeschmissen, ich wollte Englisch nicht . . . aus einem ganz anderen Grunde . . . ich hätte zur Mittleren Reife . . . zum Oberbau . . . hiess es ja damals und da war das Englisch Pflicht und das wollte ich nicht . . . ich wollte, so schnell wie möglich auf eigenen Füssen stehn, Geld verdienen, ich hatte immer son bißchen das Gefühl, ich lieg meinem Onkel und Tante auf der Tasche. Ich hatte zwar die . . . von der Gewerkschaft die kleine Rente und ich hatte die Waisenrente von meinen Eltern . . . ne aber das . . . ich wollte schnell selbst Geld verdienen . . . Das war so ein Grund, dass ich bewußt gesagt hab, ne ich will Volksschulabschluß . . . schnell raus in Büro . . . wollte eigentlich schon in der achten Klasse abgehen, aber dann hat man mich aber . . . nee . . . damals konnte man die neunte Klasse noch machen, ne ne machen wir alle. Und der hat uns also so kann ich zwar auch nicht mehr Algebra mit zwei Unbekannten . . . was ich gut noch genutzt hab war . . . er hat uns Stenografie gelernt . . . das konnte ich in der Berufsschule gut gebrauchen . . . das ist jetzt auch versandet, man braucht das nachher nicht mehr . . . all solche Sachen hat er gemacht . . . also das war gut . . . war ein guter Lehrer . . . muß ich schon sagen . . . der ist mit uns auf Klassenreise gegangen . . . Fahrradtouren . . . und all sowas ne . . . ins Zeltlager . . . Schulzeltlager . . . und alles . . . das war also die schulische Sache . . . aber bevor ich überhaupt wieder so bißchen sogenannten . . . an der Gesellschaft, oder an dem Leben in der Gesellschaft mich erst wieder mit eingebracht hat, das hat lange gedauert . . . ich hab mich also in meinen Schmollwinkel zurück gezogen, wie man so schön sagt . . . gut zuhaus in der Familie war es was anderes, aber nach aussen hin immer . . . ogott . . . und sind das vielleicht auch so welche, die son Mist gemacht haben und so weiter und . . . hat lange gedauert und an sich hab ich da . . . oder hat mir da geholfen unser Nachbar . . . der Sohn, der war beim Wandervogel . . . Bündische Jugend . . . und der erzählte immer . . . hallo und machen . . . machen wir . . . und das ist ja was . . . sag ich . . . da möchte ich mal mit . . . ne sagte mein Onkel und Tante . . . das ist nicht im Sinne deiner Eltern . . . wenn du so was machen willst, dann geh zu den Falken . . . so . . . ja natürlich . . . dann hab ich da in der Klasse . . . dann hatten wir in der Klasse einen Kameraden, der war in den Falken . . . und denn haben wir da mal auf dem Nachhauseweg so geschnackt . . . na dann komm doch mal mit und durch diese ganze Gruppengemeinschaft . . . Gruppenerlebnis bin ich also so . . . das war der Rückkehr wieder in die allgemeine Gesellschaft . . . sag ich mal so . . . und da haben wir uns natürlich auch politisch interessiert . . . und das war unten . . .

J.M.: Detlev hat davon erzählt, dass die Mutter, seine Mutter immer schlecht von den Kommunisten geredet hat irgendwie . . . ja die haben da nen Fehler gemacht . . .

W.T.: Ja natürlich . . . äh . . .

J.M.: Ja, sie war wohl mehr sozialdemokratisch . . .

W.T.: Mein Großvater, meine Großeltern, von meiner Tante die Eltern, die waren Sozialdemokraten durch und durch . . . ihr Bruder . . . ihr ältester Bruder ist im ersten Weltkrieg schwer beschädigt worden und ist später an diesen Kriegsschädenfolgen früher verstorben als normal. So kann man das wohl sagen . . . dann hatte sie eben meine Mutter, die war aber sechs Jahre älter wie sie, sie war die jüngste und dann war da noch ein Bruder, der . . . war bei der Hamburger Feuerwehr Brandmeister . . . und der ist also in Bremen . . . in Bremer Einsatz . . . Hamburger haben da Bremen geholfen wie die . . . da isser er . . . da ist ihm ein Balken ins Genick gefallen . . . wollt er noch mal rein . . .

J.M.: Während des Krieges?

W.T.: Ja, während der Bombenangriffe, da ist er umgekommen, der mußte aber um seinen Job zu behalten als Brandmeister bei der Feuerwehr . . . hatte er immer diese Wollhandkrabbe . . . wurde immer gesagt . . . ja . . . NSDAP Abzeichen, ja, ja, das mußte er, sonst hätte er seinen Job verloren . . .

J.M.: Wollhandkrabbe . . .

W.T: Ja, genauso der eine Bruder von meinem Vater, der Otto, der nachher im Arbeitsamt war, der war nach dem Krieg SPD und der hat auch . . . wie er in der . . . während der KZ Haft ist seine Frau fremd gegangen und anschliessend war die Scheidung, wie er wieder raus kam . . . und der hat als Tischler keine Arbeit gehabt und ist denn . . . weil er früher auch wandern und so weiter . . . meine Eltern waren ja auch Jugendliche . . . in Jugendbewegung gewesen . . . eben nicht in der Wandervogelbewegung . . . das war die bündische . . . aber in der Arbeiterjugendbewegung und da ist er . . . da hat man ihm einen Job angeboten beim KDF . . . das ist diese Urlaubssache . . . der Nazis Kraft durch Freude . . . nannte sich das . . . und dann hat er da Wanderungen, Touren, Reisen organisiert. und da war mein Vater . . . das weiss ich . . . die haben sich da gekanzelt . . . bloß so ungefähr . . . ja das war also so, daß einige sagten, also . . . ich muß irgendwie überleben. Dann brauchte er auch nicht zum Militär . . . und der andere On . . . äh Bruder Bruno, der war auch Dreher . . . hat auch in der Rüs . . . der hat bei Kampnagel Dreher als Dreher gearbeitet . . . die haben auch teilweise Rüstung gemacht . . . und . . . also insofern . . . ja soll man das verurteilen? . . . also das haben ja viele, um ihre Haut zu retten . . . zumindestens . . . ein bißchen mitgespielt . . .

J.M.: Es war ja von dem . . . den Fallada noch mal gelesen . . . ja nicht noch mal gelesen sondern jetzt grade gelesen. Der ist also in den USA jetzt grade so . . . Kleiner Mann . . . wie heisst der noch mal . . . Jeder stirbt für sich allein, weiß ich nicht, ob sie das kennen. Das ist war früher mal aufgelegt, das ist die Geschichte von zwei Eheleuten . . . Eheleuten, deren Sohn im Krieg fällt, wie man so sagt, irgendwie . . . und wo die Mutter dann anfängt . . . dann fangen sie an so Postkarten zu schreiben, die sie überall hinlegen und werden dann irgendwie aber nach zwei Jahren, obwohl das ganz heimlich läuft also werden sie festgenommen und umgebracht im Knast. Dieses Buch ist jetzt grade wieder . . . das kommt über Frankreich, das ist zwar schon 46 in Deutschland erschienen und ist jetzt in den USA ein großer Renner geworden, irgendwie . . . und jetzt hab ich es mir denn auch noch mal geholt . . . Das ist eine differenzierte Geschichtsdarstellung von so einer Berliner Paar.

W.T.: Ja, das sind also so . . . da bin ich ja so langsam wieder ich zwischendurch war ich auch dreimal verschickt . . . nicht von der Schule, dafür war ich zu schwer, obwohl ich dünn war, ich hatte immer das Gewicht, was man in meinem Alter haben mußte, aber ich war eben dünn . . . verschickt von der vom Komitee ehemals politischer Gefangener hiess das zu Anfang, daraus ist die VVN hervorgegangen und die Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten . . . die haben sich getrennt nachher . . . zuerst waren sie zusammen . . . als Komitee ehemaliger . . .

J.M.: Jetzt nach dem Krieg?

W.T.: Nach dem Krieg . . . und von diesem Komitee oder nachher war das wohl auch schon VVN war ich drei mal in Steinbeck . . . Steinbeck bei Buchholz, da hatten sie ein Kinderheim . . . und da wurden wir dann . . . einmal ernährungsmässig büschen aufgepeppelt . . . wir wurden . . . hatten da nen Lehrer, der Unterricht ging weiter . . . also weil wir da fast sechs Wochen oder was waren . . . wär der Schulausfall wohl zu groß gewesen . . . und dann war ich noch von Oktober bis Dezember in Dänemark bei Draning Mölle . . .

J.M.: In welchem Jahr war das?

W.T.: Das war . . . das war . . . schon nach dem Krieg . . . das war . . . wann kann das gewesen sein? 1947/48 . . . ich glaub 47 muß das gewesen sein, von Dezember bis Weihnachten . . . Neujahr warn wir wieder hier . . . und da war das also noch so . . . das waren alles aus ganz Deutschland Kinder von Opfern . . . vom NS Opfern . . . Kopenhagen auf dem Hauptbahnhof mit Blitzlicht und allem möglichen, ging durch alle . . . alle Zeitungen da in Kopenhagen . . . und wir waren in der Nähe von Helsingör, kleiner Ort . . . Drönningmölle, übersetzt heisst das Königsmühle , dronning ist der König, von der Drohne bei den Bienen . . . aber na gut, also gut . . . also in Dronningmölle waren wir und das in einem Hotel, das einer Reederfamilie gehörte und im Sommer aber keinen . . . deswegen von Oktober bis im Sommer war das also nicht belegt . . . da war nur im Sommerurlaub damals, heute macht man ja auch im Winter an der Küste Urlaub . . . aber damals war noch, da waren wir ein Vierteljahr . . . und das war eigenartig . . . obwohl das also bekannt war , was wir für Kinder waren . . . wenn wir auf der Strasse mit paar waren oder gingen und haben deutsch gesprochen wurden wir ganz schief angekuckt. Also ja, das war eigenartig . . . obwohl sie genau wußten, dass also wir imgrunde ja nicht zu gehörten . . . jetzt wissen sie ja, wenn Deutsche kommen, freuen sie sich, die bringen Geld mit . Aber gut, das war aber damals, gleich nach . . . der Zeit . . . das sind so Sachen, die man dann in Erinnerung hat . . .

J.M.: Wann haben sie das erste mal so erzählt, was mit ihren Eltern passiert ist und das das Kommunisten waren?

W.T.: Also das hab ich ja . . . praktisch immer nur durch hier und da mal gefragt . . . man hat mir zum Beispiel nie gesagt, dass meine Eltern nicht mehr leben . . . das hat man mir nie gesagt, das hab ich nur so dann . . . wenn man eins und eins zusammenzieht . . . dann und denn nachher . . . wie das also klar war . . . ich mußte also mindestens vier mal im Jahr mit Oma zum Friedhof . . . das hat mir die Sache so verleidet . . . ich sach also . . . ich denk mehr und öfter an meine Eltern, wie manch einer . . . aber ich brauch nicht irgendwo ein bestimmtes Stück Erde hinlaufen, mir drei Tränen abquetschen und wieder nach Haus gehen, das ist dummes Zeug sag ich, brauch ich das nicht . . . aber das ist Ansichtssache . . .

J.M.: Da ist ein Stein auf dem Friedhof . . . in Ohlsdorf oder wo?

W.T.: Mein Vater ist nicht auf Ohlsdorf, der ist da nicht hingekommen. Die hatten in Neuengamme ein eigenes Krematorium und die Asche wurde da verstreut. Ich hab dann mal ein paar Führungen mitgemacht . . . und hab mir das mal angekuckt und da sacht er . . . ja hier . . . hier ist irgendwo die Asche verstreut und meine Mutter war beigesetzt worden im Grab ihres ältesten Bruders, der also verstorben war durch die Kriegsein . . . verwundung, das ist nachher aufgehoben worden, die Witwe von dem, die wollte das auch nicht verlängern und meine Mutter ist . . . hat jetzt eine . . . die Gedenkspirale im Garten der Frauen . . . das war mir viel wichtiger als im . . .

J.M.: Haben sie noch . . . so . . . Erinnerungen an die 50iger und 60iger Jahre in Deutschland, was sie da so erlebt haben in Bezug auf ihre Eltern . . .

W.T.: Naja, ich war dann seit . . . acht . . . seit fünfzig . . . seit fünfzig . . . seit neunundvierzig fünfzig . . . da waren wir im Sommer viel unterwegs . . . Urlaub im Zeltlager . . . wir haben also sehr viele schöne Erlebnisse und gemeinsame Touren und Sachen gemacht und das ist nachher soweit . . . und wie wir nachher grösser wurden und die Gruppe sich auflöste . . . altersmässig . . . da haben wir dann noch jahrelang danach Zeltlagerbetreuung für andere Kinder gemacht also Gästekinder, die keine eigene Jugendgruppe hatte und so weiter . . . ich hab im Zeltlager immer den Technikbereich mit abgedeckt . . .

J.M.: Mir fällt das so ein, weil ich selber bin Jahrgang 46 und hab selber sehr viel gefragt so bei meinen ganzen Verwandten wie das so war in der Nazizeit, bin auch oft mit meinem Vater da um Neuengamme rum gefahren, aber er hat nie erzählt, was das eigentlich genau war, ja und den einzigen, den ich eigentlich hatte, der offen mit mir umgegangen ist, war mein Onkel, der warn strammer Nazi gewesen in der Zeit. Der war in Bergedorf beim Briefmarkenverein und das war der einzige, zu dem ich irgendwie Respekt hatte, alle anderen, habe ich immer gedacht, mein Gott, ihr seid da dicht dran vorbeigelaufen am Bergedorfer Bahnhof, Bergedorf West und da sind irgendwie 500.000 Menschen >umgeschlagen< worden.

W.T.: Müsst ihr doch gesehen haben.

J.M.: . . . und ihr habt mir erzählt, ihr hattet das nicht gesehen, was denn noch eine Erinnerung an diese 60iger Jahre oder sowas ist, das ich als Kind immer dachte, also die Kommunisten hätten den Krieg angefangen, weil das waren immer die Bösen, das waren die Bösewichter. Das das eigentlich die Nazis waren, die den Krieg angefangen haben, das habe ich erst viel später mitgekriegt . . .

