Briefe an Eugen (XXV) Behutsam ergänzt

(Zeichen 4.844) Briefe an Eugen

Die Fakten behutsam ergaenzt (XXV)

Römische Zahlen

Hallo Eugen,

Christian Geissler am 12. 03. 2007. Foto von Sven

in meinem Buechersortiment befinden sich drei Ausgaben des Buches von Christian Geissler: »Wird Zeit, daß wir leben«. Zwei Auflagen aus der Zeit als Christian Geissler noch lebte und und eine aus der Zeit als er nicht mehr lebte. Erstmals war das Buch 1976 im Rotbuch Verlag Berlin erschienen. Meine Exemplare sind aus den Jahren 1976 und 1979. Taschenbuecher. Das von 1979 mit der Auflagenennung 11.-13. Tausend. 236 Seiten. Die Ausgabe von 2013 ist gebunden, hat 316 Seiten und ist im Verbrecher Verlag Berlin erschienen. Hinzugefuegt ist ein Nachwort von Detlef Grumbach und eine „Editorische Notiz“ auf Seite 317.

In dieser heißt es u. a.: »Das Glossar war bereits Bestandteil der Erstausgabe, geprägt von einer pointierten Mischung aus Fakten und Standpunkten. Für heutige Leser wurden hier und da die Fakten behutsam ergänzt, die typische Diktion Geisslers wurde aber so weit wie möglich beibehalten«.

Das entspricht leider nicht den Tatsachen. In der ersten und in der von mir 1979 erstandenen Ausgabe dieses Buches gibt es kein »Glossar«. Christian Geissler hat dieses Wort vermieden. Er hat den sieben Seiten am Ende des Buches die Ueberschrift »Anmerkungen« gegeben. Es handelt sich um 61 Anmerkungen. Die Anzahl ist in der Auflage von 2013 gleich geblieben. Verteilt auf zehn Seiten, während es in den ersten Auflagen sieben Seiten waren.

Apropos: Fakten behutsam ergaenzt. Die neuen Anmerkungen sind nicht nur laenger oder kuerzer geworden, sondern auch anders. Los gehts mit den Hungerdachluken. Bei Christian Geissler einfach und klar: (9) „Hungerdachluken. Beim Hamburger Aufstand im Oktober 1923, als die arbeitenden Massen hungerten, kämpften die Revolutionäre zum Schrecken der Weißen klug aus dem Hinterhalt, z. B. aus barmbeker Dachluken.“

Dem Behutsamergaenzer der Ausgabe von 2013 ist das nicht genug und er oder sie fügt deshalb an: „Der Hamburger Aufstand war eine von der militanten Sektion der KPD in Hamburg am 23. Oktober 1923 begonnene Revolte. Ziel war der bewaffnete Umsturz in Deutschland nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution 1917. Im Laufe des Aufstands wurden in Hamburg und Schleswig-Holstein insgesamt 24 Polizeireviere besetzt.“ (Liest sich wie bei Wikipedia abgeschrieben. Und siehe da: ist es auch. Nur der zweite abgeschriebene Satz wurde ein wenig veraendert, oder sollte es etwa umgekehrt sein?)

Besonders auffaellig ist es bei der Anmerkung 10 auf Seite 230. Im Original (1976 und 1979) von Christian Geissler steht:

„rede Genosse Mauser! vgl. Majakowski, linker Marsch: Entrollt euren Marsch / Burschen von Bord / Schluß mit dem Zank und Gezauder / still da, ihr Redner / du hast das Wort / rede, Genosse Mauser . . . . Die Rede ist hier von der C 96, einem der beliebtesten Modelle aus dem Hause von Paul v. Mauser, die erste wirklich brauchbare Pistole mit verriegeltem Verschluß und mit einem 10- und später auch 20- Schuß-Magazin, das vor dem Abzug liegt. Zusätzlicher Vorteil: Die Waffe hatte eine Einrichtung zur Anbringung eines Anschlagschaftes. Im revolutionären Rußland nannte man die diese Waffe auch »Bolo-Mauser«. Bolo war der in der Umgangssprache entstandene Ausdruck für Bolschewik. Eine spanische Version dieser Pistole war bei den chinesischen Genossen der zwanziger Jahre als Maschinenpistole recht verbreitet. Wenn die Mauser auch bei uns jetzt durch andere, handlichere Konstruktionen ersetzt ist, erfreut sie sich doch in manchen Länder noch eines außerordentlichen Zuspruchs.“

In der Neuausgabe von 2013 wird daraus: „rede Genosse Mauser! Zitat aus dem Gedicht »Linker Marsch« von Wladimir Majakowski, später vertont von Hanns Eisler: »Entrollt euren Marsch / Burschen von Bord / Die Rede ist hier von der Mauser C 96, einer der ersten Selbstladepistole.“

Zwei Revolutionen sind verschwunden. Stattdessen erfaehrt der »Leser von heute«, wer die Musik dazu gemacht hat. Naechstes Beispiel: hauptvollblut und wasistdas Während es bei Christian Geissler kurz und buendig heißt: »Kurzfassung der Schwerpunkte lutherischer Glaubenslehre« schwafelt der Faktenbehutsamergaenzereditor vom Verbrecherverlag von Paul Gerhard, Johann Krüger, Martin Luther und dem Kleinen Katechismus.

Auch das Stichwort »im Krieg in Kiel« erfaehrt eine erstaunliche Veraenderung. Während Christian Geissler schreibt: »Die November Revolution 1918 begann am 3.11. mit dem bewaffneten Aufstand der Matrosen in Kiel. Als auf den Schiffen des III. Geschwaders umfangreiche Verhaftungen vorgenommen wurden, erhoben sich die Matrosen und begannen den Kampf um die Befreiung ihrer Kameraden.«

Daraus macht der Faktenbehutsamergaenzer des Verbrecherverlags (natuerlich ohne Namensnennung und Begruendung): »Der Kieler Matrosenaufstand fand Anfang November 1918 – gegen Ende des Ersten Weltkrieges – statt. Auch der Rest dieses geaenderten Textes ist nicht besser. Da mutiert die Revolution zu einem »Impuls der Ausbreitung der Unruhen«. Auch die EK –Offiziere von Christian Geissler werden von dem Faktenbehutsamergaenzer umgearbeitet. Bei Christian Geissler steht unter Nr. 160: EK-Offiziere Offiziere mit dem sog. Eisernen Kreuz, also mit Praxis aus dem ersten Weltkrieg, vgl. BGS-Offiziere mit Nazikriegspraxis. Daraus wird: (213) EK-Offiziere, die mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet waren, also im Ersten Weltkrieg gedient hatten. Geissler vergleicht sie mit Offizieren des Bundesgrenzschutzes »mit Nazikriegspraxis«.

