Briefe an Wiebeke (XXXVI)

Briefe an Wiebeke (XXXVI) Die Gesinnung erkennt man an den Handlungen: Die falsche Schlange Clara.

PDF Briefe an Wiebeke (XXXVI) Die Gesinnung erkennt man an den Handlungen

Romische Zahlen am BUG

Die falsche Schlange Clara

Hallo Wiebeke,

sicher stellst Du Dir die Frage, wie es zu dieser Überschrift kommt? Und ich stelle mir umgekehrt die Frage, wie kommt eine Schlange in eine Kneipe? Das gibt überhaupt keinen Sinn. Es geht ja doch nur um einen Dialog zweier Personen, die dort aufeinander treffen. Natürlich Männer. Fragt der eine den anderen in der Kneipe : . . . schooohn . . . sch . . . lannge hier?

Diese Schlange ist natürlich nicht gemeint. Sollte eigentlich heißen: Sind sie oder bist Du . . . schon lange hier? Meine Schlange ist natürlich eine andere. Aber diese Schlange aus der Kneipe wird im weiteren Verlauf des Textes nicht wieder aufgegriffen werden. Das verspreche ich.

Es beginnt mit meiner Spülmaschine. Zuerst werden die Tassen, die allerdings bei mir Becher sind, die ich nach der Reinigung als erstes in den darüber hängenden Küchenschrank räume, natürlich alle, damit später keiner diesen berühmten Satz über mich sagen kann, den mit den Tassen im Schrank, die fehlen, den es in verschiedenen »Varianten« gibt. Manchmal werden daraus auch Latten im Zaun, oder aber die Puderung mit einem Klammerbeutel, aber meistens kommt auch ein Schrank drin vor.

Bei mir kommen die Tassen, die Becher sind, nicht in den Küchenschrank, sondern werden an Haken an einem Bord angehängt. Das mit den Tassen, die bei mir Becher sind, mache ich, wie Du weißt, seit meiner Seefahrtszeit.

In der Pantry der »MS Ceuta« wurden die Tassen auch auf diese Weise angehängt, damit sie beim Seegang nicht runterfallen. Ich hab das extra für Dich fotografiert und skaliert, damit ich es, wenn der Text fertig ist, nur noch schnell hochladen kann und nicht länger beschreiben muß, wie das nun genau aussieht.

Nun gibt es in meiner Pantry nicht so oft hohen Wellengang. Und es geht dabei eigentlich um eine andere, aber bisher ungelöste Frage. Wobei nicht eigentlich die Frage ungelöst ist, sondern eher doch die Antwort auf die besagte Frage.

Nämlich warum die Tassen, die bei mir Becher sind, wenn ich sie an die Haken gehängt habe immer noch eine ganze Weile hin und her pendeln und erst viel später zur Ruhe kommen. Die pendeln so gefühlte zehn Minuten. Ich habe es mir bisher verkniffen, die Pendelzeit der Tassen, die ja Becher sind, zu stoppen.

Eine dunkle Erinnerung flüstert mir ein, das mir ein Assi, ein »Schiffsingenieursassistent« bei der OPDR, der »Oldenburg – Portugiesischen Dampfschiffs- Rhederei«, mal erklärt hatte, das das und wie mit der Erdanziehung, oder war es die Erddrehung ― zu tun habe.

Du siehst mich also wartend. Wartend auf eine Erklärung Deinerseits. Schließlich hast du immer behauptet, Du wärst länger in der Schule gewesen als ich, obwohl ich mir da heute auch nicht mehr so sicher bin, ob das wirklich stimmt. Das länger. Vielleicht waren es ja nur Nachsitzstunden, die ja auch die Schulzeiten verlängern.

Also eigentlich geht es auch gar nicht um die Tassen, also die Becher, die an ihren Henkeln da eine Weile hin und her pendeln. Das war nur der kleine Umweg, damit das Folgende nicht so bedeutungsschwer wird. Es geht natürlich, wie fast immer bei mir, um Kino. Und natürlich um eine Frau. In diesem Falle um eine, der ich gottseidank nie begegnet bin.

Die ich aber doch, in den letzten fünfzehn Jahren, genauestens studiert habe. Ihr Leben, ihre Biografie, ihren Besitz, ihre Kinder, ihr Verhalten und so weiter. Leider habe ich kein Bild von ihr. Nur von dem Mann, den sie geheiratet hatte. In Berlin. Er hatte Segelohren.