W.T.: Den Sender Gleiwitz da überfallen haben, damit fing das ganze ja an. Da haben wir uns natürlich in der Jugendgruppe auch mit beschäftigt mit diesen Sachen. Und da hatten wir aber Referenten und Leute, die uns, was wir selbst nicht wußten, doch ziemlich offen über gesprochen haben. Der Verwandten und Bekanntenkreis, das Thema war son bißchen tabu, wollten alle nicht gerne darüber reden, befürchteten, dass ich vielleicht zu viel Fragen stelle oder nach der eigenen Haltung frag, wie sie sich verhalten haben Nazis und und und, das war also . . .

J.M.: Das war das einzige, was der Christian Geissler sagt . . . Christian Geissler, sagt ihnen das was ? Der hat son paar Romane geschrieben.

W.T.: Wer?

J.M.: Christian Geissler. Der ist jetzt schon längere Zeit tot, gestorben vor drei Jahren, der hat so mehrere Romane geschrieben unter anderem einen über die Nazizeit, in der ein Polizist die Seiten wechselt.

(Ende Band 2)

(Anfang Band 3)

J.M.: Wo waren wir, ja richtig Christian Geissler und der hat . . . der ist vor ein paar Jahren gestorben . . . ist jetzt zwei Jahre her . . . und der hatte gesagt, das einzige was den Deutschen nach dem Krieg geblieben ist, ist ihr Antikommunismus, den durften sie behalten

W.T.: Den durften sie behalten. Ja, da ist was dran . . . Also was wir damals in der Jugendgruppe durchgenommen, ein Buch das gelesen haben . . . so auf dem Gruppenabend mal ein zwei Kapitel, bis wir das durch hatten, das war aus der Zeit des Sozialistengesetzes, das war ja vor den Nazis . . . wie Bismarck die verboten hatte und da hab ich also viele Parallelen . . . wie im Hintergrund oder im Untergrund gearbeitet wurde . . . das hiess . . . Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne oder so ähnlich . . . das hat mich damals fasziniert und den anderen hier, den die Revolution entläßt ihre Kinder von Wolfgang Leonhardt und solche Sachen auch gelesen und verschiedene andere Sachen . . . . . . Der rechnet da ja mit seinen eigenen ehemaligen Kommunisten ab. Sicherlich, das ist eine Demo . . . eine Diktatur ist was ganz schlimmes, ist egal obs ne rechte oder ne linke Diktatur ist . . . ne Diktatur ist immer schlimm. Und das ist . . . ich sag immer . . . oder meine Meinung ist . . . für einen Sozialismus ist der Mensch noch nicht reif . . . der ist noch nicht reif . . . der muß zurückstecken . . . der wird nach wie vor von seinen Urtrieben geleitet, das ist also der Arterhaltungs und Selbsterhaltungstrieb und beide haben egoistische Motive, ich muß der andere nicht . . . so und damit müssen wir von runter eher funktioniert das mit dem Sozialismus nicht . . . weil wenn da wieder eine Kaste rankommt, die mit mal auch nur wieder an sich denken oder an ihr Umfeld, das hat man eben bei den Kommunisten gesehen . . . ne eigne Führungskaste, die auch um diesen Macht . . . diese Macht, die sie einmal hatten, vielleicht auch zum Teil demokratisch noch bekommen haben, dass sie diese Macht nachher mit allen Mitteln . . . allen schlechten Mitteln verteidigen . . . eben auch zu Diktatur werden und das ist das, was mich also nicht von der kommunistischen Idee trennt, aber von dem, was die Leute draus gemacht haben . . . und wenn jetzt einer sagt, ich bin bekennender Kommunist und sagt . . . ja was meint er denn damit? Meint er die gute Idee, die gar nicht schlecht ist? Oder nur, weil er aus Tradition so gewesen ist? Oder geworden ist, oder weil er sich unterdrückt gefühlt hat und so weiter.

J.M.: Haben sie Kinder?

W.T.: Ja.

J.M.: Wie denken die so?

W.T.: Ja die, meine Tochter hat sich da ne ganze Zeit lang auch, mit beschäftigt, die hat aber jetzt über Freunde und Bekannte eine Richtung . . . eingeschlagen . . . nicht politischer Art . . . politisch ist sie ok . . . da ist sie meiner Meinung nach auch auf den sozialen Bereich . . . sie ist nun in ein Gebiet durch Freunde reingekommen, wo ich nun gar nichts von halt, sie ist in ner freikirchlichen Gemeinde und mit Kirchen hab ich nichts am Hut. Ist egal mit welchen . . . welchen Glauben auch immer, das ist . . . man muß das glauben und nichts ist bewiesen . . .

J.M.: Ist die hier in diesem Haus groß geworden?

W.T.: Ja, ja . . . aber sie wohnt jetzt in Itzehoe . . . ne das ist durch Schulfreundinnen und so weiter . . . ist sie da mitn mal gelandet. Gut . . . Die freikirchlichen Gemeinde sind ja keine schlechten Menschen, aber . . . eben diese, was jede Religion für sich in Anspruch nimmt . . . diesen sogenannten Alleinvertretungsanspruch . . . wir sind die einzig richtige Religion, das lehne ich ab . . . und ich glaub an keinen Gott, an kein überirdisches Wesen, wer dran glauben soll . . . soll er von mir aus, aber er soll nicht von mir verlangen, daß ich das auch tue . . . Das ist eine Sache, wie ich in die Lehre kam, mußte ich ja ne Steuerkarte . . . Lohnsteuerkarte haben . . . Ortsamt in Farmsen und ich sag Steuerkarte . . . ja und in welcher Kirche sind sie ich sag in gar keiner, schreibt sie was hin fertig, krieg meine Steuerkarte als Lehrling war man ja . . . hatte man immer so wenig, daß man keine Kirchensteuer bezahlte . . . ich kriegte meinen ersten Gesellenlohn für drei Tage oder so, das war immer . . . monatliche Abrechung, aber nen wöchentlichen Abschlag . . . und da stand mitten mal 11 Pfennig Kirchensteuer . . . da war ich aber verdammt noch mal . . . 11 Pfenning, ich rauf, Werkstattschreiber, hier Lieschen da stimmt was nicht, ich bin doch gar nicht in der Kirche, . . . guckt sich an, ja . . . ruf ich mal im Lohnbüro an . . . sagt der im Lohnbüro, auf der Steuerkarte steht aber lt. . . . das heisst evangelisch-lutherisch und ich sag ja hab ich . . . dann hatten die da einfach das falsch reingeschrieben. Ich sag, in zwei Wochen hab ich Nachtschicht, dann hole ich mir die Steuerkarte und dann hin. Komm ich hin. Ich sag ich möchte gerne hier den Irrtum aufklären und möchte das geändert haben. Ja, sind sie denn nicht? Ich sag, nein, nein bin ich nicht, ja dann möchte ich mal ihre Austrittserklärung sehen. Ich sag, ich . . . sind sie Mitglied im HSV? Nein. Und wo ist ihre Austrittserklärung? . . . Ja, nun das ist ja ganz was anderes. Ich kann das nur ändern, wenn ich ne Austritts . . . Ich sag, ich bin in den Verein nicht eingetreten . . . ich bin weder getauft noch konfirmiert worden, meine Eltern haben . . . zu meinen Cousins auch alle gesagt . . . ab 16 bist du religionsmündig und dann kannst du machen, was du willst, wir lassen alles offen, wir machen nichts. Das ist ja praktisch ne Bevormundung, wenn man einen tauft und in die Kirche steckt, ohne zu wissen, ob er das nachher will. Das haben die . . . meine Eltern, Detlev und die auch alle nicht, meine Cousins, ich bin da nicht eingetreten, ich bin nicht getauft nicht konfirmiert, das möchte ich geändert haben, ich geh hier nicht eher raus . . . Ne das darf ich nicht, ich hab so meine Vorschriften, ich sag, dann haben sie doch sicher noch einen Vorgesetzten, vielleicht hat der nen anderen Spielraum . . . Ermessensspielraum . . . telefoniert sie einen Augenblick, später kommt er rein, da war das älteste Bruder meines Gruppenleiters bei den Falken . . . da sagt er was machst Du denn hier? Ich sag, hier so und so, schilder ich ihm das, ja sagt er, machen sie ne Notiz er hat glaubhaft versichert, daß er nicht und dann ändern sie die Karte . . . und dann ging das. Laut Anordnung von. Dann hat sie das hingeschrieben und hat das geändert . . . Wir waren von der Tochter da raus gekommen . . . also ich hab mit Kirche nichts am Hut, wobei die durchaus gute Sachen machen, nur was ist im Namen des Glauben alles für Unrecht geschehen auf der Welt und geschieht noch. Obs nun heutzutage noch Kindermißbrauch oder sonstwas ist . . . aber alles im Namen des Glaubens und der Religion und was weiss ich nicht, ist sind auch nur Menschen . . . Der Oberbeerdigungskasper da in Rom . . . ne der . . .

J.M.: Ich hab ja jahrelang diesen Witz erzählt . . . als dann vor drei Jahren . . . den kennen sie bestimmt auch . . . den mit dem Snickers und mit dem Mars. Der Witz ist uralt, ich glaub ich hab den schon von meinem Vater übernommen . . . da macht ein . . . Pastor geht in Urlaub, der Küster, also der die Glocken da ziehen muß, der macht sozusagen die Vertretung, bei der katholischen Kirche, also auch den Beichtstuhl, und er hat ihm alles gesagt, was so gibt, so viel dafür, so viel dafür . . . fünf Rosenkränze beten und so, naja und jedenfalls sitzt er denn im Beichtstuhl und denn sagt denn der da im Beichtstuhl sitzt . . . also ich hab Analverkehr gehabt . . . guckt er in seine Liste . . . Analverkehr hat er überhaupt gar nicht und denn kommen da zwei Jungs, so Messdiener vorbei und die fragt er denn . . . und sagt was gibt denn der Pastor bei Analverkehr? Mal ein Snickers, und mal nen Mars. Diesen Witz habe ich jetzt . . . nen Snickers? ein Schokoladenriegel, jahrelang erzählt und hatte nicht gedacht das das so realistisch ist . . .

W.T.: Mal nen Snickers mal ein Mars. Nein, den hatte ich noch nicht gehört.

J.M.: Der war uralt. Als das rauskam irgendwie . . .

W.T. : Ja, ja sowas gibt es . . . Ja da ist viel Schindluder gemacht worden von Gläubigen, die Wunder wie hoch stehen und von der Moral her und selbst . . . also deswegen ist das nicht mein Verein.

Muß jeder selbst wissen.

J.M.: Ich bin mal eingetreten, also mit . . . meine Eltern hatten mir das auch freigestellt . . . ich war dann irgendwann überzeugt . . . ich glaub mit dreizehn oder vierzehn habe ich mich taufen lassen und dann auch kirchlich geheiratet . . . und dann 1971 bin ich dann wieder ausgetreten.

W.T.: Ich hab in der Schule hatten wir ja Religionsunterricht und wir konnten uns befreien lassen und dann sagte mein Onkel, du kannst jederzeit den Zettel kriegen, aber hör dir das ruhig mal an, dann hab ich mir das zweimal angehört, und denn hab ich gesagt ne, nächstes mal bring ich nen Zettel mit, ich möchte nicht mehr, wieso denn nicht? . . . Ich sag ne, ich möchte Religionsunterricht haben, kein Konfessionsunterricht, ich möchte wissen, welche Religion gibt es auf der Welt, was sind deren Ziele und und und und wie sind die strukturiert aufgebaut . . . undsoweiter, das möchte ich wissen, ich möchte nicht hier das Vaterunser auswendig lernen . . . oder die zehn Gebote . . . eins kann ich sowieso nicht unterstreichen, das ist das das der Alleinvertretungsanspruch, du sollst keinen anderen Herren oder so irgendwie . . .

J.M.: Das haben die aber alle.

Hinweise: Käthe Tennigkeit, geb. Schlichting, geb. am 2. April 1903, ermordet am 20. April 1944 im KZ Fuhlsbüttel. Richard Tennigkeit, geb. am 5. 09. 1900 ermordet am 12. Dezember 1944 im KZ Neuenamme.