Verschwunden ist das Wort sog. und sie wurden mit Eisernen Kreuz „ausgezeichnet, weil sie also im Ersten Weltkrieg gedient hatten“ und nicht schnöde mit dem EK ausgezeichnet. Christian haette sicher gefragt: Wem gedient?

Christian Geissler am 12. 03. 2007. Foto von Sven.

Alles eher aergerlich, wie ich finde. Aber natuerlich kein Grund, diese Ausgabe nicht zu kaufen und zu lesen. Vielleicht kann der Verlag ja eine Beilage mit den Originalanmerkungen von Christian Geissler beilegen, so liesse sich der entstandene Schaden begrenzen, J.

PDF Anmerkungen 1979

Wird Zeit, daß wir leben 2013 U1

Wird Zeit, dass wir leben 2013 U 4

Wird Zeit, dass wir leben Seite 317

PDF Briefe an Eugen (XXIV) Gruesse vom Editor

Wird Zeit,daß wir leben U1

Wird Zeit, daß wir leben U4

Zeichnung Helga Bachmann
Creative commons.org
cc

Briefe an Eugen (XXIV)

PDF Briefe an Eugen die platte is acht meter lang und vier meter breit

die platte ist acht meter lang und vier meter breit. und zwölf tonnen schwer.

Hallo Eugen, auch dieser Text, so finde ich, ist es wert abgeschrieben zu werden. Er stammt aus dem Buch von Christian Geissler. Du weisst schon, der mit der Kleinschreibung.

(16) „der tag bei blohm war schrill und kantig wie immer die anderen tage, aber in einem moment war musik, hohe offiziere aus der türkei, zusammen mit drei toptypen aus der werft und einer uniformfigur aus bad godesberg, hatten, die einen aufgezäumt klimprig, die andren dunkelblau fadig schlicht schlecht, hoch oben auf einer der laufgerüstbrücken fachgesimpelt ins halbfertige schiff, ins kriegsschiff, ins boot für nato. unten im boot hockten brocken und tapp und zwei türkenkollegen, armaturen montieren, und mampften die pause, sannen hinauf. sie hängt in ketten. an einem haken. ungefähr fünf meter hoch. über den kraken. im krankasten steht der rote schieber. von uns eine hand entsichert. die hakenzange öffnet sich lautlos. in nullkommazwei sekunden auf die brücke fallen zwölf tonnen stahl. es gibt keine fluchtzeit. ohne zu kreisen der tod fällt ein. unser leben kommt schnell. es dröhnt weit weich. es wird still. der kran hebt die platte langsam zurück nach oben. wir arbeiten nun mit klarem wasser. räumen den rest blech, baumwollfaden und blut. licht spülicht. das ende einer verkleidung. keiner hatte zum andern ein wort gesagt. keiner hatte sich von seinem platz, werkzeugkiste, werg unterm arsch, gerührt. schade noch erstmal, kaute tapp. und ein türke sagte, ich sehe einfaches unglück. dann hatten sie die augen wieder geschmissen nach oben hinab auf die, still hin gerichtet.“

Hallo Eugen, das ist aus kamalatta von christian geissler. seite 144-145. (2. auflage rotbuch verlag berlin 1989). Anmerkung 2024 : Ganz schoener Kawensmann. Die Stahlplatte ist rund 50 mm dick, sagt mir mein Taschenrechner. J. Und nun kommst Du.

Briefe an Eugen (XXII) brocken darf alles

pdf 1 brocken darf alles

Hallo Eugen, heute mal wieder eine Abschrift, weil das Foto von der Buchseite viel zu groß ist zum schicken. Es war beim Abschreiben eine große Herausforderung an mich, das mit der Kleinschreibung auch so abzuschreiben. Immer wieder habe ich mich ertappt bei den Anfangsbuchstaben der Sätze.

(Zeichen 1.643) Abschrift brocken darf alles. mag aber nichts alleine nur dürfen.

hier die hochhaussiedlung, fernab, neugraben, war dicht auf dicht leicht licht gebaut, durchsichtig kontrollierbar, flach bunt getopft in den innenhöfen, man lag da im sonnenschutt, schlief oder schrie. bis broken die einigkeit machte, mitten im stein die kühlung. ein kleiner teich, wirklich zwischen hochhauswänden ein flaches becken für schnecken, die menschen sollten das gras umhin nicht betreten, war ausgelaufen, lag trocken grau, und die aufsichtsfigur der hausbaugesellschaft war wegverreist, ins sauerland, muß ja auch mal. der rest hier liegt heiß im wochenendhof.

wo kriegen wir wasser fürs becken. die kinder schreien uns ja tot. hat keiner den schlüssel bis an die leitung. sind alle nur weggeschlossen ins freie, denn man darf keine türen aufbrechen, man darf keinen rasen aufgraben, den schweren deckel nicht sprengen mit stangen. brocken darf alles. mag aber nichts alleine nur dürfen.

wenn wir zusammen was wollen, dann machen wir das auch zusammen. wassermusik für uns alle. was brauchen wir sauerland, wenn wir gesund sind.

alle sind flott gesund. wir werden ins wasser springen. wir werden die trockenen becken durchplätschern. los schmeiß an, vier ecken, vier mann!

heiß gehn die wühler ans werk. das kellertürschloß reißt ab, der deckel platzt auf, die feine rasensohle fliegt weg, der schaden ist bald behoben, dreck raus, rohr frei, wasser marsch. die kinder springen nackt in den ersten strahl. die kinder wundern sich über die freude der alten.

es wird eine lange nacht, ein fressen und saufen an unsern ufern, samt rollstuhl und kopftuch und doors. wir schwimmen und summen.

wir mummen am montag durch alle ordnungsbefragung. wer war das. weiß ich doch nicht.

das waren wir, sagte tapp zu blues, die bande, die sie nicht mögen.