Sein Vater, von Beruf Drucker, war von Trier nach Luxemburg ausgewandert und hatte dort die »Obermoselzeitung« gegründet. Die erste Ausgabe der »Obermoselzeitung« war am 2. Juli 1881 in Grevenmacher erschienen. Ein Ort dicht an der deutschen Grenze. Eine erfolgreiche Zeitung, die den Luxemburgern bald am liebsten war. Keine andere wurde sooft gekauft und abonniert, wie die »Obermosel«. Der Erfolg der »Obermoselzeitung« von Joseph Esslen beruhte auf seinen Berichterstattern, die er in Luxemburg überall hatte. Jedes Ereignis, sei es auch noch so klein und unwichtig, übermittelten die Berichterstatter, die dafür ein Zeilenhonorar bekamen.

Joseph Esslen, richtig Johann Peter Joseph Esslen, heiratete in Luxemburg Elisabeth Lanser, eine Luxemburgerin. Dadurch bekamen die Kinder die Luxemburger Staatsangehörigkeit. Zwei Kinder sind bekannt: Karl Friedrich und Eugen Esslen.

Karl Friedrich Esslen wurde am 16. Februar 1882, sein Bruder Eugen Esslen wurde 1884 geboren. Eugen legte am 3. August 1900 sein »Übergangsexamen« im Gymnasium Grevenmacher ab. Von wo nach wo Eugen Esslen mit 16 Jahren übergeht, habe nicht herausgefunden. 1913 kommt Bruder Eugen Esslen nach Hamburg, wohnt im Mundsburgerdamm 40 im vierten Stock und gibt als Beruf Prokurist an.

Karl Friedrich Esslen studiert in Paris. Irgendwas mit Medizin, so berichtet Wikipedia. Nach seiner Rückkehr aus Paris arbeitete Karl Friedrich als Redakteur im väterlichen Betrieb der »Obermoselzeitung«, wie sein Vater Joseph Esslen diese Zeitung genannt hatte. Aber wie kommt einer aus Grevenmacher, der in Paris studiert hatte, nach Berlin?

Eine erste Eintragung von Karl Friedrich Esslen im Scherl Adressbuch von Berlin finde ich für das Jahr 1909. Berufsangabe dort: Vertreter. Vertreter und Langeweile gehört in meiner Wahrnehmung unmittelbar zusammen. Was für Karl Friedrich Esslen irgendwie nicht stimmt, so sagt mir seine Biografie.

In Berlin ist er Generalvertreter der Firma Collan Oil, auch Collan Olja von T. Olsen aus Stockholm. Olsen hatte sich auf die Herstellung von Lederöl spezialisiert. Lederöl wurde für die Treibriemen aus Leder benutzt, mit denen damals Maschinen angetrieben wurden.

Doch der Absatz von Lederöl für Treibriemen kam nicht richtig in die Gänge und entsprach nicht den Erwartungen, die man in Stockholm und Berlin hatte. Und so gründete Esslen, zusammen mit den Brüdern Salzenbrodt, eine Firma, die aus Lederöl und einem südamerikanischen Baumharz eine wasserabweisende Schuhcreme herstellen sollte. Für ihr neues Produkt fanden sie den Namen »Collonil«, den sie im Mai 1914 registrieren liessen.

Als im August 1914 Kaiser Wilhelm zur Verteidigung des Vaterlandes rief, hatte Karl Friedrich Esslen Glück. Sein Vater war vor Zeiten von Trier nach Luxemburg aus- bzw. eingewandert und so erhielt Karl Friedrich die Luxemburger Staatsangehörigkeit. Luxemburg war nicht kriegsbeteiligt und Esslen wurde daher nicht eingezogen. Ganz im Gegensatz zu den Brüder Salzenbrodt, die in der Schuhcremefabrik seine Teilhaber waren.

Im Schlamm der Front bewährte sich »Collonil« für die Lederstiefel der Soldaten. »Collonil«, die wasserabweisende Schuhcreme war ein Verkaufsschlager geworden. Und im November 1918, als der Krieg zu Ende war, kehrten die Brüder Salzenbrodt unversehrt in ihre Schuhcremefabrik in Berlin Kreuzberg zurück. Die Umsätze waren derart in die Höhe geschnellt, das die Produktionsstätte in Berlin Kreuzberg aus allen Nähten platzte. Es fand sich nördlich von Berlin, in Mühlenbeck, ein Platz für die Schuhcremefabrik von Esslen und den Brüdern Salzenbrodt.