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Jens Meyer 20.05.2020 /Aufgenommen am 29. März 2011,

Durchgesehen 10. Februar 2020 Foto Jens Meyer (1985)

Willy Münzenberg aus dem Schweizer Zuchthaus

Historischer Text ausgewählt von Stinki Müller

Willi Münzenberg Geschrieben im Schweizer Zuchthaus 1918

Willi Münzenberg

Lebenslauf

Verlag Detlev Auvermann KG Glashütten im Taunus 1972

Abschrift des Lebenslaufes von Wilhelm Münzenberg

Die Eltern

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Das Recht der ersten Nacht ist in Deutschland nach dem Gesetz schon seit langem aufgehoben. Praktisch freilich wird es heute mindest so oft als früher ausgeübt. Nur wartet man nicht bie zur Hochzeitsnacht der Magd und beschränkt sich auch nicht auf nur eine Nacht. Es war deshalb kein besonderer Zufall oder ein ausgezeichnetes Wunder, als sich Baron von M. vergass, sein aldiges und edles Blut mit demjenigen seines Zimmermädchens zu mischen. Das Kind erbte den Standesdünkel, den Jähzorn, die Brutalität und Roheit, die Liebe zu Wein, Weib, Weib und Spiel, kurz alle Tugenden seines Vaters, ohne dessen Vermögen. Der Alte benahm sich immerhin noch anständiger als andere seines Standes und in seiner Lage. Er anerkannte das Kind, gab ihm seinen Namen und bestritt die Kosten seiner besseren Schulbildung. Aber die junkerlichen Triebe in dem Jungen waren zu stark, um einen grösseren Lerneifer aufkommen zu lassen. Als Knabe war er der Anführer aller losen und verwegenen Streiche und als Jüngling mehr im Wirtshaus und hinter den jungen Schönen des Dorfes her als beim Studium. Ermahnungen und Drohungen des Alten fruchteten nichts. Da sagte sich dieser von dem Jungen los, kaufte für 300 Taler seinen Namen zurück und jagte ihn zum Teufel. Da brach der Krieg zwischen Preussen & Oesterreich aus (1866) und der hoffnungsvolle Sprössling des preusssischen Junkers und seiner Magd, der nichts gelernt und nichts zu verlieren hatte, meldete sich freiwillig. Er wurde angenommen und folgte als Feldgendarm dem siegreichen preussischen Heer. Das Leben unter den Soldaten gefiel ihm und er beschloss zu bleiben. Als Ordonanzreiter machte er einige Jahre später den deutsch-französischen Krieg mit, nahm 1873 den Abschied und wurde als Telegraphist angestellt. Das blieb er er aber nicht lange. Ein frischer Unternehmungsgeist trieb ihn, sich selbst zu versuchen und wurde in wechselreicher Reihenfolge Agent, Förster, Güterspekulant, Gastwirt, Coiffeur, Geflügelhändler etc., ohne aber mit irgend einem Fach dauernd Fuss fassen zu können. Das Soldatenleben und die Teilnahme an zwei Kriegen hatte alle seine Leidenschaften und Neigungen mächtig gefördert. Zu gute kam ihm nur der dabei gewonnene frische Unternehmungsgeist und eine gewisse Weltgewandtheit, die sich später zu einem guten und sicheren Geschäftssinn entwickelte. Im Vergleich zu der Vermehrung und der Steigerung der schlimmen Eigenschaften herzlich wenig. Der Standesdünkel war durch militärische Chargen und Orden kräftig gehoben worden. Und fehlte ihm auch der Name und das Vermögen, in seiner Einbildung und durch seine Abstammung fühlte er er sich als ein Mitglied der herrschenden, besseren Klasse, als schneidiger preussischer Junker und schaute mit Verachtung auf das gewöhnliche Volk. Die Liebe für ein flottes Leben, für Wein, Weib und Spiel war um die teurere Passion, für die Jagd, reicher geworden. Kein Wunder, wenn das schnell und leicht erworbene Geld ebenso schnell und rasch wieder zerfloss. Wenn ihm heute eine glückliche Güterspekulation Tausende in den Schoss warf, so verschlang morgen eine Jagdpartie zehntausende. Besonders die Leidenschaft für den Wein war durch den Krieg und nicht zuletzt durch die eroberten Weinkeller der französischen Bauern zu einer unbezwinglichen Trunksucht geworden. Und da der Wein in der Heimat ziemlich teuer war, so trat an dessen Stelle der Schnabs, der Gocnak und ein „guter Korn“. Und das täglich genossene Quantum stieg von Jahr zu Jahr und die Tage ohne Rausch wurden im selben Masse seltener. Hand in Hand mit der Vergrösserung der Trunksucht ging die Steigerung des Jähzorns, der Brutalität und Roheit. Die geringste ihm missfallende Handlung, ja, schon ein einziges Wort konnte ihn in einen Taumel sinnloser Wut versetzen. Als es anlässlich eines Kartenspiels zwischen ihm und einem Mitspielenden zu Differenzen kam, verliess er in höchster Erregung das Zimmer, um einige Minuten mit dem geladenen Gewehr zurückzukehren. Nur mit Mühe konnte dem Tobenden das Gewehr entwunden werden. Ueberhaupt wurde das Schiessen je länger je mehr zu einer direkten Manie des Unglücklichen. Einige Gewehre hingen stets geladen über dem Bett. Er begnügte sich nicht mit der Jagd auf die gewöhnlichen Jagdtiere, sondern schoss Stare, Raben, Störche, Katzen, Hunde, kurzum, was ihm vor das Rohr kam. Zu Hause droht er er täglich, sich zu erschiessen, die Frau, die Kinder, die „ganze Bande zu erschiessen“. Und mehr wie einmal rettete nur die schleunige Flucht die Unglücklichen vor dem Tod. Alles wurde aber übertroffen durch seine Roheit und Brutalität gegen die Familie. Jedes, auch nur das geringste und kleinste gefühlvolle Verständnis für ein Familienleben fehlte ihm vollständig und Liebe für Frau und Kinder war ihm so weltfremd, wie die Pflicht, für sie zu sorgen. Während er in lockerer und feuchtfröhlicher Gesellschaft tausende verprasste, fehlte der Familie das zum Leben notwendige Brot! Um die Erziehung der Kinder bekümmerte er sich nur insofern, als er ab und zu, und das nicht selten, alle auf das grausamste schlug. Mit der Frau wurde begonnen und mit dem Jüngsten geendet. Dabei fand alles Verwendung , was ihm in die Hand kam Stöcke, Peitschen, Ketten, Eisenstücke, Geschirr. Narben auf allen Körperteilen der Kinder zeugen heute noch von den erlittenen Misshandlungen. Als eines Tages der damals zweijährige älteste Sohn weinte, ergriff ihn der darob erboste Vater und warf ihn wie ein Ball oder ein Stein die Treppe hinunter. Nur dass die Mutter das Kind auffing und so den Sturz milderte, rettete dem Kind das Leben. Natürlich schrie der Kleine noch kläglicher als zuvor. Das machte den Vater so wütend, dass er Mutter und Kind in die Jauchegrube warf. Die Jauchegrube befindet sich in den thüringischen Bauernhäusern in der Mitte des Hofes und ist eine Grube ca. 2 m. tief, 3 m. breit und 6 m. lang. Auf die Hilferufe der beiden eilt die Schwiegermutter herbei, um gleich darauf ebenfalls in der Grube zu liegen. Nicht besser erging es dem Schwiegervater, der mit einer Mistgabel bewaffnet dem Wütenden zu Leibe wollte. Und während Großvater, Grossmutter, Mutter und Kind in der stinkenden Jauche zappelten und sich zu retten suchten, erzählte der Held des Stückes den wildauflachenden Bauern seine neueste Heldentat und unter den unflätigsten Witzen. Das war mein Vater! Später habe ich mich manchmal gefragt, wie war das alles möglich? Wie war es möglich, das ein solcher Mensch vierzig Jahre ein Familie quälen, vierzig Jahre wie ein Wahnsinniger leben leben durfte, ohne das die Nachbarschaft, ohne das die Behörde eingriff? Eine alles erklärende Antwort habe ich bis heute nicht gefunden. Viel erklärt das Wesen meiner Mutter. Meine Mutter kenne ich mehr nach den Schilderungen der älteren Geschwister als aus eigener Erinnerung; sie starb, bevor ich vier Jahre alt war. Sie war die Tochter armer Bauersleute in der Nähe von Erfurt und wie alle deutschen Arbeiter und armen Bauern, grenzenlos zufrieden und unterwürfig. Am schwersten musste sie ihre begeisterte Liebe für das bunte Tuch büssen. Sie liebte an ihrem Mann vor allem die Uniform und nur den Soldaten. Sie blickte zu ihm auf wie zu einem höheren Wesen, und empfand seine Liebe als die grösste, ihr erwiesene Gnade. Diese Ehrfurcht wurde durch die halbadlige Abstammung und durch die kriegerischen Auszeichnungen des Mannes noch bedeutend vergrössert. Damit aber war ihre Stellung in der Ehe gegeben. Sie war die Magd und er der Herr. Die Ehe war eine schlechtere Ausgab der Liebschaft zwischem dem Baron und seinem Zimmermädchen, die zum Unglück mit einer Heirat endete. Unergründlich, wie die tiefsten Tiefen des Weltmeers ist das Leid, das die vielgeprüfte Frau in dem Martyrium einer vierunddreissigjährigen Ehe frommgeduldig ertrug. In ihren Händen allein lag die Erziehung der Kinder und später, als der Mann alles vertrank und vertat, auch die Ernährung der Familie. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht war sie unermüdlich tätig, durch den Betrieb einer Kuchenbäckerei das zum Unterhalt der Familie notwendige Geld zu verdienen. Und anstatt der Mann dazu beisteuerte, forderte er noch. Sie sollte ihm das Geld erarbeiten, das er in Gesellschaft mit Dirnen verprasste! Und als Entgelt Grobheiten, Skandale, Misshandlungen und Prügel. Wie viele Nächte wachte sie, in banger Angst und Sorge um das Leben und das Leben ihrer Kinder. Wie viele Nächte arbeitete sie, wenn die Stunden des Tages nicht langten. O tränenreichste, schmerzensreichste Dulderin deines Geschlechts! Wie oft habe ich nichts sehnlicher gewünscht, um mit kindlicher Liebe all das zu vergelten, das du in namenloser Liebe an uns und an mir getan. Ach, wie zu oft habe ich gewünscht, alle deine um mich geweinten Tränen von den geliebten Wangen zu küssen oder sie in Tränen glücklichster Freude zu verwandeln. Heute, da in stiller Einsamkeit die Erinnerungen früherer Zei-ten besonders lebendig in der Seele werden, heute fasse ich den Kopf mit beiden Händen und frage mich verzweifelnd „Wie war es möglich, das ich dich vergessen konnte? Wie war es möglich, dass ich mithelfen konnte, die ewig währende Mutterliebe zu bezweifeln und zu leugnen; zu der selbst der Richter des „Scheiterhaufen“ und „der Vater“ mit heiligem Schauer zurückkehrte? Wie vielmehr ich, der Dich Mutter nennt? Wie immer sich auch der Begriff Pflicht, Recht, Liebe ändern mag, in deinem Leid, o Mutter, in deinem Schmerz bis du unerreicht gross, jetzt und in alle Ewigkeit. Dem ersten Buben, meinem ältesten Bruder, schenkte sie das Leben, als ihr Mann als preussischer Soldat vor Paris stand. Er wurde das getreueste Ebenbild des Vaters, wie er Soldat, Spieler und Trinker. Da er bereits dreissig Jahre alt war, als ich geboren wurde und nur selten zum Besuch bei uns weilte, hat er keinerlei Einfluss auf mein Leben ausgeübt. Seit mehr als zehn Jahren hat überhaupt jeder Verkehr zwischen uns aufgehört. Ihm folgte nur einige Jahre später meine Schwester, in der sich die Eigenschaften von Vater und Mutter mischten. Besass sie von Vater den unbeugsamen Willen und den frischen Unternehmungsgeist, dann von der Mutter die Kraft zu schwerer und dauernder Arbeit. Ihr Leben war noch dornenvoller als das der Mutter. Wegen ihrer Liebe von zu Hause verstoßen, heiratete sie einen Menschen, der nach wenigen Jahren sich in der Trunkenheit verlor. Nach der Scheidung behielt sie nicht viel mehr als ihre sechs oder sieben Kinder. Sie heiratete wieder, einen Witwer, ebenfalls mit mehreren Kindern und seit jener Zeit habe ich nie mehr etwas von ihr gehört. Der dritte Sprössling war wieder ein Bube, der 1882 geboren wurde. Er glich in allen Zügen der Mutter. Mit ihm war ich am läng-sten in Verbindung und wechsle heute mitunter noch Briefe. Trotzdem er später mein Vormund wurde, habe doch ich auf ihn den grösseren Einfluss ausgeübt als er auf mich und ihn sowohl der Partei wie der Gewerkschaft zugeführt. Mit seiner Geburt glaubte die damals zweiundvierzigjährige Frau ihre Pflicht als Mutter erfüllt zu haben. Eine besondere Freude wird die mit schwerer Arbeit überbürdete Frau nicht empfunden haben, als sie sich Anfang 1889 nochmals Mutter fühlte und Segenswünsche waren es sicher keine, mit dem der Vater das frohe Ereignis begrüsste. Am 14. August wurde ich geboren.