(seite 288 kamalatta, christian geissler, romantisches fragment, rotbuch verlag, berlin, 2. auflage 1989)

Christian Geissler Kampagne für Abrüstung 1964

HeldentodgroßFoto Rudolf Heinrich MeyerNilpferd7By-nc-sa_color

Abschrift: aus dem Buch von Christian Geissler ENDE DER ANFRAGE

RÜTTEN + LOENING VERLAG MÜNCHEN

Vorwort (Seite 9)

Zum Titel dieses Buches:

Mein erstes Buch heißt ANFRAGE.

Als ich es schrieb, war ich erstaunt darüber, daß bei uns in der Bundesrepublik aus der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus keine vernünftige, d. h. politisch wirksame Konsequenz gezogen worden ist. Heute bin ich nicht mehr erstaunt.

Ich halte das, was in unserer Gesellschaft an Mißständen aufkommt und sich verfestigt und was so viel Ähnlichkeit hat mit dem, was wir schon mal erlebt haben, für eine Folge der bei uns herrschenden politischen, d. h. ökonomischen Verhältnisse. Man kann auf alten Fundamenten kein neues Haus bauen.

Das ist das ENDE DER ANFRAGE.

Und das ist nicht Resignation, sondern der Ausgangspunkt für die Herstellung von Antworten.

Christian Geissler

Christian Geissler

Rede in der Kampagne für Abrüstung,

Frankfurt 1964 (Seite 81 – 99)

Meine Damen und Herren, (Seite 81)

zunächst drei Vorbemerkungen:

1. Das Referat wird etwa 40 Minuten in Anspruch nehmen. Es wäre mir selbst lieb, wenn es kürzer geraten wäre. Aber die gesellschaftlichen Bedingungen für Krieg und Gewalt sind kompliziert.

2. Konrad Adenauer hat unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, hinter dem Rücken eines bis fast zur physischen Vernichtung geschlagenen Volkes, den westlichen Alliierten neues deutsches Militär gegen den Kommunismus angeboten. Er hat damit gehandelt als ein Mann mit einem uralten Sinn für Macht. Die außenpolitischen Folgen dieser Machtausübung sind inzwischen deutlich. Es gibt jetzt bis auf weiteres zwei deutsche Staaten. Die innenpolitischen Folgen stellen sich von Jahr zu Jahr klarer heraus. Demnächst wird es Notstandsgesetze geben. Das alles ist bekannt. Mich interessiert hier heute etwas anderes. Mich interessiert die Frage: Was ist das für eine Gesellschaft, was sind das denn eigentlich für Leute, die sich nach zwölf Jahren Nationalsozialismus und fünf Jahren Krieg eine derartige Entwicklung nahezu tatenlos bieten lassen?

3. Es wird von Krieg und von der Vorbereitung eines Krieges die Rede sein. Diese Rede wird, wie man sich denken kann, vergleichsweise hart ausfallen. Deshalb bitte ich Sie dringend, folgendes genau zu beachten und im Kopf zu behalten: Krieg wird von Menschen gemacht. Das ist ein Erfahrungssatz, um den heute so leicht niemand mehr herumkommt. Es erhebt sich aber immer wieder die Frage: Wer ist denn das nun genau, der den Krieg macht? Will der Politiker, der Bischof, der Panzerproduzent, der Zeitungschef — wollen denn diese Leute tatsächlich subjektiv klar bei Verstand aktiv den Krieg?

(Seite 82)

Ich behaupte, nein. Das macht die Situation indessen keineswegs harmloser. Denn ich behaupte gleichzeitig, daß die ebengenannten öffentlich Mächtigen hier in unserem Land — nicht zuletzt mit Hilfe unser aller politischer Nachlässigkeit und Dummheit — ein gesellschaftliches Verhaltenschema, vor allem eine wirtschaftliche Basis aufgebaut und geheiligt haben, die hochexplosive Elemente enthält, in der Gewalttendenzen stecken, unter deren Wirkung wir alle und die Mächtigen obendrein sehr plötzlich zu Opfern eines totalen letzten Krieges werden könnten. Die Mächtigen hier bei uns sind also nicht als denkende Einzelpersonen, nicht in ihrem persönlichen Bewußtsein für Kriegsgewalt, aber — und das ist entscheidend, und darum müssen wir sie so scharf angreifen — sie sind als machtausübende Hersteller eines bestimmten gewalttätigen wirtschaftlichen und ideologischen Systems verantwortlich und haftbar zu machen für die unmenschlichen Zustände kriegerischer Gewalt, die uns bedrohen.

Meine Damen und Herren, wir haben uns hier heute versammelt in einer gemeinsamen Sorge und, wie ich denke, auch in einer gemeinsamen Hoffnung. Unsere Sorge richtet sich auf eine Gesellschaft, die in einer fürchterlichen Vergeßlichkeit sich daran gewöhnt hat, Lügen für Wahrheit zu nehmen; die sich Tag für Tag zum Beispiel das Wort Krieg und damit die Wirklichkeit des Krieges umfälschen läßt in das Gerede vom Verteidigungsfall. So, als hätten wir nicht die Erfahrung gemacht, wie leicht man einen Raubüberfall in Vergeltung und Verteidigung öffentlich ummünzen kann. Die Vergeßlichkeit geht inzwischen so weit und die Verfälschungen nehmen inzwischen so selbstverständliche Formen an, daß eine große Hamburger (Seite 83)

Zeitung vor vierzehn Tagen zum amerikanischen Angriff auf Nordvietnam auf Seite 1 die Schlagzeile bringen kann: »Seit heute früh wird zurückgeschossen.« Ganz so, als habe nicht Hitler mit eben diesen Worten den zweiten Weltkrieg eröffnet. Das nenne ich eine fürchterliche Vergeßlichkeit.

Aber Krieg bleibt Krieg, gleichgültig wie die Machthabenden das nennen, Mord bleibt Mord, Lüge bleibt Lüge. Daß das vergessen werden könnte, macht uns Sorge. Vergessen werden könnte von Leuten, mit denen wir doch leben wollen und nicht sterben. Und was macht uns Hoffnung? Tatsächlich der Mensch, Der lebendige Mensch kann nämlich lernen. Er kann lernen, wie man bisher Falsches zukünftig richtiger macht.