Bei Familie Esslen, die inzwischen aus Clara, Eva und Karl Friedrich Esslen bestand, kehrte der Wohlstand ein. Der Schuhcremefabrik wurde 1925 noch ein Wein- und Sprituosenhandel aus Trier angegliedert: Die »Karl Friedrich Esslen, Weinkellereien, Trier, Verkaufszentrale Mühlenbeck bei Berlin, Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Mühlenbeck bei Berlin«. Merkwürdig finde ich nur, das das Handelsregister in Berlin einen so langen GmbH Namen akzeptiert hatte.

Und dann passierte das, was immer passiert, wenn Jemand nicht weiß, was man mit dem vielen Geld machen soll. Karl Friedrich Esslen kaufte Immobilien: In Berlin, in Wiesbaden, in Hamburg, wie wir heute wissen. Vielleicht auch noch anderswo. Nun erwies es sich jedoch als Nachteil, das Karl Friedrich Esslen die Luxemburger Staatsangehörigkeit hatte: Ausländern war der Kauf von Immobilien in einigen Landstrichen untersagt und so wurde seine Gattin Clara Esslen, die aus Berlin stammte, in die Grundbücher der Zinshäuser in Berlin als Eigentümerin eingetragen.

Zwei »Zinshäuser« in Berlin habe ich gefunden. Zwei Häuser, das eine mit 48 Mietwohnungen und das daneben mit 19 Wohnungen am Kaiserplatz (heute Bundesplatz) 11 und 12 kamen so in den Besitz von Clara Esslen.

Vermutlich ist es diese Luxemburger Staatsangehörigkeit die Karl Friedrich Esslen daran gehindert hatte, das er das in Hamburg gekaufte Kontorhaus in der Dammtorstrasse 14 nicht unter seinem Namen als Karl Friedrich Esslen ins Grundbuch eingetragen lassen konnte, sondern für den Kauf extra eine Firma, gründen mußte, die: »Hamburger Haus- & Landschaftsverwaltungsgesellschaft mbH« mit der Hamburger Anschrift: Plan 4 – 6. Im Adressbuch wird von 1921-1930 der Name W. Pusch als Ansprechpartner dieser Firma genannt. Danach verschwindet der Name Pusch und als Ansprechpartner dieser Firma taucht ab 1922 auch sein Bruder Eugen Esslen mit der Firmenanschrift Mönckebergstraße 8 im Adressbruch auf. Vermutlich identisch mit dem Hamburger Erfinder Eugen Esslen, der sich eine Pudermischvorrichtung und ein doppelschneidigen Fleischwolfmesser: Patentschift Nr. 622247 und Patenschrift Nr. 504 974 patentieren ließ.

pdfEugen Esslen Fleischwolfmesser

PDF PatenteEugenEsslenPuder

PDF EugenEsslenUSAPudermischvorrichtung

Clara Esslen lernte ich nur durch das Papier kennen, das sie und andere über sie hinterlassen haben. So habe ich erfahren, daß sie, als ihr Mann, Karl Friedrich Esslen, am 16. Juli 1930 starb, ein reiche Witwe war, die in einigen Städten Deutschlands lukrative Mietshäuser ihr Eigentum nannte. In Hamburg, Berlin und Wiesbaden habe ich solche Einträge gefunden. In Hamburg war sie Eigentümerin eines Kontorhauses geworden, das ebenfalls mit 46 solventen Gewerbemietern sehr profitabel war.

Nur ein Mieter befand sich 1931 mit RM 39.000 im Zahlungsverzug. Das Waterloo-Theater, das zwei Jahre vorher mit einem Kostenaufwand von RM 600.000,– vergrößert worden war. Statt bisher 400 Sitzplätze hatte es nach dem Einbau eines Ranges knapp 900 Sitzplätze. Die vereinbarte Jahresmiete war mit RM 60.000,– relativ hoch.

Mithilfe einer Räumungsklage gegen die Betreiberfirma: Die »Norddeutsche Filmtheater KG Manfred Hirschel« gelang es Clara Esslen, die Firma, die ihr zur Hälfte bereits gehörte, zur Insolvenz zu bringen. Das hatte den Vorteil, das der nachweisbare Wert (RM 600.000,–) des Kinos ohne weitere Zahlungen in ihren Besitz gelangen würde.

Das war auch der Grund, warum es 1931 zu dem Vergleich kam. Manfred Hirschel hatte im sogenannten »Wiedergutmachungsverfahren« zu Recht darauf hingewiesen, das kein Gericht im Deutschland 1931 ihm für eine Mietschuld von RM 39.000– ein Kino im Werte von 600.000,– als Pfand bewertet hätte.