Die ersten Eindrücke

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Das erste Gefühl, das mich beherrschte und auf das ich mich heute noch erinnern kann, war bange Furcht. Der Ruf „Vater kommt“ erschreckte mich auf das tiefste und vor Angst wusste ich nicht, soll ich mich verstecken oder stehen bleiben. Soweit ich mich erinnere und so oft ich noch die gemeinsam mit ihm verlebten fünfzehn Jahre an mir vorüberziehen lasse, nicht auf ein liebevolles oder zärtliches Wort kann ich mich von ihm besinnen. Zum Glück war der Vater selten zu Hause, mitunter sah ich ihn wochenlang nicht, dann weilte er auf Jagden und Vergnügungsreisen. Damals bewohnten wir eine Etagenwohnung eines mittelgrossen Hauses in der damaligen Hauptstrasse von Erfurt. Rechts die Tür vom Hauseingang führte in den Laden, den die gute Mutter zu Ernährung der Familie betrieb, links die Tür in das Heiligtum, das wir Kinder nie oder nur selten betreten durften, in das Zimmer des Vaters. Es war das best eingerichtetste der ganzen Wohnung. Hinter dem Laden befand sich das Wohn- und daran anschliessend das Schlafzimmer. Die Küche und der Backraum waren hinter des Vaters Zimmer. Die Stuben waren niedrig und dunkel, das Haus schon alt. Das Töchterchen einer Nachbarfamilie, wie ich später erfuhr, des sozialdem. Reichstagsabgeordneten R. war meine erste Spiel-gefährtin, auf die ich mich erinnern kann. Besonders liebte ich die Spiele, wo ich predigen konnte – Hochzeits – Beerdigungs- u.s.w.. Ich bin, trotz Strindbergs “Damaskus“ und “Inferno“ zu viel Atheist um in all diesem den weisenden Finger einer höheren Macht oder des Schicksals zu sehen. Aber ein leises Gefühl stillen Glücks überfällt mich doch, wenn vor mir der dreijährige, kleine Knirbs mit dem ausgestopften Bauch und der Mutterschürtze auf dem Stuhle steht, um der nach grausamem (n) Schmerzenslager gestorbenen Puppe die Beerdigungsrede zu halten. Ja, damals. – Die treueste Pflegerin wurde mir, da die Mutter vor allzustrenger Arbeit keine Zeit fand, meine Schwester. Und das dürfte auch die Ursache sein, warum ich mich später in schmerzlichster Sehnsucht mehr nach einer Schwester sehnte, als nach der Mutter, um in dessen Schoss mein Haupt zu bergen und alles Leid und alle Schmerzen der Seele auszuweinen. Und namenlos glücklich fühlte ich mich, als mein Wunsch in Erfüllung ging und das beste Mädchen meine Kameradin, meine Freundin und meine Schwester wurde. Frühzeitig wurde alles getan, um mir die gleiche Begeisterung für das Soldatenleben zu erwecken, die die ganze Familie dafür hegte. Bleisoldaten, Festungen, Gewehr, Säbel, Trommel und dergleichen war mein erstes und einziges Spielzeug. Erst dreijährig, schickte mein älterer Bruder, der damals als Unteroffizier in Gotha weilte, mir eine Soldatenuniform. Mit diesem Kleid lief ich nun Tag für Tag durch die Strassen und die Familienmitglieder waren nicht wenig stolz, wenn das stramme Salutieren des kleinen Knirbses von den Soldaten und Polizisten lächelnd erwidert wurde. Am glücklichsten zeigt sich daron stets meine Mutter. Die arme Frau. Selbst das dreissigjährige Martyrium unter einem waschechten Soldaten und Krieger, wie es mein Vater war, mit all den scheusslichen Erniedrigungen, Leiden, Qualen und Misshandlungen, konnte bei ihr die Begeisterung für das bunte Tuch nicht schwächen. Alle ihre Buben, das war ausgemacht, mussten stramme Soldaten werden und wie der Aeltestes zwölf Jahre dienen. Auf dem Sterbebett war es ihr letzter Wunsch, den “Willy“ nochmals als Soldaten zu sehen“. Und so wurde ich angekleidet mit der Uniform, den Helm auf gesetzt und den Säbel umgeschnallt und an das Bett der Sterbenden gebracht. Die arme Mutter. Hätte sie geahnt, welche ganz andere Wege später ihr Jüngster zu gehen bestimmt war. Zu stark wurzelte das Vorurteil in ihrer Seele, zu mächtig wirkte die an der Mutterbrust begonnene Erziehung und die landesübliche Gewohnheit und eine fast klösterliche Abgeschlossenheit tut das seinige, um die Ideen und Anschauungen des Bauernmädchens zu konservieren. Nach der Mutter Tod wurde die Bäckerei aufgegeben, die Schwester verliess uns und der Vater, der damals 11 jährige Bruder H. und ich zogen in eine kleinere und bescheidenere Wohnung. Aber nicht lange. Mein Vater macht bald eine gute Partie und heiratete eine Witwe mit cirka 20.000 Mark Vermögen. Mit dem Geld erwarb er eine Gastwirtschaft in einem Dorf in der Nähe von Weimar. Die Stiefmutter war ein geistig etwas beschränktes Wesen und die Behandlung und Prügel, die sie gleich meiner Mutter von meinem Vater erhielt, trugen nicht dazu bei, ihre Intelligenz zu schärfen. Ihr fehlte jede Liebe zu dem Mann wie zu uns. Die Misshandlungen seitens des Mannes quittierte sie durch Lügen und kleine Intrigen und die magere Kost verbesserte sie durch Naschereien. Mit uns schimpfte sie den ganzen Tag, sodass wir schon nach kurzer Zeit sie nicht mehr ernst nahmen. Von einem Familienleben konnte jetzt noch weniger wie früher die Rede sein. Wenn ich heute, in den stillen und langen Nächten, die ich in einer Zelle der Polizeikaserene Zürichs, die mich immer an eine zur inneren Einkehr mahnende Klosterzelle erinnert- durchlebe und alle Stunden meiner frühesten Kindheit vor mir vorüberziehen lasse, dann kommt es mir immer deutlicher zum Bewußtsein, dass die Wurzeln meines Wesens, meiner Leidenschaft, meiner Symphatien und Antipathien, bis in diese entfernte Tage reichen. Der Eckel und Schreck gleichzeitig erregende betrunkene Gestalt meines Vaters flösste mir einen tiefen, unüberwindlichen Abscheu gegen alle alkoholischen Getränke ein. Und während meine Schulkameraden mir Kreisel, Peitsche und alle ihre Herrlichkeiten anboten, wenn ich ihnen heimlich zu einem Glas Bier oder einem Gläschen Likör verhalf, konnte ich bei besten Willen nie einen Schluck von diesem Zeug über die Lippen bringen. Aus gleicher Ursache verabscheute ich jedes Zeichen von Roheit und Brutalität. Der plötzliche Verlust zweier mich pflegender Frauen, meiner Mutter und Schwester, dem bald derjenige meines Bruders folgte, raubte mir jede Pflege des kindlichen Gemüts, jede tröstende Zärtlichkeit und helfende Liebe. Aber der Keim zu etwas weichem, zarten, liebreichen war gelegt und drängte immer und immer wieder zu einer Aeusserung. Je mehr und je länger ich jede zärtliche und liebevolle Pflege entbehren musste, immer grösser wuchs sie, immer schmerzlicher empfand ich jedes harte und böse Wort. Menschen hatte ich keine, die ich lieben konnte und die mich lieb-ten. Da flüchtete ich mich zu den Pflanzen und Tieren. Mit ihnen lebte ich, mit ihnen wuchs ich auf und ihnen liess ich die ganze Zärtlichkeit meiner Kindesseele angedeihen. Als ein Hund erschossen werden musste, den wir über 4 Jahre hatten, weinte ich tagelang und wollte mit ihm in die Grube. Damals war ich zehn Jahre alt. Das schrecklichste für mich war es, als ich als 13 Jähriger jungen Tauben die Köpfe abreissen sollte. Trotz allen Drohungen des Vaters konnte ich vor Weinen und Rührung seinen Befehlen nicht nachkommen. Wohl nahm ich die Taube in die Hand, aber ein Blick in ihre kleinen, flehenden Augen machte mich bis auf das innerste erschaudern. Ja, noch später, wo ich schon Mitglied der “revolutionären“ Schuldemokratie war, konnte mich eine Diskusssion so mitnehmen, dass ich Nächte lang weinte und und direkte Weinkrämpfe bekam. Geschlagen zu werden war für mich das schlimmste, fürchterlichste Unglück, das mich treffen konnte und ich war entschlossen, gleich dem Helden in meiner dramatischen Szene “Jung-Volk“, eher zu sterben als eine körperliche Züchtigung zu ertragen. Schlagen konnte ich nie. Diese fast mädchenhafte Weichheit ist mir umso unerklärlicher, als ich schon recht früh eine Masse Indianerbücher und Räubergeschichten lass, die doch sich nicht dazu angetan waren, diese Zartheit und Empfindlichkeit zu fördern. Heute noch kann das Leiden eines Anderen oder eine gewisse Naturstimmung, ja schon ein Bild oder ein Lied in meiner Seele die zartestes und weicheste Regung erwecken, die ich dann stammelnd in Verse auszudrücken suche. Der seit der frühesten Kindheit ungestillte Drang nach Liebe und zärtlicher Pflege lebt heute in unverminderter Stärke in mir und ist der stärkste Trieb, der mir die Feder in die Hand drückt. Auf die ersten Eindrücke in meiner Kindheit führe ich auch meine Antipathie gegen alles, was mit dem Militär in Zusammenhang steht, zurück. Für mich war jahrelang ein Soldat und ein betrunkener Raufbold ein und dasselbe. Ich hatte zu Hause einen zu guten Anschauungsunterricht genossen. In jedem uniformierten Menschen sah ich etwas von einem Henker. Durch das Studium wissenschaftlicher Untersuchungen, hauptsächlich einer Menge volkswirtschaftlicher Leh-ren, trat später an Stelle der gefühlsmässigen Abneigung gegen das Militärwesen mehr die bewußte Wertschätzung über die Rolle des Militärs im heutigen Staat. Trotzdem befürchte ich, dass, vielleicht unbewußt, auch heute noch die aus den ersten Eindrücken resultierte gefühlsmässige Antipathie nachwirkt. Kein Buch und keine Lehre und auch kein Resultat wissenschaftlicher Forschung wirkt ja so nachhaltig und tief auf uns, wie gefühlsmässig erworbene Eindrücke persönlichen Erlebens. Diese Erkenntnis ist es auch gewesen, die mich in den letzten Jahren auf eine Aende-rung der Unterrichtsmethode in der sozialistischen Bildungsarbeit drängen liess. An Stelle des toten Unterrichts abstrakter und theoretischer Begriffe sollte mehr und mehr die Erwerbung sozia-listischer Erkenntnisse auf dem Wege gefühlsmässiger eigener Er-lebnisse der zu Bildenden geschehen. Das, was heute zufällig geschieht, muss zu einer Lehrmethode ausgebaut werden. Ich verhele mir nicht die imanenten Schwierigkeiten, die einer völligen Lösung dieses Problems harren, aber es muss gelöst werden, soll die sozialistische Bewegung mehr als Parteisache, zu einer wirklichen Volks- und Kulturbewegung werden. Recht früh äusserte sich bei mir der Drang zu organisieren. Als Vierjähriger liebte ich neben dem “predigen“ nichts so sehr als das Organisieren der gespielten Hochzeiten, Feste etc. Ich verteilte die Rollen, stellte die Mitspielenden auf, bezeichnete den Weg, baute den Altar und so weiter. Später arrangierte ich Indianer- und Räuberspiele oder auch Theaterszenen. Als 12 jähriger führte ich ohne Auftrag und Weisung eine vaterländische Feier durch, an dem das halbe Dorf und die gesamte Jugend teilnahm. Und noch bevor ich mit der sozialistischen Arbeiterbewegung in Berührung kam, betätigte ich mich an der Gründung von Theaters und Fussballklubs. Woher dieser Drang kommt, kann ich mir freilich nicht erklären. Am schlimmsten hatte ich unter dem Furchtgefühl zu leiden, das sich von Jahr zu Jahr steigerte. Vor allem wurde die Angst vor dem Vater riesengross. Während ich in der frühesten Kindheit mich nur vor seinen harten und bösen Worten und vor den Schlä-gen fürchtete, hatte die immerwährende Drohung mit dem “Aufschiessen“ es soweit gebracht, dass ich schon als 8 jähriger, meinem Vater zutraute, mich zu ermorden. Diese Angst wuchs ins Unermessliche, als er in jener Zeit meinen Bruder zu erschiessen versuchte, der, mit Hemd und Hosen bekleidet, sich nur durch einen Sprung aus dem ersten Stock unseres Hauses retten konnte. Heute presst es mir noch die Kehle zusammen, wenn ich daran denke, wie ich als 8 jähriger vor jedem Einschlafen betete “Lieber Gott, mach, dass mein Vater mich nicht totschiesst.“ – Das Lesen einer Menge Indianerbücher, Räuber- und Gespenstergeschichten verkleinerten natürlich diese Furcht nicht und übertrugen sie nur noch auf andere Erscheinungen. Ich fürchtete mich vor dem Blitz, dem Donner, der Dunkelheit, vor hundert eingebildeten Gestalten, die meine gereizte Phantasie schuf, vor etwas grossem Unbekannten, vor dem Schicksal, vor Gott. Es hat lange, lange gedauert bis ich diese Furcht überwun-den hatte und ich jauchzend und durch ein inneres Kraftgefühl glücklich, in dunkelster Nacht durch die schwersten Gewitter wan-derte. Bei allem qualvollem, das mir die Angst bereitete, verdanke ich ihr doch viel. Aus Angst habe ich, bevor ich die moralische und sittliche Kraft kannte, das Schlechte gemieden und das Gute getan. Zu den nützlichen Eigenschaften, die ich der Kindheit verdanke, gehört ein stark entwickeltes Selbstständigkeitsgefühl. Das kommt wohl daher, dass sich nach dem Tod meiner Mutter eigentlich Niemand mehr um mich bekümmerte. Niemand beaufsichtigte oder half mir bei meinen Schulaufgaben, erkundigte sich nach meinem Wohlergehen, Niemand nahm sich meiner an. Hatte ich etwas getan oder nicht getan, was des Vaters Zorn reizte, bekam ich eine gute Portion Prügel und ging, wie stets, weiter meine eigene Wege. Ich glaube nicht an ein das Leben bestimmendes Schicksal und noch weniger an eine göttliche Vorsehung, wenn ich aber meine ersten Lebensjahre zergliedere und analysiere, komme ich doch zu der Ueberzeugung, das die mitunter unbewußt empfangenen Eindrücke und vor allem die der frühesten Jugend einen starken Einfluss auf unser Gefühls- und Seelenleben ausüben und so doch indirekt unser Leben mitbestimmen.

Die Schulzeit.