Der hier gezeigte Film »Kirmes« ist ein sehr guter Film. In der Kernszene des Filmes steckt allerdings eine Frage, die noch klarer beantwortet werden muß. Ich meine die Frage: Wie kommt es denn, daß unter Menschen ein junger Mann, der endlich leben will und nicht gewalttätig sterben, eben deshalb, weil er das will, sein Leben verliert, ja sogar das Leben verliert unter der stillschweigenden beziehungsweise ausdrücklichen Billigung seiner nächsten Mitmenschen. Welches ist die Herkunft von dermaßen miserablen Zuständen? Auf was für einem Boden wachsen menschliche beziehungsweise so unmenschliche Gesellschaften, in denen ganze Generationen von Eltern stolz trauern, wenn ihr Sohn gehorsam totgeschlagen wird wie ein Hund, sich aber ängsten und schämen, wenn der Sohn ungehorsam sein Leben behalten möchte wie ein erwachsener Mensch?

Wer oder was hat unter Menschen immer wieder die Macht, Mütter und Väter dergestalt zu pervertieren, sie krank und verkehrt zu machen gegen alle einfache Liebe und Vernunft? (Seite 84)

Der Film von Staudte gibt über die Herkunft dieser menschlichen Verkehrtheiten nur wenig Auskunft. Oder liegt es etwa in eines Menschen Charakter, ob er versagt oder siegt, ob er lebt oder stirbt? Was ist denn das überhaupt: Charakter? Der Film zeigt uns das, was uns bedroht, anhand von bestimmten unangenehmen menschlichen Typen. Er zeigt uns den verhurten Parteifunktionär mit miesen Texten im Mund, und überm Hals, wo andere ein Gesicht haben, hat er einen Schweinekopf. Kann man denn aber etwa am Schweinekopf, an der Hurerei, den Gegner erkennen, die Gefahr, den Krieg, den Mord?

Meine Damen und Herren, ich selbst habe jahrelang in unmittelbarer Nähe mit Nationalsozialisten gelebt. Weder haben diese Leute besonders herumgehurt noch hatten sie ekelhafte Gesichter. Es waren, wie man so sagt, aufrichtige, saubere, anständige deutsche Menschen. Aber sie waren für den deutschen Krieg. Sie waren für den Tod derer, die gegen den Krieg kämpften. Sie waren mit schmalen Lippen und feiner Bildung für Pflichterfüllung und Gehorsam bis hin zu Totschlag und Mord. Nein, meine Damen und Herren, was uns bedroht an Leib und Leben, das ist weder mit physiognomischen noch mit moralischen Vorurteilen zu packen.

Es sind nicht die Charaktere, die die Welt mißraten lassen. Was aber sonst? Hat irgendein Gott diese Welt so bestellt, wie sie ist? Sind etwa all das Elend und die Gemeinheit, in der Menschen im Krieg sich vorfinden, gedeckt von einem großen lebendigen Vater-Gott? Ich sehe in dieser Welt keinen Anlaß, solches zu glauben. Ich sehe in dieser Welt aber etwas anderes, nämlich dies: Es gibt — auch in allerletzter Instanz nicht — keinen Fluchtwinkel, in welchem es dem Menschen erlaubt werden könnte, seine Pläne und seine Taten, seinen (Seite 85)

Kopf und seine Hände in die Überhände irgendeines Vaters zu legen.

Wir sind unter uns hier auf der Erde, soweit ich weiß, wir alle zusammen, allein.

Das ist die Gefahr.

Das ist aber auch die Chance.

Nun wird es Leute geben, die solches Reden anmaßend und frivol finden, die uns beibringen wollen: Das Böse, das Leid, Mord und Totschlag und Menschenschinden — das alles liegt am Ende bei Gott. Wir sollen Geduld haben mit dem Elend und an die Erlösung glauben. Wer im Ernst solches glaubt, der mag, ich weiß es nicht, irgendwo Frieden finden in sich selbst. Der Welt aber wird er, soweit mich das historische Zeugnis nicht trügt, den Frieden nicht finden, ja nicht einmal finden können. Denn, soweit wir mit menschlichen Augen sehen können, meine Damen und Herren, funktionieren Krieg und Frieden in dieser Welt nun einmal zuallererst nach materiellen, greifbaren, daher auch angreifbaren Gesetzen, nach Gesetzen der ökonomischen Macht. Ob Frieden passiert oder Krieg in dieser Welt, das liegt, meine ich, nicht bei einem Gott, sondern das liegt bei bestimmten Menschen, und zwar bei denen, die Macht haben, Macht über ein gesellschaftliches Bewußtsein mit Hilfe von Macht über Geld und Maschinen. Darum ist es ja auch so wichtig zu prüfen, wer in einem Land Macht hat über Geld und Maschinen: die friedlichen Leute oder die unfriedlichen. Darum eben ist es so wichtig, daß die friedlichen Leute sich endlich die Macht nehmen, das heißt kämpfen, um den Frieden dauerhaft herzustellen. Und keiner sollte den friedlichen Leuten einreden, sie seien öffentlich ohnmächtig und schwach von Natur, von Gott her.

Kriege werden nun einmal einzig und allein, wenn

(Seite 86)

überhaupt, dann von mächtigen, selbstbewußten Massen verhindert, und nur von Minderheiten werden sie angezettelt mit Hilfe der Ohnmacht und der Selbstmißachtung von vielen. Nein, meine Damen und Herren, es ist, soweit ich sehen kann, kein Gott da, der uns die Welt, so, wie sie uns von Mal zu Mal mrät, abnimmt und tragen hilft, der uns vergibt, in Liebe und Geduld. Und gäbe es ihn, dann sollten wir ihn vergessen, bis wir gelernt haben, daß alle bösen und besten Möglichkeiten dieser Welt von unseren Händen verwirklicht beziehungsweise vertan werden, von uns allen zusammen, ganz allein. Gehen wir aber noch einmal zurück auf die Kernszene des Filmes.

Wenn es nun so ist, daß diese menschenfeindliche Szenerie, in der ein lebendiger Bursche, weil er leben will, sterben muß — wenn diese Szene weder mit psychologischen Charakterstudien noch mit religiösen Hoffnungen zu packen und beim Namen zu nennen ist — geht es dann vielleicht mit dem schon bei vielen Leuten zur Gewohnheit gewordenen Zynismus besser, diesem Zynismus, der selbstverächtlich sagt: Der Mensch, das ist nun mal ein unter sinnlosen Mutationen sich ständig selbst pervertierendes mißratenes Tier? Meine Damen und Herren, was den Krieg mehr fördert als alle psychologischen Klischees, was schlimmer für die Vorbereitung von Kriegen sorgt als alle religiösen Ohnmachtsbehauptungen — was das Kommen eines Krieges meines Erachtens mehr beschleunigen wird als alles andere, das ist, abgesehen von der ökonomischen Situation, die Selbstmißachtung des Menschen en masse.