Mit anderen Worten. Auch dieser Vergleich, der dazu geführt hatte, das die »Norddeutsche« in Konkurs ging, diente nur einem Zweck: Das Kino ganz zu übernehmen. Manfred Hirschel wurde auf diese Weise gezwungen, Teilhaber einer GmbH zu werden, die Clara Esslen aus der Erbschaft ihres Gatten übernommen hatte. Aus der »Karl Friedrich Esslen, Weinkellereien, Trier, Verkaufszentrale Mühlenbeck bei Berlin, Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Mühlenbeck bei Berlin« wurde die »Waterloo Theater GmbH« die später, mit Hilfe des deutsch-jüdisch-evangelischen Anwaltes Dr. Otto Herbert Bauer ihren Sitz nach Hamburg verlegte.

Ein übrigens völlig wertloser GmbH Mantel, der den Vorteil hatte, das sein Stammkapital (RM 20.000,–) schon 1925 bei Gründung dieser Firma einbezahlt worden war und nicht, wie bei einer Neugründung üblich, beim Notar als vorhanden vorgezeigt werden mußte. Vermutlich hat sie den 50 % Anteil dieser GmbH an Manfred Hirschel zum Nennwert von RM 10.000,– verkauft.

So wichtige Sachen, das habe ich schmerzhaft gelernt, müssen immer noch mal wiederholt werden: Aus der »Karl Friedrich Esslen, Weinkellereien, Trier, Verkaufszentrale Mühlenbeck bei Berlin, Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Mühlenbeck bei Berlin« die »Waterloo Theater GmbH«.

Zeitweise war Dr. Otto Herbert Bauer auch Geschäftsführer dieser Mutanten ― GmbH. Vermutlich aus dem Grunde, um dem anderen Eigentümer, Manfred Hirschel, an die Kette zu legen, denn in der Satzung dieser GmbH stand jener Satz, der sich auf wundersame Weise bei seiner Mutation verändert hatte.

Stand dort vorher, sind zwei Geschäftsführer bestellt, so ist jeder der beiden allein vertretungsberechtigt, so steht dort jetzt das genaue Gegenteil: Sind zwei Geschäftsführer bestellt, so vertreten diese gemeinsam die Firma. Ohne den Geschäftsführer Dr. Otto Herbert Bauer kann Manfred Hirschel nichts entscheiden. Der Rechtsanwalt ist Claras Kettenhund. Einer Person, die, das sollte man endlich mal schreiben, noch nie ein Kino gemacht hatte und Null Ahnung vom Kinomachen hatte.

Immerhin hatte Manfred Hirschel mit dieser Firma einen Geschäftsführervertrag bis 1955. Den hebelt Clara mit Hilfe des Rechtsanwaltes Dr. Bauer und des Filmes von Franz Seitz »SA Mann Brandt« 1933 auf klassische Weise aus. Und das geht so: Sie vermietet das Waterloo Kino an die NSDAP, als diese sich im August 1933 an der Macht stabilisiert hatte. Der Reichstag hatte gebrannt, das Ermächtigungsgesetz war in Kraft und viele Gegner der Nazis in Gefängnissen. Im März 1933 kam »SA Mann Brandt« von Franz Seitz ins Kino. Keine Auftragsproduktion der NSDAP. Als der Film mehr oder weniger gefloppt war, gefällt er auch dem gerade zum Propagandaminister Ernannten nicht mehr sonderlich.

Als die Partei, wie sie sich jetzt nennt, davon erfährt, das ein Jude der Geschäftsführer des Waterloo Kinos ist, fällt sie aus allen Wolken. In diesem Falle kann dieser hervorragende Film über die hervorragende NSDAP »SA Mann Brandt« im Waterloo Theater natürlich nicht gezeigt werden.

Nun ist es ja nicht weiter schlimm, dann verzichtet man eben auf die Einnahmen aus der Vermietung, vor allem dann, wenn man sich später auch noch zur Widerstandskämpferin gegen die Nazis etablieren will, wie Clara Esslen nach dem Krieg immer wieder anhand ihrer Nichtmitgliedschaft ungefragt erklärt hatte. Auch der höchste Bauherr ihres Führers war ja nie Mitglied der NSDAP geworden.

Nein, die hinterlistige Clara, die falsche Schlange, erkennt ihre einmalige Chance und ergreift sie. Sie bittet den Rechtsanwalt Dr. Otto Herbert Bauer, Herrn Hirschel vorzuschlagen, zeitweise formell sein Geschäftsführeramt niederzulegen. Hirschel telefoniert darauf hin mit dem jüdischen Anwalt Kurt Leo Eisner, den er im Schlichtungsverfahren als »Mitschiedsrichter« kennengelernt hatte.