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Meine Schulbildung wurde durch einen häufigen Wohnungs-wechsel der Familie sehr erschwert. Im ganzen besuchte ich an acht Orten, meistens kleinen Bauerndörfern, die Schule. Der dort gebotene Unterricht war mehr als dürftig. Die Hauptsache war Religion und dieser Unterricht beschränkte sich auf das Auswendiglernen von Bibelsprüchen und Gesangbuchversen. In der Geographie kam man über das Herzogtum Gotha nicht hinaus. Die ganze Jämmerlichkeit der sonst so hoch gelobten deutschen Volksschule wird recht treffend durch folgenden Vorfall gezeichnet, der sich in einem Dorf in der Nähe unserers Wohnortes zutrug. In einer Gemeindeversammlung stellte der Lehrer den Antrag, eine Karte von Europa anzuschaffen. Da steht ein biederes Bäuerlein auf und sagt “Wozu brauchen wir eine Karte von Europa, dorthin kommt doch keiner von uns!“ Meine schwächsten Seiten in der Schule waren Singen, Schönschreiben und Turnen. In diesen drei Fächern wurde ich nie Meister, während ich im Rechnen, im Aufsatz, in Geschichte etc. stets eine gute Note errang. Eine besonders qualvolle Zeit war es für mich, als der Vater plötzlich den Einfall bekommt, ich müsse Klavierspielen lernen. Jedenfalls versprach er sich durch etwas Musik in der Wirtschaft einen besseren Besuch, das Unglück aber war, dass ich absolut kein Talent und noch weniger Lust zum Musiker hatte. Dazu kam die Pferdekur meines Vaters, um mir dieses beide fehlende beizu-bringen. Mitunter musste ich 6. 7 und noch mehr Stunden am Kla-vier sitzen und ohne Pause spielen. Diese Tortur wurde dadurch nicht angenehmer, das ich begreiflicherweise im Anfang nur weni-ge Accorde spielen konnte. Ueber ein Jahr dauerte die Qual. Ich hatte es soweit gebracht, das Lied, “Guter Mond du gehst so stille“ – spielen zu können. Wieder musste ich eines Tages mehrere Stunden ununterbrochen spielen ohne Aussicht, erlöst zu werden. Der Vater hockte wie gewöhnlich berauscht auf seinem Stuhl. Im Vertrauen auf den Rausch erwiderte ich, als er frug, was ich spiele, den “Torgauer Marsch“. Das war sein Lieblingsstück und ich hoffte damit los zu kommen. Sei es aber nun, dass er nicht genügend berauscht war und die Töne noch unterscheiden konnte oder war ihm der Marsch so bekannt, dass er ihn auch im ärgsten Rausch unterscheiden konnte, auf alle Fälle erkannte er meine Lüge. Die Folge war ein Mordslärm, eine tüchtige Tracht Prügel. Im Eifer hieb er mit der Kette, die diesmal zur Züchtigung diente, in der eine damals noch üblichen Petroleumlampen, die dabei in Scher-ben ging. Eine neue Ursache, die Prügelei fortzusetzen: “Wegen Dir Lump muss ich eine neue Lampe kaufen“, rief er aus und Schlag folgte auf Schlag. Schliesslich holte er einen Strick, einen guten, neuen Strick, und forderte mich auf, mich aufzuhängen. Wenn ich am andern Tag noch lebte, würde er mich totschlagen. Ich nahm den Strick und ging nach dem Boden mit festem Vorsatz, dem Verlangen nachzukommen. Denn nie wäre es mir eingefallen, den Befehlen meines Vaters zu trotzen oder mich zu widersetzen.Freudige Gefühle freilich waren es keine, die mich bewegten. Ich dachte an den Schulausflug der bald sein sollte, und verschiedene Gespiele und Kameraden, an meinen Bruder und ganz zart und schwach noch an die verstorbene Mutter und die ersten Kindheits-tage und schlief dabei mit dem Strick in der Hand ein. So fand mich meine Stiefmutter und damit endeten meine musikalischen Studien. Eine besondere Quälerei war für mich auch die Beschaffung der nötigen Lehr- und Lernbücher. Derselbe Mann, der tausende für Jagden und seine Leidenschaften ausgab, liess mich mehrmals um 10 Pfenning für ein Schreibheft bitten und machte den grössten Skandal, bevor er sie gab. Darunter litt ich schrecklich. Ebenso unter den zerrissenen Kleidern und zu grossen Schuhen, mit denen ich zur Schule musste. Ich war oft das Gespött der übrigen Kinder. Ein alter Rock des Vaters, der mir fast bis auf die Schuhe reichte, trug mit den Spitznamen “Schwenko“ ein. Vor der Konfirmation fieberte ich geradezu und dachte an Selbstmord, da ich keinen Anzug und keinen Kragen bekommen sollte. Schliess-lich legte ich einen Kragen meines Vaters an, der mindest 55 cm hatte, während mein Hals höchstens 35 war. Ich half mir, indem ich in die Mitte des Kragens ein Loch schnitt und den Kragen ander-thalbmal um den Hals legte. Was litt ich nicht allein an diesem Tag. Vor Scham drohte ich zu ersticken. Unzählig sind die Leiden, denen ich als Kind ausgesetzt war. Mitten in der Nacht, wenn der letzte Gast die Wirtschaft verlassen, weckte mich mein Vater und zwang mich, nur mit dem Hemd bekleidet, die Gläser und Flaschen zu putzen. Er war betrunken und konnte nicht unterscheiden, ob ein Glas geputzt oder ungeputzt war und so musste ich Gläser vier, fünf und noch mehrmals reinigen. Ein Glück, wenn er so betrunken war, dass er bald einschlief, dann stahl ich mich leise davon, zurück in das Bett und weinte bitterlich. Ich war noch nicht zehn Jahre, da weihte mich der Betrunkene mit den schmutzigsten Zoten in die Geheimnisse des Ehelebens ein und führte in meinem Beisein die eindeutigsten Griffe an dem Körper meiner Stiefmutter aus. Das Blut schoss mir in die Wangen und ich verbarg den glühenden Kopf hinter einem Zeitungsblatt. Er riss es weg, ein echter Wirtssohn muss alles wissen und du bist alt genug dafür“, schrie er dazu. Selbst wenn der Lehrer und Pfarrer als Gäste daweilten scheute er sich nicht, die dreckigsten Zoten zum Besten zu geben. Und nur die dringlichsten Vorstellungen dieser Männer brachten in soweit, dass ich dann das Zimmer verlassen durfte. Von allen zehn Geboten schien mir zuerst das vierte für unwahr und unrichtig. Wie konnte ich einen Vater ehren und lieben, der sich schlimmer und schmutziger als ein Tier benahm? Hier setzten zuerst meine Zweifel an der Richtigkeit der göttlichen Ge-bote und Gesetze ein. Als Zehnjähriger musste ich mitunter schon selbstständig die Wirtschaft leiten. Der Vater war auf der Jagd und die Stief-mutter klatschte in der Nachbarschaft. Ich bediente die Gäste, spielte mit ihnen Karten und politisierte wie ein Alter. Die Berichte über die Reichstagsverhandlungen war mir das erste, was ich regelmässig las und verfolgte. Und damals erregte der Burenkrieg alle Gemüter auf das heftigste. Ich war Feuer und Flamme für die Buren und verteidigte sie in der Wirtschaft genau so tapfer wie in der Schule gegen die Kameraden. Ich fraternisierte direkt und erfand selbst Geschichten, um den Mut und die Tapferkeit der Buren im hellsten und herrlichsten Licht erstrahlen zu lassen. Ja, ich traf sogar Vorbereitungen auszuwandern und ihnen zu helfen. Deshalb schnitt ich das Futter meines Rockes auf und füllte diesen mit Proviant. Das wurde entdeckt bevor ich ab-reisen konnte und die Folge war natürlich eine tüchtige Tracht Prügel, umso mehr, als ich nicht die schlechteste Wurst gewählt hatte. Meiner Begeisterung für die Buren tat das aber keine Einbusse. Wie früher, so summte ich auch danach noch während des ganzen Tages “Die dreifarbige Fahne für s Transvaaler-Land, auf Buren beschützt sie Gwehr in der Hand.“ Eine ähnliche grosse Begeisterung erlebte ich erst 1905 wieder und zwar für die russische Revolution. Damals kaufte ich mir eine Schrotpistole für 2,50 Mark und wollte allen Ernstes nach Petersburg, den Zaren töten. Meine Freunde hatten nicht wenig Mühe, mich von dem verrückten Gedanken abzubringen. Ein Lichtschimmer in das tägliche Grau meiner Kindheit schaffte mir die Freundschaft mit einem gleichalterigen Schulkameraden, dem Sohn begüterter Bauern. Bei ihm brachte ich jede Stunde freie Zeit zu. Wir fuhren auf das Land, trieben uns im Stall und in der Scheune herum, rauften, spielten, assen Beeren und Aepfel, wenn sie reif waren, mitunter auch schon vorher. Am liebsten aber zogen wie auf die Jagd, bewaffnet mit Pfeil und Bogen. Ein toter Rabe oder eine andere Tierleiche, die wir fandenm, wurden als stolze Trophäen des Jagdzuges heimgebracht. Einmal erschreckte uns eine Hase, der jäh aufsprang, fast bis zum Tode. “Das war kein richtiger Hase, das war ein wilder Hase“ – versuchten wir unsere Angst zu entschuldigen. – Ich war noch nicht 13 jahre, da hatte der Vater nicht nur den Verdienst der vielen Jahre und die erheirateten 20000 Mark verlumpt, sondern auch noch obendrein Schulden gemacht. Die Familie war gezwungen, die Wirtschaft aufzugeben. Der Vater zog in die Stadt zur Miete. Jetzt begann die traurigste Zeit meiner Kindheit. Arbeiten konnte der Vater nicht, hatte es nie gelernt und so lebte die Familie von dem Verdienst der Stiefmutter, den diese als Waschfrau verdiente und das war kläglich genug. Die entbehrlichsten Möbelstücke wurden gerichtlich beschlagnahmt und zwangsweise verkauft. ich wagte nicht mehr mich satt zu essen und würgte an den wenigen Bisse, die ich mir zu nehmen getraute. Dazu kam, dass ich nun, das letzte Jahr in die Stadtschule musste, wo ich mit meiner sechsjährigen Dorfschulbildung gerade keine beineidenswerte Rolle spielte. Ich gab mir redlich Mühe, nachzukommen und einigermassen zu folgen und bis zu einem gewissen Grad ist mir das auch gelungen. Dieses letzte Schuljahr gehörte zu jenen, in welchem ich am meisten profitierte. Aber eine Szene bleibt mir unvergesslich. Wir hatten Religions-stunde, plötzlich krachte ein Schuss. Alles horcht auf, wer ist das gewesen? Der Lehrer ist wütend. Niemand meldet sich. Jeder Einzelne wird streng und aufs Gewissen gefragt. Niemand bekennt. Es beginnt eine peinliche Untersuchung. Bei mir wird eine Pistole, aber kein Pulverblättchen gefunden. Der Lehrer brüllt mich an, “Gestehe, Du bis es gewesen“. Der Wahrheit entsprechend sage ich nein. Da meldet sich ein Schüler und erzählt, dass ich noch gestern Pulverblättchen gehabt hätte, ich gebe das zu, sage aber, dass ich diese gestern alle beim Spiel verbraucht. Der Lehrer glaubt das nicht. Ich muss mich überlegen und der Lehrer haut los. “Gestehst Du nun, bist du es gewesen“ – frägt er nach einer Pause. “Nein“, schrie ich. Er prügelte weiter. “Bist Du es gewesen?“ – Nein. “Gestehe oder ich schlage eine halbe Stunde“. – Ich war es nicht. Der Lehrer lässt von mir ab. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, eine halbe Stunde Prügel zu bekommen, aber um keinen Preis in der Welt hätte ich etwas zugegeben, was ich nicht getan hatte. Der Lehrer war sonst gerecht und ich kam gut mit ihm aus. Verdienter war eine Züchtigung, die ich bei einer anderen Gelegenheit erhielt. Das Schreiben war immer noch mein Steckenpferd und fast täglich mussten wir Aufsätze zu Hause schreiben. Jeden Tag kam dann der oder jener daran, seinen Aufsatz vorzu-lesen. Bei dieser Gelegenheit verstand ich es vortrefflich, mich klein zu machen und kam nie daran. Das Glück machte mich kühn. Ich schrieb nie mehr einen Aufsatz. Da, eines Tages, brach das Verhängnis über mich herein. “Aufsatzhefte vor“ M. lese deinen vor“. Das war leichter verlangt als getan. Zum Glück hatte ich Geistesgegenwart genug und erzählte, die Augen auf das Heft gerichtet, frech eine Geschichte. Der Lehrer schwieg und schon glaubte ich mich gerettet. Da plötzlich “Münzenberg bring mir mal dein Buch vor“. Die Schandtat wurde entdeckt und die Strafe folgte der Sünde auf dem Fusse. Uebrigens war das Jahr unter den gereiften und erfahrernen Stadtburschen von heilsamen Einfluss auf meine Schüchternheit. Wenn ich sie auch nicht völlig verlor, so wurde sie doch stark gemildert. Ein um so grösserer Nachteil waren für mich die Unmenge Indianer- und Räuberhefte, deren Inhalt ich geradezu verschlang. Ausser hunderten von Indianerbüchern hatte ich 100 Hefte Buffalo Bill, 100 Hefte “Räuberhauptmann Fetzer“, 100 Hefte “Der Königsmord in Belgrad“, 100 Hefte “Lebendig begraben“ und eine Masse ähnlichen Schund gelesen. Ueberhaupt war ich in den letzten Schuljahren und in den ersten Jahren nach der Schulentlassung direkt wie versessen auf das Lesen. Ich las alles was mir in die Hände kam, und schleppte alles, was ich gedrucktes fand, nach Hause. Alte Fahrpläne, Kataloge, Schulbücher, Kalender, Zeitungen, Indianerhefte, wissenschaftliche Bücher, von denen ich keinen Deut verstand, alles, alles wurde zusammen-gefasst. Vor meinem Vater verbarg ich die Schätze geschickt, meine Stiefmutter tobte und prophezeite mir, das mich das Zeug an den Galgen bringe. Die unwahren, abenteuerlichen Geschichten raubten mir jeden Sinn für die Wirklichkeit. Nachts lag ich wach und träumte vor allen möglichen Heldentaten und wünschte mir nichts sehnlichster, als ein Haus voll Bücher. In den glühendsten Farben malte sich meine Phantasie die damit möglichen Genüsse aus. Die Frage meines Vaters, was ich nun werden wollte, traf mich ein kalter Wasserstrahl. Daran hatte ich freilich nie gedacht. Lesen, das war mein einziger Wunsch, sonst wusste ich nichts und verlangte nichts. Der Vater enthob mich weiteren Sorgen und be-stimmte, das ich Coiffeur werden sollte. Mir war es recht, weil mir alles gleich war.