Den Menschen lachend zurückstoßen über Jahrtausende in primitive biologische Zwangsverkettungen, ihn als eine biologische Verzerrung und als eine sich fortpflanzende Degenerationserscheinung von früher einmal

(Seite 87)

dumpf intakten Affen auffassen, den Menschen heute so beschreiben, das nenne ich Zynismus, das ist Selbstmißachtung, und aus beiden kommt Lust am Tod, kommt schließlich dann auch Lust am Krieg. Von dieser Selbstmißachtung des Menschen, von der Verzerrung des menschlichen Gesichtes hinab in nur noch Hohn und Öde und Ekel und Fatalität müssen wir, meine ich, reden, wenn wir Mittel finden wollen, den Krieg zu bekämpfen. Denn Massen von lebendigen Menschen, die ihr Selbstbewußtsein, ihre Selbstachtung verloren haben oder verlachen, solche erschöpften Leute können nicht kämpfen gegen Machthaber, die mit irgendwelchen Kanonenbooten zu beliebiger Zeit den Krieg von irgendwelchen fernen Küsten auf uns alle herunterzuschießen imstande sind.

Leute, die gelernt haben, sich selbst, ihren Kopf und ihre Hände, ihren Schmerz und ihren Traum zu mißachten, solche Leute werden, fürchte ich, eines Tages lachend sterben wollen. Menschen dieser Schadensklasse werden dunkel den letzten großen Krieg suchen wie einen endgültigen schwarzen Frieden.

Reden wir also von der massenhaften Selbstmißachtung des Menschen. Was heißt es aber, davon reden?

Von der Selbstmißachtung des Menschen reden, das heißt, den Raum bestimmen, den Boden genau in Augenschein nehmen, in welchem lebendige Menschen hier bei uns langsam aber sicher bis in ein mörderisches Gelächter hinein vollkommen verblöden. Raum und Boden, was heißt das? Das heißt: Der gesellschaftliche Raum hier, und die gesellschaftliche Basis, die ökonomische Basis hier, müssen geprüft, in Frage gestellt, wohlmöglich schärfstens attackiert werden. Fragt sich nur, wer sich findet, diese Attacke zu reiten. Um offen zu sein: Ich habe Angst, das zu tun. Ich werde es zwar tun, (Seite 88)

aber mit einer gewissen Angst um mein künftiges Wohlbefinden. Für den Frieden reden, wird hier bei uns allzu leicht umgefälscht in ein Reden gegen die freiheitlich-demokratischen Grundrechte, und solches Reden kann bestraft werden. Aber ich glaube in allein Ernst, daß wir endlich laut und böse und möglichst genau in der Sache und an möglichst vielen Plätzen möglichst bald reden sollten von den menschenverächtlichen Verblödungsstadien, die auf uns zukommen, wenn wir nicht endlich wieder Achtung und Zutrauen zu uns selbst, unserem Kopf und unseren Händen entwickeln. Verblödungsstadien sind im Kommen, die uns ummauern werden wie einen Gefangenen das Haus ohne Fenster, die uns überstülpen und unkenntlich machen werden, so wie der Henker und das Opfer unkenntlich werden unter schwarzen Kopfsäcken.

Aber ich habe Angst. Was ist da zu machen?

Was ist das überhaupt für ein Land, in dem man schon wieder Angst haben muß, für den Frieden zu reden?

Als im letzten Kriegsjahr einmal nachts unser Batterieführer, ein Oberleutnant, zu mir in die Telefonbaracke kam und sagte: Halten Sie Ihr Maul, Geissler, Sie reden sich mit Ihrem Blödsinn um Kopf und Kragen, da fand ich dieses Land widerlich.

Und als sechs Monate später die Engländer kamen, mußte ich lachen und winkte ihnen zu. Ich dachte: Jetzt gehts los, jetzt sind wir frei, jetzt sagt dir keiner mehr »Halts Maul!« auf Sachen, die dir lieb und teuer sind, zum Beispiel langes Leben, Spaß und Frieden unter den Leuten. Jetzt fangen wir einfach an, dachte ich.

Und heute? Was haben wir denn angefangen? Warum denn schon wieder Angst, wenn frei nachgedacht und geredet wird? Wir haben nicht aufgepaßt! Wir sind im Sentimentalen, im Verschwärmten, im Idealischen steckengeblieben.

(Seite 89)

Unsere Hoffnungen und Pläne sind aus dem Bauch und aus dem Herzen nicht vorwärtsgekommen bis in den Kopf. Wir haben, so scheint mir heute, die realen Bedingungen nicht rechtzeitig begriffen, nach denen gesellschaftliche Wirklichkeit sich entweder vernünftig entwickelt oder blöde verdirbt. Jetzt müssen wir laut, auch wenn wir schon wieder Angst haben, laut gegen Krieg und gegen die Pläne der Gewalt reden und rufen. Wir müssen jetzt nach Frieden und freundlichen Zeiten schreien wie ein Mann in der Wüste nach Wasser. Und wir müssen schreien, bevor die Notstandsgesetze in den Händen der Mächtigen zu Lappen werden, mit denen man uns das Maul stopfen kann. Ich fürchte, wir haben nicht mehr viel Zeit. Unter pausenlosen und grölenden Hinweisen auf die Unwahrheiten drüben im Osten wird man uns hier mehr und mehr unsere eigene Wahrheit zerschlagen. Denn haben wir erst einmal die Gesetze, dann wird es künftigen, möglicherweise unfriedlichen Machthabern ein leichtes sein, den brauchbaren Notstand zu erfinden, der es zuläßt, das Sagen der Wahrheit, das laute Schreien nach Frieden, legal zu ersticken.

Nutzen wir also die Zeit; noch sind wir ziemlich freie Leute in einem ziemlich freien Land. Vielleicht klingen manchem vernünftigen Mann hier solche Sätze ein bißchen zu pathetisch.