Dieser rät ihm, er kenne Dr. Otto Herbert Bauer als ehrlichen Menschen, dem man vertrauen könne, Hirschel solle seinen Vorschlag folgen und das Amt zeitweise niederlegen.

Wen er aber nicht kennt, das ist Clara Esslen, die diesen Rücktritt ihres Geschäftsführers nach dem Tod von Dr. Otto Herbert Bauer, der im KZ von den Nazis umgebracht wurde, für sich noch Jahrzehnte später juristisch zu nutzen versteht.

Ebenso der »Persilschein«, den ihr der Rechtsanwalt Dr. Carl Stumme im August 1945 zur Vorlage bei der Britischen Militärregierung gefertigt hatte, der auf andere Weise zum Einsatz kam, als es ursprünglich vorgesehen war. Dr. Carl Stumme hatte diese Bescheinigung zur Vorlage bei der Britischen Militärregierung gefertigt, um eine drohende Beschlagnahme durch die Britische Militärregierung und dem Einsatz eines Treuhänders zu verhindern.

Ein Verwandter von Manfred Hirschel hatte in Hamburg überlebt und sich als Treuhänder der Militärregierung angeboten. Das galt es zu verhindern, was gelang. Als dann einige Jahre später der Restitutionsprozeß »Waterloo Kino« begann, fügte Clara Esslen eine Kopie dieses Persilscheins von Dr. Carl Stumme, von dem alle Beteiligten wußten, daß die Angaben nicht der Wahrheit entsprachen, ihrem Brief an das Landgericht bei. Dort hat er sich bis heute erhalten. Als Stumme davon erfuhr, hatte er verlangt, das dieses Schreiben als nicht erteilt zurückzugeben sei. Ein Kino mit 900 Sitzplätzen in bester Innenstadtlage zurückgeben? Nein, auf keinen Fall. Es wurde nichts zurückgegeben. Auch kein Persilschein.

Die Geschichte von Gier, Raub und Geiz hatte schon bei der Machtübergabe begonnen. Und wurde so 1945 fortgesetzt. Und wie sie damit damit durchgekommen sind! In der Hauptsache Clara Esslen. Aber es standen ihr hilfreiche Personen zur Seite: Heinrich Heisig, Dr. Carl Stumme und der später ermordete Rechtsanwalt Dr. Otto Herbert Bauer. Und Dr. Otto Herbert Bauer auch noch, als er schon lange tot war.

Die Geschichte handelt in der Hauptsache von der falschen Schlange Clara Esslen, die alle beteiligten Personen geschickt für die eigene Bereicherung eingesetzt hatte. Die Geschicklichkeit, so kann man es auch nennen, wie sie bestimmte Menschen für eigene Zwecke einzusetzen verstand und wie sie es verstand, dies in einer Weise zu organisieren, das immer andere die Arbeit für sie erledigten und sie selbst sich die Hände nie schmutzig machen mußte.

In dem Theaterstück, das sie uns vorführt, kommen vor:

1.) Ein junger Mann, aus einfachen Verhältnissen, der sich hocharbeitet vom Filmvorführer zum Kinodirektor.

2.) Ein deutsch-jüdisch-evangelischer Rechtsanwalt, konservativ aus begüterten Verhältnissen, der die Religion wechselte, aus welchen uns unbekannten Gründen auch immer, und ihr sowohl als jüdischer Rechtsanwalt, wie auch als christlicher Rechtsanwalt gute Dienste leistete. Einer der leider der irrigen Ansicht war, das er durch seinen Frontkämpfereinsatz und seinem Religionswechsel ausreichend vor einer Deportation geschützt sei, was aber nicht der Fall war. Und der für Clara in beiden Religionen und als Lebender wie auch als Ermorderter nützlich war.

3.) Dazu kam dann noch der Hausmeister Peter Lützow des Dammtorhauses, der als Zeuge dafür benannt wurde, das man keine Hakenkreuzfahne gehabt habe, bis zu dem Zeitpunkt als es verboten war, mit schwarz-weiss-roten Fahnen ein Haus zu schmücken. Wann das genau war, ist sicher dem Zeugen erinnerlich. Bestimmt nicht vor 1936.

4.) Ihre drei Kinder, obwohl am 3.6. 1918, 1.2. 1922 und 21.8.1923 geboren, die bei Kriegsende 1945 – 27, 23 und 21 (in Worten: siebenundzwanzig, dreiundzwanzig, einundzwanzig) Jahre alt sind und immer noch minderjährig: (siehe 5 Vormundschaftsgericht) 5.) Das Vormundschaftsgericht in Wiesbaden für ihre minderjährigen Kinder.