In der Lehre

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Eine Lehrstelle hatte mein Vater bei einem Bekannten bald gefunden. Der Meister glich meinem Vater fast aufs Haar und zwar nicht körperlich, auch in seinem Wesen und Betragen. Wie mein Vater, so trank der Meister, wenn auch nicht gar so viel und war genau wie mein Vater ein alter Zünftler und Erzreaktionär, für den die Erinnerungen an das Soldatenleben der einzige Stolz war, der sich in der dümmsten und lächerlichsten Weise äusserte. Das Geschäft ging gut und ausser dem Meister und mir waren zwei Gehilfen und ein weiterer Lehrling beschäftigt. Die ersten Tage gefielen mir nicht übel und ich beschloss zu bleiben. Mein Vater hatte unterdessen das Glück noch einmal versucht und ohne Geld und Kapital eine Wirtschaft gepachtet. Bei dem Einzug fehlte es ihm an dem Notwendigsten. Das Bier schickte die Brauerei auf Borg, und ein mitleidiger Kaufmann lieh die wichtigsten Lebensmittel. Ohne eine Mark Geld in der Tasche wurde die Wirtschaft übernommen. Wie gesagt, an Unternehmungsgeist fehlte es dem Alten nicht. Wir hatten es abgelehnt, dass ich bei dem Meister Wohnung nehme und so maschierte ich alle Morgen den halbstündigen Weg nach der Stadt und am Abend zurück. Das war aber für mich ein Genuss und machte mir Spass. In der Lehre gefiel es mir aber je länger, je weniger. Vor allem eckelte mich die Unsauberkeit an. Das Frühstück und der Nachmittagskaffee wurden in einer Ecke des Ladens genommen, wo Haararbeiten verrichtet wurden. Die Fett- oder Butterbrote mussten dann immer erst von Haaren gesäubert werden. Auch die Liebdienerei gegen die Kunden, das dienen und bücken behagte mir nicht. Der Meister war nervös und zumal bei starkem Besuch, meistens Samstags, gereizt. Der Laden war mit Kunden überfüllt und Meister und Gehülfen hatten alle Hände voll zu tun, der Meister bis zum äussersten geladen. Ich bemühte mich, so wenig zu stören wie nur möglich und zu helfen, wo ich nur konnte. Oeffnete die Türe, bot den Kunden Feuer an, räumte auf u.s.w. Aber bei aller Geschäftigkeit konnte ich ein gewisses Unbehagen nicht los werden, ich fühlte mich eigentlich recht überflüssig in dem Betrieb. Da schreit mich plötzlich der Meister an: “Geh heim, dummer Junge, wenn du nicht anderes kannst als Maulaffen feil halten“. Ich froh, auf eine so billige Art loszukommen, nahm flugs meinen Hut und verschwand, ohne grossen Abschied zu nehmen. Aber ich hatte noch nicht die rettende Haustüre erreicht, packt mich der Meister am Kragen “Was, das könnte Dir so passen. Dein alter Meister schuftet sich so tot und Du drückst dich. Hier bleibst Du“. Mit diesen Worten warf er mich in die Ecke, das mir alle Knochen knakten. Gehorsam blieb ich auf dem Stuhl wie festgenagelt sitzen und denke darüber nach, wie schwer doch eigentlich das Leben ist. Da befiehlt mir der Meister, ich soll heimgehen, ich beeile mich, seinem Befehl nachzukommen und nun – – – Meine Grübeleien werden vom Meister unterbrochen, der mich stürmisch empor reisst und mit den Wort “Du fauler Hund, willst Du nicht arbeiten“- nach vorn stösst und einige Ohrfeigen runter haut. Das Leben erscheint mir immer verwickelter und schwerer. Wie mans macht, ist es verkehrt. Die Arbeitszeit dauerte von morgens 6 bis abends ½ 9 Uhr, ohne Pause. Am Samstag bis 10 Uhr. Am schwersten fiel mir die Sonntagsarbeit, wo ich von 7. – 1 Uhr arbeiten musste. O, wie so gern wäre ich mit anderen Kameraden durch Feld und Wald gestreift und hätte so gern an ihren Wanderungen teilgenommen. Mir war es todestraurig zu Mute und ich weinte mitunter bitterlich. Und trotzdem hätte ich die Lehre durchgehalten, wenn wir nicht einen neuen Gehilfen bekommen hätten. Sein Vorgänger war freundlich zu mir und unterwies mich spielend in vielen Handgriffen unseres Berufes. Der Neue war jung, kaum ausgelernt und bildete sich wunder was ein, das er nun Stifte unter sich habe. Sein Benehmen forderte unsern Trotz heraus und den wollte er mit Schimpfereien und Schlägen bezwingen. Schlagen wollte ich mich aber auf keinen Fall mehr lassen, wir wurden handgemein und da er der bedeutend stärkere, unterlag ich stets. Er scheute vor keiner noch so rohen Handlung zurück. Das Zimmer war niedrig, vielleicht 2½ m. hoch, er nahm mich, stemmte mich gegen die Decke, dass der Kopf krachend gegen die Decke schlug. Dann wieder nahm er einen Stein und schlug mich damit auf den Kopf. Die Folge davon war eine Gehirnerschütterung und man brachte mich schleunigst ins Spital, die Aerzte zweifelten an meinem Aufkommen. Und ich überstand es doch. Am Tage meiner Entlassung bereitete mich der Arzt auf die schonenste Weise darauf vor, dass mein Vater – den ich nie vermisste – nicht mehr lebe. Am gleichen Tag, als ich in das Spital gebracht wurde, hatte er sich vollständig berauscht, erschossen. Ein anderer Ausweg war ihm nicht mehr geblieben. Der Bruder kam, um die Wirtschaft bis zum Konkurs, der uns das Letzte rauben sollte, zu leiten. Mir war die Lust am Coiffeurberuf gründlich vergangen und obendrein fehlten jetzt auch die Mittel, um das Lehrgeld zu zahlen. Ich blieb einige Zeit bei meinem Bruder in der Wirtschaft, ging dann auf Anraten meiner Schwester, die nach dem Tode des Vaters uns wieder besuchte, in eine Schuhfabrik. Damit begann eine neue Phase meines Lebens. Eine ganz neue, unbekannte Welt tat sich vor mir auf. Die letzte Verbindung mit der Familie war ge-löst. Ich stand allein, nur auf mich angewiesen aber nun allein auch Herr über mein Tun und Lassen. Damals zählte fünfzehn Jahre.

In der Fabrik

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Es war eine der grössten Fabriken am Orte, in die ich eintrat, sie beschäftige mehr als fünfzehnhundert Arbeiter. Ich wurde in der Zwickerei als Leistensortierer angestellt, d. h. ich musste mit einem kastenähnlichen Karren von einem Arbeiter zum anderen fahren und die nicht mehr nötigen Leisten sammeln, nach Regalen bringen und dort in bestimmte Fächer sortieren. Am ersten Tag war ich von dem Lärm und Kreischen der Maschinen, von dem Klopfen und Pochen der Hämmer und von den vielen Stimmen wie betäubt. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass ich mich jemals in diesem Betrieb zurecht finden könnte. Ich hatte tatsächlich im-mer Angst, mich zu verirren. Und es dauerte mehrere Tage bis ich mich einigermassen an den Lärm gewöhnt hatte. Die gleiche Arbeit wie ich verrichteten noch zehn gleichaltrige Burschen, das wurden nun meine Freunde. Mit ihnen sass ich zusammen während dem Frühstück, Mittag & Vesperbrot. Mit ihnen ging ich nach Hause und brachte später die Abende zu. Ihr Verkehr half mir dann auch am meisten, die Schüchternheit und die Angst, die ich noch nach Wochen in der Fabrik vor dem ungewohnten Leben und Treiben empfand, zu überwinden. Die älteren Arbeiter behandelten die jüngeren, mit wenigen Ausnahmen, grob und brutal. Die meisten verkehrten nicht anders als mit Schimpfwörter mit ihnen und manche misshandelten und warfen mit Leisten, Schuhen und anderen Gegenstände. Die Arbeit war nicht schwer, der Lohn im Anfang 4,50 Mark. Das war wenig, sehr wenig. 2 Mark musste ich pro Woche für Logis und Morgenkaffee zahlen, blieben mir noch 2,50 Mark für Nahrung, Kleidung und alle weiteren Ausgaben. Da hiess es sparen, wo dies möglich war. Am Morgen nahm ich etwas Kaffee & Brot, am Mittag leistete ich mir ein Stückchen Wurst dazu. Für 20 Pfennig Abfallwurst reicht mitunter für zwei Tage. Das gleiche Menü am Abend. Von einem Bedürfnis nach geistiger Nahrung hatte ich damals zum Glück noch keine Ahnung, sonst hätte ich jene Jahre wohl kaum überlebt. Die ersten Jahre in der Fabrik verbringe ich wie in einem Dämmerzustand, ein Tag reiht sich in gleicher Eintönigkeit und im gleichen Grau an den anderen. Am Morgen haste ich in Gemeinschaft mit vielen hunderten nach der Fabrik, am Abend müde nach Hause. Nie kommt mir der Gedanke, ja, ich glaube, sogar nie der Wunsch, dass es anders sein könnte, einmal anders werden. Ich sehe weder Frühling, Sommer, Herbst, noch Winter, weder grüne Bäume, noch welkes Laub, höre kein Vogelsang, geschweige Musik oder Konzert. Ich bin gefühls- und empfindungslos gleich den Maschinen geworden, die in der Fabrik sausen und und stampfen. Meine Welt ist mein Arbeitsplatz. Mein Einkommen vergrösserte sich etwas dadurch, dass ich für die Arbeiter Frühstück einkaufen gehe, dafür erhalte ich pro Woche 10 oder 15 Pfennig. Mitunter brachte ich es auf über 20 Kunden, die ich bedienen durfte. Der Lohn stieg langsam und erst nach mehreren Jahren hatte ich es auf 8 Mark gebracht. In Deutschland besteht der obligatorische Fortbildungsunterricht, den jeder Lehrling und junge Arbeiter bis zum 18. Lebensjahr be-suchen muss. Es wird etwas Rechnen, Schreiben, Buchhaltung und Vaterlandskunde gelehrt. Der Unterricht wir zwei Mal in der Woche nach der Arbeitszeit erteilt. Ich habe dabei wie wohl alle anderen Schüler auch, herzlich wenig gelernt. Wir waren zum lernen zu müde und bemühten uns, den Lehrer zu verulken. Die Abende brachte ich mit meinen Arbeitskollegen zu. Wenn wir nicht Räuberhefte lasen, trieben wir uns in den Strassen herum und trieben lauter Dummheiten. Eine Zeit lang standen wir im Banne ein Schundromanes über die Freimauerer. Wir trafen Vorbereitungen, eine ähnliche geheimnisvolle Gesellschaft zu gründen, hockten in der finstersten Nacht in dunkeln Ecken und Abflusskanälen, zeichneten Totköpfe auf Arm und Brust, beschlos-sen Blutbrüderschaft zu trinken. Der Plan scheiterte, da wir kein passendes Getränk fanden, mit dem wir unser Blut trinken konnten. Bier und Limonade war uns doch zu prosaisch und für Wein hatten wir kein Geld. Auch trieben wir uns oft und gern in den Anlagen herum und erschreckten die Leute und belauschten und störten die Liebespäärchen. Ein nicht geringer Schreck fuhr mir anlässlich einer solchen Razzia durch die Glieder als ich im dichtesten Gebüsch auf eine Dirne stiess, die dort ihr horizontales Gewerbe betrieb und ihr Liebhaber, erbost über die Störung, mir drohte “das Messer in den Bauch zu stecken“. Einen Heidenspass machte es uns stets, Streichhölzer zu spitzen, diese zwischen den Druckknopf des elektrischen Läute-werkes in den Bordells zu stecken. Das Hölzchen wurde abgebrochen und dann läutete die Glocke zum Aerger der Einwohner und der Nachbarschaft stundenlang. Mehrmals besuchten wir auch die Versammlungen des christlichen Vereines junger Männer und die Veranstaltung eines vaterländischen Knabenhortes. Wir waren aber für diese frömmelde Unterhaltung zu gereift oder zu verdorben, wenn man will. Wir ärgerten den Lehrer und den Pfarrer und brachten Unruhe und stellten das ganze Programm in Frage. Teils blieben wir dann freiwillig weg, teils warf man uns hinaus. Da versuchten wir es mit der Heilsarmee, die in jenen Tagen ihr erstes Lokal eröffnet hatte. Dort sein ein Gaudium, versicherten mir meine Freunde und ich ging mit. Ich gestehe, dass mich die Gesänge und Gebete anfangs andächtig stimmten und mir recht beklommen zu Mute war. Das dauerte aber nicht lange. Als ich sah, wie die Betenden die schnödesten Witze unter den Bänken rissen und dort den Mädchen in die Beine kniffen, war es mit meiner Andacht vorüber. Es dauerte nicht lange, bis man uns auch da hinauswarf. Wir beschlossen jetzt, selbst einen Verein zu gründen. Ich wurde Präsident. Was wir eigentlich wollten, wusste keiner. Fidel und lustig sollte es zugehen. Wir spielten Karten, der Gewinn kam in die gemeinsame Kasse und wurde alle vier Wochen in Leberwurst und Bier angelegt. Daraus entwickelte sich dann ein Fußballklub. Eine Zeit lang hatten wir für nichts mehr Sinn als für das Fussballspielen. Dann wollte einer noch etwas lustigeres wie die Heilsarmee entdeckt haben, einen Verein, der sich “Propaganda“ nannte. Ein Name, den ich nie gehört hatte und den auszusprechen mir im An-fang viel Mühe machte. Dabei muss ich bemerken, das ich sehr schwer sprechen gelernt hab und bis zum zwölften Jahre stotterte. Ich vermutete hinter dem Namen etwas fremdes, geheimnisvolles und wir beschlossen, zu gehen, um Spass zu haben. Ich ahnte nicht, welche entscheidende Rolle der Verein in meinem Leben spielen sollte. Heute weiss ich, dass ich damals in der kritischen Phase meines Lebens stand, und das sich damals, unbewusst wie fast immer, sich mein Lebensschicksal entschied. So wechselreich auch später mein Leben wurde und so wechselreich es gerade heute zu werden droht, und so grosse und mein Wesen mitbestimmende Einflüsse auch in späteren Jahren auf mich einstürmten, im Verhältnis zu der damaligen Entscheidung sind sie unbedeutend und untergeordneter Natur. Unbewusst und ahnungslos kam ich durch das Aufsuchen des Vereins “Propaganda“mit jenem Sturm in Berührung, der stark genug war auf dem vollständig unvorbereiteten Boden später doch geistiges und seelisches Leben zu erwecken. Je älter wir wurden, umso weniger wollten wir uns damit begnügen, die Frauen zu ärgern und andere zu ihnen gehen zu sehen. Immer stärker wurde in uns der Drang, den geheimnisvollen Schleier zu lüften und jene Herrlichkeiten zu kosten, von den die ältern Arbeiter schwärmten und erzählten. Dazu kam das Leben in der Fabrik. Der Betrieb der Schuhfabrik bringt es mit sich, dass Frauen & Mädchen mit Männern und Burschen in einem Saal arbeiten. Die unzüchtigsten Reden wurden dann tagsüber gewechselt und die Witze waren schon nicht mehr derb, sondern zynisch, frech und gemein. Und die Frauen zahlten mit gleicher Münze und im gleichen Jargon heim, wie sie von den Männern behandelt wurden. Die Keuschen galten als Dummköpfe & Schwächlinge. Für uns Jugendlich war die Situation noch dadurch gefahrvoller, dass wir nach dem Gesetz das Frühstück und Vesperbrot ausserhalb es Arbeitsraumes einnehmen mussten. Bei schönem Wetter sassen wir im Strassengraben, bei schlechtem Wetter mussten wir uns in den Keller flüchten, wo stets ein gefährliches Halbdunkel herrschte. Mädchen und Burschen waren zusammen. Das musste natürlich die reine Treibhaustemperatur für geschlechtliche Reize geben und das Herumzerren und Pressen nahm dann auch kein Ende. Mit 17 Jahren, die meisten schon früher, hatte jeder seinen “Schatz“. Das heisst ein Mädchen, mit dem er von der Fabrik heimging, der er Samstags ein Stück Chocolade kaufte und am Sonntag in den Kino zu führen, um dann am Abend recht lange bei ihr in der Haustüre zu stehen und als Entgelt für das Gebotene sie zu küssen, zu pressen und wenn möglich, zu gebrauchen. Dieses Leben und Treiben ist so stark eingewurzelt, dass Jeder, der daran nicht teilnehmen will oder kann, als ein armer, bedauernswerter Kranker betrachtet und behandelt wird. Und die so leben, sind nicht einmal die niedrig stehensten. An eine Szene erinnere ich mich dabei jetzt, die ich bald nach meinem Eintritt in die Fabrik erlebte und über die dabei sich äussernde weibliche Roheit ich heute noch staune. Es war an einem Herbstag Abend, obschon nicht allzu spät, doch schon dunkel, als ich für den Meister einen Weg in einen anderen Saal besorgen sollte, dabei musste ich an dem Raum vorüber, wo die Leder- und Lumpenabfälle lagerten. Daraus hört ich ein ängstliches Wimmern, ich trat näher und sah, wie vier oder fünf ältere Mädchen einem 14 jährigen Burschen unter gellendem Lachen an dem Geschlechtsteil zerrten und rissen. – Natürlich stand nicht alle auf dieser Stufe, es gab wohl auch Ausnahmen, doch waren diese selten, sehr selten. Bis dahin, bis zu meiner Bekanntschaft mit dem Verein “Propagangda“ hatte mich ein gütiges Geschick vor dem Aeussersten bewahrt. Natürlich keine moralischen oder sittlichen Ewägungen, die waren mir so fremd wie böhmische Dörfer. Viel-leicht das Fehlen der Gelegenheit und die Erschwerung durch meine geringen Mittel, die mir nur kostenlose Vergnügen erlaubten. Dazu (auch) hat sich auch meine kleine, verhungerte Gestalt keine besonders grosse Anziehungskraft auf die Mädchen ausge-übt. Aber darüber bin ich mir heute klar, dass es so lange nicht mehr gegangen wäre. Ein Glück, hätte ich als satter Arbeiterspiesser geendet, aber bei meinem Temperament und meiner Leidenschaft dürfte es kaum glimpflich abgegangen sein.In diese kritischen Tage fällt meine erste Bekanntschaft mit dem Arbeiterbildungsverein “Propaganda“ und dadurch mit der sozialistischen Arbeiterbewegung.