Meine Damen und Herren, ich bin für Pathos, wo gelitten wird. Und es wird gelitten in unserer Gesellschaft. In unserer Gesellschaft leiden Menschen an bohrender Ratlosigkeit, an Angst und Dummheit. Und diejenigen, die diesen Zustand bekämpfen, erleiden Drohungen und Diffamierungen.

Stimmt das?

Ich nenne ein Beispiel für viele: (Seite 90)

Gegen den Krieg, das heißt gegen die Aufrüstung organisiert reden und handeln ist hier in unserem Land bereits wieder derartig verpönt, daß man den, der ausdrücklich für den Frieden und gegen den Krieg arbeitet, mit dem Titel bewirft, den man, aus einer uralten Begriffsstutzigkeit heraus, für den schmutzigsten aller Begriffe hält. Man nennt Männer und Frauen, die offen gegen Krieg und seine Kalkulation auftreten, Kommunisten.

Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor:

Dieser Titel ist in der Bundesrepublik eine angsteintreibende Drohung.

Leute, die den Frieden zu ihrer Sache machen, Kommunisten zu nennen, das ist durchaus nicht lächerlich, auch nicht nur irgendein Trick — das ist, mindestens auf oberster Ebene, auch nicht nur einfach dummes Gewäsch. Das ist eine Drohung. Eine massive Nötigung von friedfertigen Leuten Tag für Tag. Denn jedermann weiß doch, daß aktive Kommunisten hier bei uns Gefängniskandidaten sind, und so macht man dann hier blitzschnell ganz allgemein die Leute, die sich aktiv um den Frieden in der Welt kümmern, gefängnisreif. Das nenne ich eine freche legalisierte Nötigung von vernünftigen Leuten. Und ich protestiere deshalb an dieser Stelle ausdrücklich öffentlich, daß man mir Angst macht, weil ich frei nachdenken und frei reden will.

Angst tut weh und kostet Kraft.

Gut.

Noch sind wir frei. Und mit den Ängsten kann man ja fertig werden. Lassen Sie uns also zusammen nachdenken, damit uns Vernünftiges in den Kopf kommt: Ein Bursche will also leben, und weil er das will, wird er mit dem Tode bestraft. Genau das ist Krieg; eine verbrecherische Wirklichkeit, in der Menschen verderben. Eine

(Seite 91)

Wirklichkeit, in der der lebendige Mensch verzerrt wird in sein Gegenteil, in stumpfe Abtötung, in einen Rest aus Blut und Dreck. Und ich schlage vor, daß wir in Zukunft, jeder an seinem Platz, aus Respekt vor den zahllosen Kriegsopfern, scharf protestieren, wenn man, wie bisher, der kriegerischen Wirklichkeit auch nur irgendeinen einzigen menschlichen Wert glaubt unterschieben zu dürfen, etwa Tapferkeit, Männlichkeit, Mut. Daß solche Dinge im Krieg vorkommen, sagt nichts über den Krieg selbst. So wenig, wie ja ein Verbrechen dadurch besser wird, daß die Beteiligten in der verbrecherischen Aktion selbst Mut und Tapferkeit und Männlichkeit zeigen. Man hat mir oft gesagt, ich zöge mit meinen Texten vom betrogenen krepierten Soldaten die Toten in den Dreck. Ich will jetzt klipp und klar auf diesen Vorwurf antworten: Man zieht tote Soldaten in den Dreck, indem man ihr Elend in Heldentod umlügt. Man ehrt die Toten auf eine einzige Weise: indem man, an ihrer Statt, eingedenk ihrer Qualen und ihres vertanen Lebens, nur noch die Wahrheit sagt über den Krieg und wie er gemacht wird. Aber Schweigen ringsum und Kranzniederlegungen und stupide Trauermusik, und kaum irgendwo wirksamer Kampf gegen den Krieg. Wie kommt das?

Erstens: weil öffentlich gelogen wird.

Zweitens: weil öffentlich verdummt wird.

Drittens: weil mit Hilfe eines wirtschaftlichen Systems Gewalt und Angst unter die Haut der Leute gebracht werden.

Ganz genauso wie in der Kernszene des Films passiert es ja auch heute: Lüge, Dummheit und Angst irritieren das Selbstbewußtsein des Menschen, machen ihn unfähig in den einfachsten, wichtigsten menschlichen Dingen. (Seite 92)

Reden wir aber der Reihe nach.

Wieso öffentliche Lüge?

Meine Damen und Herren, das ist ein weites Feld. Mit den offiziellen Sprachregelungen fängt es an. Man redet zum Beispiel nicht von Krieg. Man redet von Vorwärtsverteidigung oder vom Verteidigungsfall.

Bei uns »fällt« ein Soldat; er wird nicht totgeschlagen. Er fällt »auf dem Felde der Ehre«; er blutet nicht aus in irgendeinem Keller; verbrennt nicht unter Geschrei in einem Panzer aus Kassel; erstickt nicht in einem U-Boot aus Kiel.

Bei uns steht auf großen Steinen überall in Stadt und Land etwas von »unseren Helden«; nichts von unseren armen, betrogenen, verratenen Brüdern. Steht etwas von »Dankbarkeit« der Überlebenden, nichts vom Zorn und vom Haß der Überlebenden auf die, die das Massensterben ausgedacht und befohlen haben. Bei uns in Hamburg zum Beispiel findet man auf den beiden zentralen Plätzen der Stadt, dem Stephansplatz und dem Rathausmarkt, die folgenden Lügen zum Thema Krieg, in Stein gehauen wie für alle Zeit:

»Sie ließen ihr Leben für euch. Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen. Die Großtaten der Vergangenheit sind Brückenpfeiler der Zukunft.«

Es gibt in Hamburg keinen einzigen Stein, auf den man geschrieben hat: Millionen sind unfrei einen gemeinen Tod gestorben, nach dem Willen und zum Nutzen und unter dem Befehl und mit dem Segen von Wenigen. Holt die Schuldigen aus der Macht, zur Ehre der Toten, zur Rettung der Lebendigen. Soviel zum Thema: die öffentliche Lüge vom Krieg. Wo eine Gesellschaft sich dermaßen um Realitäten herumlügt, beziehungsweise sich herumlügen läßt, da wird (Seite 93)

sie im Laufe der Zeit zwangsläufig unglaubwürdig werden. Zweitens: Weil öffentlich verdummt wird, weiß unsere Gesellschaft auf die Realität Krieg keine angemessene Antwort mehr. Was heißt aber öffentliche Verdummung?