6.) Der Anwalt, der ihr den Persilschein für die Britische Militärregierung in Hamburg schreibt. 7.) Der als Arisör bekannte Funktionär der NSDAP und viele andere. 8.) Und der Nazi, der ersten Stunde, der schon vor der Machtübergabe von der Sache Adolf Hitlers überzeugt war und dies in seinem Passage Kino in Mönckebergstrasse in Hamburg auch zum Ausdruck brachte. Man beachte seine Zeugenaussage. Auch er hatte einem Juden das Leben gerettet, gab er Kund und zu Wissen.

Hier die ausgewählten 11 Dokumente des aufgeführten Theaterstückes: Dokument 1 Brief aus London von K.A. Kohn Dokument 2 Brief von Clara Esslen an das Landgericht mit Anlage Dokument 3 Bescheinigung von Rechtsanwalt Dr. Carl Stumme Dokument 4 Brief von Rechtsanwalt Dr. Kurt Eisner aus Saõ Paulo Dokument 5 Brief von Manfred Hirschel an seinen Anwalt Dokument 6 Richard Adam schreibt an das Landgericht Dokument 7 Beschluß Landgericht in Sachen Adam Dokument 8 Richard Adam der »Arisör« sagt aus und beantragt Zeugengeld Dokument 9 Gericht lehnt Zeugengeld ab Dokument 10 Hans Struckmeyer Dokument 11 Sie sind damit durchgekommen.

Dokument 1 Abschrift. [IMG_4869.jpg +IMG_4869.jpg + IMG_4870.jpg] Brief aus London von K. A. Kohn K. A. Kohn (German) [Karl Alphons Kohn] 23rd. Oktober 1946 Kreis: Hamburg

Anspruch gegen: Frau Clara Esslen d.h. Waterloo Kino, Hamburger Dammthor Strasse In Vollmacht datiert 1 ten März 1946 ausgestellt in Saõ Paulo, Brasilien, von Herrn Manfred Hirschel an Herrn Karl Alphons Kohn, 67 Chalckhill Rd. Wembley Park, Mddx.

Der Unterzeichnete K. A. Kohn möchte Anspruch erheben an Stelle von Herrn Manfred Hirschels Eigentum und Teilhaberschaft am Waterloo Kino, Hamburg, auf Grund folgender Tatsachen. Herr Hirschel, welcher jetzt in Saõ Paulo Brasilien lebt war Teilhaber des Waterloo Kino‘s, Dammthor Strasse, Hamburg. Der andere Teilhaber war eine Dame, Frau Clara Esslen und das Waterloo Kino G.m.b.H. wurde von Herrn Hirschel und Frau Esslen gegründet; jeder Teilhaber hatte einen Anteil von 50 %.

Die Führung des Kino‘s war alleinig in den Händen von Herrn Hirschel der deshalb auch einen Kontrakt hatte der ihm den Gewinn des Verkaufs von Zigaretten und Süssigkeiten zusprach. Ausser diesem hatte er einen Kontrakt mit Frau Esslen d.h. mit der G.m.b.H. als Angestellter, wonach er ein besonderes Gehalt als Geschäftsführer erhielt.

Alle diese Kontrakte sowie der Teilhaberkontrakt und der Mietsvertrag liefen bis zum Jahr 1955. Frau Esslen war Inhaberin des Grundstücks (Ich weiss nicht ob sie auch das Gebäude besass) [Grundbucheintrag 1935 K. F. Esslen u. Erben] Schon im Mai 1933 übte die Nazipartei Druck auf die G.M.B.H. aus, das Waterloo Kino zu “ariesieren“ und unter der Drohung das Kino zu schliessen zwang sie Herrn Hirschel seine Stellung als Geschäftsführer aufzugeben.

Im Februar 1934 verbot Frau Esslen Herrn Hirschel, da sie Inhaberin des Grundstückes war, das Kino oder die Büros zu betreten. Weiterhin verweigerte sie jede Zahlung und weigerte sich ihren kontraktlichen Verpflichtungen nachzukommen mit der einzigen Begründung (meistens angewandt in diesen Zeiten) dass man es ihr nicht zumuten könne einen Kontrakt mit einem Juden zu erfüllen.

Herr Hirschel war deshalb gezwungen eine gerichtliche Klage anzustrengen in Bezug auf Einhaltung und Erfüllung der bestehenden Kontrakte. Er schätzte seine Verluste in dieser Zeit auf £ 25.000. Er wurde dann vor die N.S.D.A.P. geladen sowie vor die Gestapo und die Kriminalpolizei und man drohte ihm mit Haft im Konzentrationslager.