Die erste Zeit in der Bewegung

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Nach langerm Zögern und Zauderbn fassten wir, unserer vier oder fünf, endlich Mut und machten uns auf, den geheimnisvollen Verein “Propaganda“ zu besuchen. Aber am ersten Abend gelangten wir nur bis in die Wirtschaft, in deren oberen Räumen der Verein seine Versammlungen abhielt, dort sassen wir, klopften Karten und musterten scheu die Besucher, die nach dem oberen Saal stiegen. Nachzufolgen fehlte uns der Mut und wir kehrten unverrichteter Sache nach Hause zurück. Zum zweiten-mal, einige Wochen später, begleitete mich nur ein Kollege, den andern war die Lust vergangen. Diesmal nahm sich ein älterer Genosse, jedenfalls durch den Wirt aufmerksam gemacht, unserer an und wir folgten ihm nach oben. Dort waren zirka 15 bis 20 junge Männer im Alter von 23 – 35 Jahren versammelt, wir waren also bei weitem die Jüngsten. Die meisten waren Metall- und Schuhfabrikarbeiter. Was an jenem Abend ging und besprochen wurde, ist mir vollständig unklar geblieben. Als in heimging wusste ich vom Wesen und den Aufgaben des Vereins genau so viel, als vorher. Zwei oder drei weitere Besuche brachten mich ebenfalls nicht weiter, da verleidete auch mir die Sache und ich beschloss, wie der zu meinen alten Kameraden zurückzukehren. Da wurde ich krank und musste vier Wochen von der Arbeit fernbleiben. Während dieser Zeit besuchte mich mehrmals ein Mitglied des Vereins, brachte mir Bücher und Broschüren und wir plauderten. Jetzt war mein Interesse geweckt und sobald ich das Zimmer verlassen durfte, suchte ich die Genossen wieder auf und versäumte fernerhin keine Versammlung. Bald war mir nun auch der Zweck des Vereins klar. Der ungeheure wirtschaftliche Auf-stieg Deutschlands in den neunziger Jahren, der in überraschend kurzer Zeit Deutschland zu einem der ersten Industriestaaten und der Weltmächte der Erde machte, hatte eine nach Millionen zähl-ende Arbeiterschaft geschaffen. Die Fesseln des Sozialistengesetzes waren gefallen und die sozialdemokratischen Organisationen schossen wie Pilze nach einem warmen Regen aus der Er-de. Die Partei eilte von Erfolg zu Erfolg und errang in den Städten, an den Landtagen und im Reichstag Mandat um Mandat, die Stimmen ihrer Wähler zählte schon bei der Wahl 1903 nach Millionen. Diese Riesenerfolge verblüfften und die Sozialdemokratie, bis jetzt nur eine Partei der Kritik und der Negation, sah sich plötzlich vor die Aufgabe praktischer Mitarbeit gestellt. Bald wurde in der politischen Tagesarbeit und durch die Gegenwartsforderungen das grosse Endziel, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel vergessen. Der Partei strömten eine Masse bürger-licher Elemente zu, hoffend, durch die schnell erstarkende Macht der Partei Amt und Einfluss zu gewinnen. Der Boden für den Revisionismus war vorbereitet und um die Wende des Jahrhunderts setzte dessen Propaganda kräftig ein. Der Gegenwartser-folg ist alles, der Glauben an eine proletarische Revolution roman-tische Hirngespinnste, das war die Losung. Da kam die russische Revolution und krachte wie ein Schlag ins [Auslassung in der Abschrift ](ins Kontor? ins Gesicht? ). Der Riesenstreik Millionen unorganisierter, die Eroberung Moskaus, die Meutereien der Schwarzseeflotte u. s. w. Die revisionistischen Ideen des westeuropäischen Proletariats verhinderten, dass dieses sich zu einer Solidaritätsaktion erhob und so der volle Sieg der russischen Arbeiter möglich machte. Dank der Ruhe der westeuropäischen Arbeiter eilte das französische Kapital dem bedrängten Zarismus zu Hilfe und Wilhelm II. stellte an der russischen Grenze Soldaten bereit, um, wenn nötig, mit Kriegsmacht dem bedrängtem Vetter auf dem Zarentron zur Hilfe zu eilen. So wurde die russische Revolution geschlagen. Aber ganz ohne Wirkung auf die Arbeiterbewegung Westeu-ropas sollte die russische Revolution doch nicht bleiben. Die radikalen und revolutionären Elemente wurden kräftig gestärkt und die Jüngsten unter ihnen in einen Taumel revolutionärer Begeisterung versetzt. Die Rosa Luxenburg, Karl Liebnecht, Mehring und andere machten Vorstoss um Vorstoss. forderten die Erziehung der Massen zu Massenstreiks und Massenkämpfen, die antimilitaristische Propaganda, Steigerung der sozialistische Bildungsarbeit u.s.w. in zahlreichen Städten gründeten sich Bildungsvereine, sowie Diskussionsklubs, wo sich die jüngste, lebendigsten und tatenlustigsten Arbeiter versammelten, um die Waffen zu schmieden, die sie im Kampfe gegen den bürgerlichen Gegner und gegen Revisionisten in der eigenen Partei benötigten. Eine solche Vereinigung war nun auch der Bildungsverein “Propaganda“ dessen jüngstes Mitglied. Die unverfänglichen Namen Bildungsvereine wurden gewählt, um der polizeilichen Anmeldung und Aufsicht zu entgehen. Nach dem alten preussischen Vereinsgesetz (aufgehoben 1907 durch das Reichsvereinsgesetz) musste jeder politische und gewerkschaftliche Verein seine Mitgliederliste und seine Statuten einreichen und alle Versammlungen waren polizeilich überwacht. Personen unter 18 Jahren durften keinem politischen Verein angehören. Natürlich wurde in unserem Verein, wie in allen ähnlichen, fast nur über politische und sozialistische Probleme gesprochen. Jedes Mitglied musste einmal einen Vortrag halten und darüber wurde dann diskutiert. War einmal ein Referent verhindert zu kommen oder zu sprechen, so wurde über irgend eine Frage diskutiert oder aus einem Buch vorgelesen. Das zwang zum Nachdenken und nahm gleichzeitig die Scheu vor einem grösseren Kreis Menschen seine Gedanken zu entwickeln. So war das Leben im Verein, als ich Mitglied wurde. Eine neue Erscheinung der Arbeiterbewegung um die Wende des Jahrhunderts war auch das Aufkommen von Jugendorganisationen. Vereine, die jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen im Alter von 14-20 Jahren zusammen fassten, um sie gegen die wirtschaftliche Ausbeutung zu schützen, sie auf Wanderungen zu führen, sie allgemein im speziellen sozialistisch zu bilden. Belgien und Holland besassen die ersten derartigen Organisationen. 1904 wurde der erste “Lehrlingsverein“ Deutschlands in Berlin und fast zu gleicher Zeit ein ähnlicher Verein in Mannheim gegründet. In unglaublich kurzer Zeit folgte die Gründung einer Menge Zweigvereine in vielen Städten Deutschlands. Auch auf diese junge Bewegung waren die heldenmütigen Kämpfe der sozialistischen Revolutionäre von förderlichstem Einfluss. 1906 fand in Stuttgart der erste internationale Kongress der sozialistischen Jugendorganisationen statt, der der ganzen Bewegung das Programm geben sollte. Die holländische Genossin Roland-Host sprach über die Bildungsaufgaben der sozialistischen Jugend und legte ihr Referat in Thesen nieder, die heute noch im Wesentlichsten als Richtschnur der Bildungsarbeit in den Jugendorganisationen dienen. Nach einem Referat des Gen. Müller, Wien, wurden internationale Forderungen für den wirtschaftlichen Schutz der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter aufgestellt. Liebknecht, der den Kongress als Präsident leitete, sprach über “Militarismus und Antimilitarismus“. Das Referat trug ihm später 1½ Jahr Zuchthaus ein. Es wurde beschlossen, eine feste internationale Organisation unter dem Namen “internationale Verbindung sozialistischer Jugendorganisationen“ zu gründen. Die deutschen Vereine traten wegen dem vorsintflutigen Vereinsgesetz nicht bei. Da die süddeutschen Staaten bis 1907 kein Vereinsgesetz kannten, schlossen sich die in Deutschland existierenden Vereine jugendlicher Arbeiter zu zwei grösseren Verbänden zusammen, “den Verband jugendlicher Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands“ mit Sitz in Berlin. Dieser Verband zählt 1907 bereits 6000 Mitglieder und gab eine monatlich er-scheinende Zeitung “Die arbeitende Jugend“ aus. Die Vereine be-zeichneten sich als ausdrücklich politisch neutral, sonst hätten sie natürlich überhaupt nicht existieren können. Ebenfalls schlossen sich die süddeutschen Vereine zu einem Verband mit Sitz in Mannheim zusammen. Diese Vereine aber, nicht gehindert durch ein Vereinsgesetz, bezeichneten sich als so-zialistische Jugendvereine und in diesem Sinne war auch ihr Organ “Die junge Garde“ gehalten, deren Redakteur der damals noch jugendliche und stark revolutionäre Dr. Ludwig Frank war. Unser Bildungsverein “Propaganda“ stand nur mit Mannheim, natürlich in geheimen, in Verbindung. Wir bezogen regelmässig eine bestimmte Anzahl “Junge Garde“ und es macht mir die grösste Freude, diese unter der Hand weiter zu verkaufen. Ueberhaupt war ich wie von einem Propagandafieber überfallen und liess nicht nach, bis fast der letzte jugendliche Arbeiter meines Arbeitssaales sich als Mitglied unseres Vereins meldete und an unseren Versammlungen teilnahm. Einige Monate nach meinem Eintritt dominierte das jüngere Element und die über 20 jährigen waren in den Hintergrund gedrängt.

(Text: Vermutlich Willi (Wilhelm) Münzenberg März 1918? November 1918- Münzenberg im Schweizer Zuchthaus ist 29 Jahre alt) Das Dokument hat 9.742 Zeichen

Das ganze Dokument (mit Umschlagtexten) hat 10.013 Zeichen

Der Text muss mit einer Maschine geschrieben worden sein, die über keine Grossbuchstaben der Umlaute verfügte. Das habe ich so gelassen. Fehler habe ich nicht korrigiert, vielleicht ist es mir stattdessen gelungen, einige Fehler neu in dem Text unterzubringen.

(Der namentlich nicht genannte Abschreiber 2019)

Der Text ist eine Abschrift einer Veröffentlichung des Verlag Detlev Auvermann KG, Glashütten im Taunus 1972. Es handelt sich um eine Schreibmaschinenabschrift, die in einem Überformat (Nicht DIN A 4- 210 mm x 297 mm, sondern 339 mm x 206 mm) gedruckt wurde. Der Umschlag wurde ebenfalls auf Karton bedruckt.