Ich kann hier nur andeuten, was überall im Bundesgebiet auf breitester Ebene stattfindet. In Kriegsdingen den Menschen öffentlich verdummen, heißt, ihm sagen, daß im Atomkrieg jeder eine Chance hat zu überleben. Richtig muß es heißen: Die Waffen, die produziert werden, werden produziert zum Zwecke der Massenvernichtung. Hätte jeder eine Chance zu überleben, dann würden die Waffen nichts taugen; dann würde die Kalkulation der Generale nichts taugen.

In Kriegsdingen öffentlich verdummen, heißt, Leuten bunte Postwurfsendungen in den Briefkasten werfen, auf denen Hinweise gegeben werden zur Bevorratung der Haushalte, denn, so heißt es auf den bunten Zettelchen, sehr leicht können Krieg und Katastrophe die Versorgung des Menschen stören. Richtig muß es heißen: Diejenigen, die Macht haben, solche Postwurfsendungen zu bezahlen und zu verteilen, haben auch die Macht, Kriege und Katastrophen zu verhindern. Um diese Macht auszuüben, haben wir diese Leute gewählt. Sollten die Machthabenden sich als ohnmächtig erachten in Sachen Krieg und Katastrophen, dann sollen sie verschwinden aus dem Bereich der Macht; dann haben wir falsch gewählt. Öffentlich verdummen in der Kenntnis vom Krieg nenne ich es, wenn es in einer Gesellschaft zugelassen wird, daß ungefähr acht Millionen Landserhefte pro Jahr ausgedruckt und verkauft werden. Ich habe etliche (Seite 94)

Hefte gelesen. Mir fehlt die Zeit zu zitieren. Ich behaupte aus Kenntnis: Diese Hefte verherrlichen den Krieg als eine Form der männlichen Selbstverwirklichung.

Dabei fällt übrigens etwas auf: Mord vom Maschinengewehr aus als einen männlichen Sport beschreiben und diese Meinung in Traditionsgruppen pflegen, das ist bei uns erlaubt. Die Verkettung der Massen an wenige Mächtige als ein Unrecht und eine Gefahr beschreiben und diese Meinung politisch organisieren, das ist bei uns verboten. Öffentlich in Kriegsdingen den Dummen spielen, nenne ich es, wenn verantwortlicherseits so getan wird, als seien Wildwestfilme der üblichen Machart uninteressant in Sachen Vorbereitung und Masseneinübung auf Kriegsabenteuer. Will man denn nicht sehen, daß die Westernmoral gegebenenfalls sehr schnell und sehr real nutzbar gemacht werden kann in einer passenden Umwelt, zum Beispiel in einer »Goldwater«-Umwelt? Diese Filme, zusammen mit den — gezählt — 737 Kriegsfilmen der letzten zehn Jahre, machen in der Bundesrepublik das Gros der gezeigten Filme aus. Ihre unmenschliche Tendenz prägt, wenn noch nicht das Bewußtsein, dann das Unterbewußtsein der Mehrzahl der Bundesbürger. Wer das leugnet, betreibt planmäßig oder fahrlässig die bundesdeutsche Verdummung und damit die Herstellung einer willkürlich handhabbaren Haß- und Aggressionsbereitschaft. Öffentlich verdummen, freilich auf verhältnismäßig feine Weise, nenne ich schließlich das, was neuerdings auch in den intelligenteren Presseerzeugnissen betrieben wird. Ich denke an Texte, in denen bestimmte menschliche Hoffnungen, witzig verpackt, einem wegwerfenden Gelächter preisgegeben werden. Ich greife einen typischen Fall heraus: Der amerikanische Bomberpilot Eatherley galt jahrelang (Seite 95)

bestimmten Leuten als ein tragisches Zeugnis für ein überaus empfindliches menschliches Gewissen. Da nun ein derartiges Gewissen z. Z. überall knapp ist, gab es ein verständliches Bedürfnis, auf diesen Mann zu hoffen. Jetzt hat sich herausgestellt, daß dieser Pilot wahrscheinlich das, was wir sein Gewissen nannten, zu seinem privaten, neurotischen Vergnügen nur hochgespielt hat.

Mag das stimmen. Dann, finde ich, ist das kein Grund zur Freude. Freude und Hohn steckten aber in den Texten seriöser Blätter, in denen ich über diesen Fall gelesen habe. Freude und Hohn hierüber verbreiten, das nenne ich eine feinnervige Art der Verdummung. Richtiger wäre in einem solchen Fall, klar die Enttäuschung beschreiben darüber, daß der einzige Zeuge für ein in Sachen Hiroshima noch irgendwie moralisch intaktes Amerika nun wertlos geworden ist. Wieviel menschliche Selbstmißachtung kommt zum Vorschein, wenn Vergnügen ausbricht, wo ein wichtiger Zeuge im Kampf gegen Massenvernichtung sich als ein Kranker oder gar als ein Lügner erweist. Wen verspottet denn dieser Spott, wenn nicht die Hoffnung des Menschen auf bessere Zeiten?

Soviel zum zweiten Punkt: Verdummung in Sachen Krieg.

So wird also gelogen über den Krieg. So wird verdummt bis zur zynischen Selbstmißachtung. Die Mechanismen und die Machtträger der Lüge — und die Mechanismen und die Machtträger der Verdummung müssen bekämpft werden, wenn Krieg und Kriegsvorbereitungen bekämpft werden sollen. Drittens muß jetzt gesprochen werden von Herkunft und Wirkung der Gewalt und der Angst in unserer Gesellschaft. Ich behaupte: Gewalt und Angst beherrschen

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bis unter die Haut des einzelnen die ganze Gesellschaft. Die meisten Gesten sind von unerhörter Ohnmächtigkeit und Ratlosigkeit; die meisten Gesichter von einer tiefen Resignation und Selbstmißachtung, oft schon bei jungen Leuten von Zynismus gezeichnet. Eine gespenstische Herrschaft der Klischees wird beobachtet, ob nun gelacht, geweint, geliebt oder gestorben wird. Kaum noch irgendwo Ahnung, was Leben und Lebendigkeit unter Menschen tatsächlich sein könnten; nirgendwo Stolz und Freude und Kühnheit; nirgendwo gelassenes und unverlogenes Vergnügen an Bauch, Kopf und Händen! Alle Spielarten der Aggression kommen vor, kreischende Ödenei, massenhaft Kopflosigkeit —die miserable Physiognomie einer verdorbenen Gesellschaft.