Nach zwei Jahren der unfairsten Prozessführung von Seiten der Frau Esslen, war er gezwungen seine Rechte aufzugeben und nach Brasilien auszuwandern. Ich möchte eine weiter nötige Auskunft geben. Ein Schwager von Herrn Hirschel lebt noch in Hamburg. Sein Name ist John Streit, 14 Hegestieg, Hamburg 14. Dieser Herr ist jetzt Teilhaber der Schauburg G.M.B.H., Hamburg.

Ein weiterer Zeuge dürfte der frühere Anwalt von Herrn Hirschel, Dr. Stumme, Hamburg sein der vielleicht noch die Akten der Gerichtsverhandlung hat. Ohne Zweifel wird und kann Herr John Streit alle nötigen Auskünfte über die ganze Angelegenheit geben, über Frau Esslen und auch über einen Mann namens Heisig, welcher im Waterloo angestellt war als Herr Hirschel noch Teilhaber war und soweit ich weiss, ist dieser Heisig auch heute im Waterloo tätig. Unterschrift K. A. Kohn

Dokument 2 Brief von Clara Esslen an das Landgericht und eine Anlage [IMG_4929.jpg + IMG_4930.jpg, Seite 12 + 13 der Akte] Abschrift des Briefes von Clara Esslen an das Landgericht vom 30. Dezember 1949, K. Esslen, Dammtorstr. 14. Waterloohaus Ruf 35 44 30 Eingangsstempel Landgericht am 2. Januar 1950.

[Clara Esslen schreibt am 30. Dezember 1949 an das Landgericht Hamburg. Und fügt dem Brief eine Anlage bei, die ursprünglich einem anderen Zwecke dienen sollte]:

An das Wiedergutmachungsamt beim Landgericht Hamburg, Hamburg 36, Dammtorwall 41 D Zimmer 308 Aktenzeichen Z 55 Betr.: Rückerstattungssache Manfred Hirschel

Die Berechtigung der Ansprüche des Herrn Manfred Hirschel wird von mir zugleich auch im Namen von Herrn Heisig vollen Umfanges bestritten. Deshalb bitte ich unter Bezugnahme auf die beiliegende Erklärung des Herrn Rechtsanwaltes Dr. Stumme dem Wiedergutmachungsanspruch des Herrn Hirschel abzuweisen.

Wenngleich Herr Hirschel in seinem Schreiben v. 15.8.1949 die Richtigkeit der Angaben des Herrn Dr. Stumme über Daten und Beträge anzweifelt, so werden dadurch die Erklärungen des Herrn Dr. Stumme, der seiner Zeit der Rechtsvertreter des Herrn Hirschel war, in ihren grundsätzlichen Feststellungen keinesfalls betroffen.

Sollten jedoch die Feststellungen des Herrn Dr. Stumme für eine Abweisung des Antrages des Herrn Hirschel nicht ausreichen, bitte ich, die Akten des Prozesses heranzuziehen, der seinerzeit zu dem vor dem Landgericht abgeschlossenen Vergleich mit Herrn Hirschel führte.

Diese Akten werden die Erklärungen des Herrn Rechtsanwaltes Dr. Stumme in ihren Grundsätzen bestätigen und zweifellos den Wiedergutmachungsanspruch des Herrn Hirschel als völlig gegenstandslos erkennen lassen.

In diesem Zusammenhang verdient erwähnt zu werden, dass weder Herr Heisig noch auch ich selbst der NSDAP oder einer ihrer Organisationen bzw. Gliederungen angehörten. Auch wurde zu keiner Zeit und in keiner Stellung während der gesamten Dauer des Dritten Reiches ein Mitglied der NSDAP im Waterloo-Theater beschäftigt.

Dass letztlich, abgesehen von vielen anderen antifaschistischen Massnahmen, auf die im einzelnen vielleicht noch zurückzukommen sein dürfte, auch der Spielplan des Waterloo-Theaters während er 12 Jahre eine bewusst antinazistische und internationale Gestaltung erfuhr, wie sie kein zweites deutsches Filmtheater aufzuweisen hat, ist eine Tatsache, die in ganz Hamburg und weit über seine Grenzen hinaus bekannt ist.

Dass dieser in politischer und weltanschaulicher Hinsicht stets klar eingenommene Standpunkt nicht ungefährlich war, erhellt am besten aus der Tatsache, dass Herr Heisig am 2.11.1935 von der Gestapo verhaftet wurde und in das Konzentrationslager Fuhlsbüttel eingeliefert wurde.