U1: mit folgendem Text:

Dieses aus den Akten der schweizerischen Untersuchungsbehörden stammende Schriftstück befindet sich unter der Signatur P 23914 Nr. 524.24 im Staatsarchiv des kantons Zürich. Der junge Willi Münzenberg verfaßte diese biographische Skizze, die seinen Weg zum Kommunismus bis zum Eintritt in den Erfurter sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein (1906) nachzeichnet, entweder während seiner ersten Inhaftierung in der Polizeikaserne Zürich, Ende November 1917 bis März 1918, oder während seiner zweiten Zuchthaushaft, die vom Mai 1918 bis zu seiner Ausweisung aus der Schweiz am 10. November 1918 dauerte.

Willi Münzenberg Lebenslauf

Wir danken dem Staatsarchiv des Kantons Zürich für die Erlaubnis zu Veröffentlichung und dem Schweizerischen Sozialarchiv für die Vermittlung des Textes, den wir in er erhaltenen Form reproduzieren.

Der Text ist paginiert und hat im Original 29 Seiten (einseitig bedruckt)

Der Umschlag U 2 ist mit folgendem Text bedruckt:

1889 14. August, wird M. in Erfurt als Sohn eines Dorfgastwirtes geboren. Er besucht unregelmäßig die Dorfschulen in Frimar, Eberstädt und Gotha.

1904- 1910 ist M. Arbeiter in einer Erfurter Schuhfabrik

1906 tritt M. in den sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein “Propaganda“ ein und übernimmt eine Jahr später dessen Vorsitz.

1910-1913 ist M. Hausbursche in einer Zürcher Apotheke. Er wird Mitglied in dem von Fritz Brupbacher geleiteten Jungburschenverein.

1912 Ende Juli wird M. Mitglied des Zentralvorstandes der sozialistischen Jugendorganisation der Schweiz und übernimmt die Redaktionder antirevisionistischen Monatsschrift “Die freie Jugend“.

1914 während des Krieges konsequenter Internationalist, gerät M. bald unter den Einfluß Lenins.

1916 nimmt M. an der Internationalen Sozialistischen Konferenz in Kienthal (24. – 30 . April) teil.

1917 am 19. November, wird M. in Zürich verhaftet und

1918 im März, gegen Kaution freigelassen, jedoch im Mai als Mitorganisator eines Generalstreiks in Zürich ins Zuchthaus geworfen. In seiner im Mai 1918 ausgelieferten Broschüre “Kampf und Sieg der Bolschewiki“ bekennt M. sich zur Oktoberrevolution. Er wird am 10. November aus der Schweiz ausgewiesen und übersiedelt nach Stuttgart, wo er sich der Spartakusgruppe anschließt.

1904- 1910 ist M. Arbeiter in einer Erfurter Schuhfabrik

1906 tritt M. in den sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein “Propaganda“ ein und übernimmt eine Jahr später dessen Vorsitz.

1910-1913 ist M. Hausbursche in einer Zürcher Apotheke. Er wird Mitglied in dem von Fritz Brupbacher geleiteten Jungburschenverein.

1912 Ende Juli wird M. Mitglied des Zentralvorstandes der sozialistischen Jugendorganisation der Schweiz und übernimmt die Redaktionder antirevisionistischen Monatsschrift “Die freie Jugend“.

1914 während des Krieges konsequenter Internationalist, gerät M. bald unter den Einfluß Lenins.

1916 nimmt M. an der Internationalen Sozialistischen Konferenz in Kienthal (24. – 30 . April) teil.

1917 am 19. November, wird M. in Zürich verhaftet und

1918 im März, gegen Kaution freigelassen, jedoch im Mai als Mitorganisator eines Generalstreiks in Zürich ins Zuchthaus geworfen. In seiner im Mai 1918 ausgelieferten Broschüre “Kampf und Sieg der Bolschewiki“ bekennt M. sich zur Oktoberrevolution. Er wird am 10. November aus der Schweiz ausgewiesen und übersiedelt nach Stuttgart, wo er sich der Spartakusgruppe anschließt.

1919 von Januar bis Juni, wird M in der Festung Ulm, sodann im Gefängnis Rothenburg (Neckar) eingekerkert. In der Novemberrevolution versucht M. die Arbeit des Internationalen Jugendsekretariats weiterzuführen. Er referiert auf dem Gründungskongreß der Kommunistische Jugendinternationale in Berlin (20.- 26. November 1919) und wird in deren Exekutivkomitee gewählt.

1920 nimmt M. als Vorsitzender der Jugendinternationale in Moskau am II. Weltkongress der Komintern teil. Ein Jahr später, auf dem II. Kongreß der Jugendinternationale wird er von Sinowjew abgesetzt.

1921 am 12. August, gründet M. im Auftrage Lenins die Internationale Arbeiterhilfe für die Hungernden in Rußland, die sich in den kommenden Jahren unter M. als Generalsekretär ihrer Auslandskomitees zur größten proletarischen Hilfsorganisation entwickelt.

1924 – 1933 ist M. ununterbrochen Reichstagsabgeordneter der KPD; auf dem XI. Parteitag 1927 wird er ins ZK berufen; 1931/32 gehört er der “ultralinken“ Remmle-Neumann Gruppe an. In diesem Jahren baut M. den berühmten “Münzenberg Konzern“ auf. 1924 wird er Inhaber desNeuen deutschen Verlages, welcher die Zeitungen “Welt am Abend“, “Berlin am Morgen“, “Arbeiter- Illustrierte Zeitung“, die Zeitschrift “Roter Aufbau“ und die “Universum Bibliothek“ herausgibt, sowie das Filmunternehmen “Meshrabpom“ gründet.

1933 emigriert M. nach Paris, wo er die Arbeit der Internationalen Arbeiterhilfe fortführt. Er wird einer der Leiter des neugegründeten Welthilfskomitees für die Opfer des deutschen Faschismus und Mitbegründer der “Deutschen Freiheitsbibliothek“. Zum progandandistischen Kampf gegen Hitler gründet er wieder Verlage und Zeitungen und gibt u.a. das“Braunbuch über den Reichstagsbrand“ heraus.

Umschlag Seite 3 (U 3)

1936 wird M. nach Moskau vor die Internationale Kontrollkommission geladen; er wird“wegen Verbreitung parteiinter Information auf Beschluß des Politbüros und der Leitung (Walter) Ulbrichts gerügt, erreicht aber, das er wieder nach Paris zurückkehren kann.

1937 gerät M. als einer der Initiatoren der Volksfront in verschärften Widerspruch zur Komintern und KPD-Führung; die mehrfache Aufforderung, nach Moskau zu kommen, ignoriert er.

1938 am 22. März, wird er (M.) aus dem ZK, am 6. März 1939 aus der KPD ausgeschlossen. M. wendet sich in der

1939/40 von ihm herausgegebenen Zeitung “Die Zukunft“ gegen den Stalin-Hitler Pakt und gründet 1939 in Paris die Organisation “Freunde der Sozialistischen Einheit Deutschlands“.

1940 im Mai, wird M. im Lager Chambaran bei Lyon interniert. Während die Armee im Juni 1940 auf Lyon vorrückt, flieht M. zusammen mit drei Deutschen. Ende Oktober wird seine stark verweste Leiche im Wald von Caugnet aufgefunden. Münzenbergs Lebengefährtin Babette Gross schreibt in ihrem Buch: Willi Münzenberg. Eine politische Biographie (Stuttgart 1967), ein Selbstmord scheint ausgeschlossen,“der Verdacht, daß Münzenberg Opfer eines politischen Anschlages geworden ist, scheint mit nahezuliegen. Wer die Mörder gewesen sein könnten, ist nur zu vermuten.“ (Babette Gross)

Willi Münzenberg

Apropos Ernst Henning Strasse

apropos = Nebenbei bemerkt. Mein Schulweg, der durch die Ernst Henning Strasse führte. Eine Wegbeschreibung.

Neun Jahre lang  (von 1953 – 1957 und von 1960 – 1963) bin in die Schule Spieringstraße in Bergedorf gegangen. Internet Suchmaschinen schlagen für den Schulweg zwei Möglichkeiten vor. Der eine führt durch die Ernst Henning Straße, über die August Bebel Straße in die Spieringstraße, der andere Weg führt über den Schulenbrooksweg, die Ernst Henning Straße und die August Bebelstraße zum Eingang der Schule in der Spieringstraße. Sechshundert und Sechshundertfünfzig Meter lang. Als Laufzeit zu Fuß werden sieben bzw. acht Minuten angegeben. Der Schulbau hat die Form eines U. Der Eingang der Mädchenschule war in der Parallel Straße, in der Ernst Henning Straße. Den Namen hatte die Straße erst 1946 bekommen. Zwischen den beiden Schulen war eine Turnhalle, die auch als Aula genutzt wurde. Mein Weg, erst Glindersweg, dann links in die Ernst Henningstraße, dann rechts in die August Bebel Straße und links in die Spieringstraße. In der August Bebel Straße wohnte meine Oma, die ich oft besucht habe. Ihr Mann war Postbeamter gewesen und 1930 gestorben. Über August Bebel hat sie viel erzählt und seine Tätigkeit sehr gelobt. Über Ernst Henning hat nie ein Erwachsener oder Lehrer mit uns gesprochen. Das erweckte viel später meine Neugier. Es kam eine Mordgeschichte zum Vorschein. Der Mord fand in einem Omnibus statt. In einer Buslinie, die es heute noch gibt. Ernst Henning war Mitglied der KPD und wohnte in Hamburg Bergedorf. Als Politiker war er sehr erfolgreich. Gewähltes Mitglied der Hamburger Bürgerschaft und der Bezirksversammlung in Bergedorf. Während der Inflation, als mein Vater kurzfristig Millionär geworden war, nahm er 1923 am Hamburger Aufstand teil. Betrachtet man die damalige Lage aus heutiger Sicht, so gibt es viele gute Gründe für einen Aufstand. Aber, der Aufstand blieb isoliert und hatte keinen Erfolg. Ernst Henning flüchtete. Ein Jahr später stellte er sich und wurde wegen seiner Teilnahme am Aufstand zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Aufgrund einer allgemeinen Amnestie kam er 1925 frei. 1928 wurde er als Abgeordneter in die Hamburger Bürgerschaft gewählt und widmete sich vor allem der Unterstützung der Bevölkerung im Hamburger Landgebiet, den Vierlanden. Am Sonnabend, d. 14. März 1931 um 20.00 Uhr fand eine Veranstaltung der KPD im Lokal Albers in Zollenspieker statt. Referenten waren Ernst Henning und Louis Cahnbley. Viele Kleinbauern und Landarbeiter waren in das Clubzimmer der Gaststätte gekommen. Nach dem Ende der Veranstaltung stiegen Ernst Henning und sein Kollege Louis Cahnbley, kurz nach Mitternacht, in den Nachtbus von Zollenspieker über Kirchwerder nach Hamburg ein. In Fünfhausen stiegen, zwölf Minuten später, neue Fahrgäste ein. Es handelte sich dabei um den SA Sturm 14 aus Hammerbrook. Fünf Männer. Einer in SA Uniform. Mit dabei Albert Jansen; dreiundzwanzig Jahre alt. Ehemaliger Polizist. Wegen Unterstützung einer staatsfeindlichen Partei, der NSDAP, wurde er nach acht Monaten 1928 aus dem Polizeidienst entlassen. Otto Bammel, SA Scharführer, Hans Höckmair, SA Scharführer; siebenundzwanzig Jahre alt. Sie erschießen Ernst Henning. Louis Cahnbley und die Berufsschullehrerin Heßberg werden ebenfalls von ihren Pistolenkugeln getroffen. Dieser Mord an einem beliebten Bürgerschaftsabgeordneten in aller Öffentlichkeit passte nicht in das Konzept der NSDAP, zu mal in dem späteren Prozess deutlich wurde, dass die SA Männer ursprünglich vor gehabt hatten, einen anderen Kommunisten ermorden zu wollen: Etkar Andre, der ursprünglich als Redner für die Versammlung vorgesehen war. Schon Sonntag Nacht stellten sich zwei der SA Leute der Polizei, ein dritter wurde am Montag verhaftet. Der NSDAP war die Sache so wichtig, dass sie Hans Frank, Staranwalt der NSDAP, mit der Verteidigung der SA Leute beauftragte. Der Gerichtsprozess vor dem Schwurgericht in Hamburg begann am 3. November 1931 und endete elf Tage später am 14. November 1931 mit der Verkündung des Urteils. Verurteilt wurden Albert Jansen, Otto Bammel, und Hans Höckmair. Die Urteile lauteten sieben Jahre für Hans Höckmair und Albert Jansen und sechs Jahre für SA Scharführer Otto Bammel. Sie waren nicht lange im Gefängnis. Am 9. März 1933 wurden alle drei amnestiert. Anschließend wurden die Prozessakten vernichtet. Aber es gab eine Besonderheit. Als es am 4. Mai 1945 mit dem dritten Reich vorbei war, mussten die Mörder, die wegen Totschlags verurteilt worden waren, sie wollten ja ursprünglich einen anderen Kommunisten, Etkar Andre, ermorden, ihre Reststrafe im Gefängnis verbüßen. Hätten wir Schüler der Schule Spieringstrasse früher von diesem Mord erfahren, dann wäre folgender Dialog denkbar gewesen. Schüler eins: >Glaubst Du, das so etwas heute wieder passieren könnte? Schüler zwei: >Nein<. Schüler eins: >Warum nicht?< Schüler zwei >Es fährt auf der Linie kein Nachtbus mehr. Der letzte Bus kommt um 23.43 Uhr<. Jens Meyer

Die Informationen habe ich mir zusammengesucht. Besonders hilfreich das Buch von Martina Scheffler: „Mord über Deutschland“ (Die Hamburger KPD und der Mord an Ernst Henning) 1931. Erschienen im LIT Verlag Hamburg 2006. http://lit-verlag.deFoto Jens Meyer

Oortkatenweg
Oortkatenweg Foto Jens Meyer