Wer die glänzende Oberfläche für das Ganze nimmt, übersieht das Grundsätzliche: Den unmenschlichen, aus Angst und Gewalt kommenden und in Angst und Gewalt auslaufenden Kampf aller gegen alle hinter jeder Fassade, hinter fast jedem Auge. Und wieso das? Woher dieser Mißstand? Wer erzeugt diese hochkomplizierte glänzende Verelendung der Massen?

Dieser gemeine Zustand kommt aus einem System der Angst und der Gewalt, nach welchem unsere Wirtschaft, also die Basisereignisse in unserer Gesellschaft, funktio­nieren.

Von was für einer Angst ist die Rede? Von welcher Gewalt?

Ich rede von der nach hiesigen Wirtschaftsgesetzen legalisierten — und nach der kirchlichen Privateigentumslehre sanktionierten! — Gewalt, nach der der Stärkere recht hat. Und ich rede von der überall vorherrschenden Angst, dem Nebenmann zu unterliegen — auf der (Seite 97)

Autobahn, am Arbeitsplatz, im Bett. Lesen Sie Werbetexte. Diese Texte leben von versteckten Drohungen und kaum noch verheimlichten Ängsten des Menschen. Was hat das alles aber mit Krieg zu tun? Meine Damen und Herren, der herkömmliche Krieg einerseits und unser Wirtschaftssystem andererseits haben das wichtigste Gesetz gemeinsam. Gemeinsam ist den Kriegsvorgängen wie den hiesigen Wirtschaftsvorgängen ein ganz bestimmtes, primitives Grundgesetz praktischen Verhaltens. Das primitive Grundgesetz des Krieges wie das primitive Grundgesetz unserer Wirtschaft heißt:

»Der Stärkere hat recht.«

Ist das so gefährlich?

Ja.

Denn das ist ein den Menschen in Primitivzustände zurückzwingendes Gesetz aus der Welt der Vorfahren, aus der Welt der Affen und Wölfe. Ein Gesetz aus uralten Tagen ist das, ein Gesetz aus der Zeit, als die Natur noch mehr galt als die vom Menschen begriffene und also veränderte Welt. Ein Gesetz ist das, das die vernünftigen Chancen des Menschen leugnet und zerstört, das jeden vernünftigen Menschen in seinem Selbstbewußtsein beleidigen muß.

Denn aus der Zeit, in der ein Affe aus Prestigegründen seinem Nebenmann zeigen mußte, wie vielen Kollegen er schon das Fressen weggebissen hat, aus dieser Phase sind wir Menschen unserer Möglichkeit nach längst heraus. Davon allerdings scheinen die, die uns unser Wirtschaftssystem eingerichtet haben, bisher kaum etwas gehört zu haben. Wider alle besseren Möglichkeiten des Menschen haben sie ein Wirtschaftssystem beibehalten, das uns wie Wölfe, wie hastige Affen hantieren heißt von morgens bis abends. Wer sich unter dieses Gesetz nicht beugen will, wer sich (Seite 98)

nicht zurückzwingen lassen will in brutale Verhaltensweisen, der geht hier bei uns über kurz oder lang vor die Hunde. Er wird weggebissen werden vom stärkeren Männchen in der Herde. Wer aber nach dem Gesetz, der Stärkere hat recht, leben will, der muß bereit sein — und das scheint mir sehr bedeutungsvoll und wichtig — der muß bereit sein, täglich seine eigentlich menschlichen Möglichkeiten zu verleugnen und zu knebeln. Nun ist es aber so, meine Damen und Herren: Jeder Mensch, auch der blödeste, hat eine eigenartig hartnäckige Ahnung von sich — von dem, was das sein könnte und eines Tages auch sein wird: ein Mensch. Jeder — ich mache diese Erfahrung, sooft zum Beispiel fremde Leute als Anhalter in meinem Auto sitzen und wir Zeit haben zu reden und zu fragen, wies so geht und steht jeder von uns, sage ich, hat irgendwo verschüttet noch eine Ahnung herumliegen von dem, was Schönheit ist und Freundlichkeit unter Menschen und Freiheit. Wenn das aber so ist mit der Ahnung von dem, was der Mensch irgendwann mit allen anderen zusammen mal sein könnte, dann ergibt sich doch folgendes hier bei uns: Man zwingt den Menschen pausenlos von sich selbst weg, zwingt ihn mit Hilfe wirtschaftlicher Druckmittel weg von seinen schönen und vernünftigen Ahnungen, abwärts ins Tierische, zurück ins Hauen und Stechen und Beißen.

Und was folgt?

Man erzeugt in einem derart zurückgeworfenen Menschen einen gefährlichen Notwehrakt, eine tief sich einfressende Mißachtung gegenüber der großartigen eigenen Ahnung; man erzeugt die Selbstmißachtung des Menschen. Denn nur unter Absehung von seiner Hoffnung auf menschliche Zukunft und menschlichen

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Fortschritt kann er schließlich in die Wolfsmoral hier sich zurückfinden; kann er den Primitivgesetzen dieser Wirtschaft folgen und Eigentum sammeln, wie der Bischof und der Kanzler es wünschen. Hat man aber einmal mit Hilfe der wirtschaftlichen Zwänge die gründliche Selbstmißachtung der Massen erreicht, dann hat man diese lebendigen Massen auch schon bestens präpariert für den nächsten Krieg. Denn wenn in einem nächsten Krieg irgend etwas Bedingung sein wird, dann die Selbstmißachtung der Massen. So bereitet unser Wirtschaftsverhalten künftiges Kriegsverhalten unmittelbar vor. Und so kommt es, daß, wer den Krieg bekämpfen will, dieses Wirtschaftssystem bekämpfen muß.

Christian Geissler

Kampagne für Abrüstung, Frankfurt 1964

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soldatenfriedhofStQuentinSoldatenfriedhof in Nordfrankreich (St. Quentin) Juli 1963st2Quentin193StQuentin3Fotos St. Quentin Nordfrankreich 1963  Jens Meyer

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Douaumont Beinhaus. Fotografie von Holger Weinandt. Wikipedia. Gemeinfrei