Wegen seiner durch Rat und Tat erfolgten Unterstützung antifaschistischer und jüdischer Personen und Kreise stand Herr Heisig am 27.1.1937 vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht und zwar wegen “Vorbereitung zum Hochverrat“. Dass deshalb Herr Heisig und ich in der Folgezeit unseres Lebens nicht froh wurden und nachweislich unter Aufsicht der Gestapo standen, mag noch Erwähnung finden.

Dieser sowohl in politischer als auch in weltanschaulicher Hinsicht klaren Haltung verdankt es im übrigen Herr Hirschel, dass die Streitigkeiten mit ihm, die schon Jahre vor 1933 ihren Höhepunkt erreicht hatten und die bereits Ende 1931 zu einer erfolgreichen Räumungsklage führten, nicht etwa durch eine nazistische Einwirkung ihre Erledigung fanden, sondern durch einen ordentlichen Prozess vor dem Landgericht.

Der Versuch des Herrn Hirschel, den Juden Herrn Rechtsanwalt Dr. Bauer sowie einen so bewährten Antifaschisten wie Herrn Heisig und auch mich nazistischer Handlungen zu zeihen, spricht für sich selbst.

Ich will das Urteil über diese Handlungsweise getrost Ihnen überlassen in der Erwartung, dass eine gerechte Entscheidung nur eine Abweisung der unberechtigten Ansprüche des Herrn Hirschel sein kann.

Abschliessend teile ich Ihnen noch mit, dass keine weiteren Beteiligten an diesem Rückerstattungsverfahren in Frage kommen.

Hochachtungsvoll! Unterschrift K. Esslen

Dokument 3

In der Anlage zu diesem Brief an das Landgericht, 1. Wiedergutmachungskammer fügt Clara Esslen die Bescheinigung von Dr. Carl Stumme bei, die dieser zur Vorlage für die Britische Militärregierung gefertigt hatte, um eine drohende Beschlagnahme des Waterloo-Theaters zu verhindern. Heinrich Heisig, das wollte ich anmerken, hat dieses Schreiben von Clara Esslen nicht mit unterschrieben, aber später doch legitimiert.

Der Persilschein. Ausgestellt von Dr. Carl Stumme am 30. August 1945 für die Britische Militärregierung. [IMG_4931.jpg + IMG_4932.jpg, Seite 14 und 15 der Akte]

Carl Stumme, Rechtsanwalt beim Hanseatischen Oberlandesgericht, (24) Hamburg 36, Neuer Wall 44, 30. August 45.

Firma Waterloo-Theater Frau Esslen und Herrn Heisig. Hamburg 36, Dammtorstrasse.

Ich bestätige Ihnen hierdurch, dass das Waterloo-Theater keineswegs im Wege einer sogenannten Arisierung in den Besitz von Frau Esslen gekommen ist. [Falschinformation]

Vielmehr waren der inzwischen verstorbene Herr Esslen und Frau Esslen bereits im Jahre 1928 Kommanditisten der Norddeutschen Film-Theater Kommanditgesellschaft gewesen, der das Waterloo-Theater gehörte. Im Jahre 1928 hatte Frau Esslen RM. 500.000,– hineingegeben, womit der Umbau des Waterloo-Theaters finanziert worden ist. [Falschinformation]

Frau Esslen hat dann im Jahre 1931, nachdem ihr Ehemann verstorben war, als Grundeigentümer des Hauses Dammtorstrasse 14, in der sich das Waterloo-Theater befindet, eine Räumungsklage gegen die Norddeutsche Film-Theater Kommanditgesellschaft angestrengt, weil diese seit langem mit Miete in Rückstand gekommen war.

[50 % Falschinformation] ― Sie war durch ihre Erbschaft 50 % Teilhaberin dieser KG geworden. Sie hatte also Klage gegen eine Firma erhoben, die ihr zur Hälfte selbst gehörte, mit der durchsichtigen Absicht, diese komplett zu übernehmen, bzw. das Kino komplett zu übernehmen]

Die Film-Theater Kommanditgesellschaft stellte dann ihre Zahlungen ein. In der Folgezeit hat Frau Esslen eine neue Gesellschaft, die Waterloo-Theater G.m.b.H. gegründet, die am 4. Januar 1932 begann.

[Falschinformation]: Die GmbH war keineswegs eine Neugründung. Es handelte sich um einen wertlosen GmbH Mantel, mit dem ihr verstorbener Gatte Karl Friedrich Esslen einen Weinhandel in Mühlenbeck bei Berlin betrieben hatte. Das Stammkapital dieser GmbH RM 20.000,– war bereits 1925 eingezahlt worden und den 50 % Anteil dieser Firma verkaufte Clara Esslen mit Hilfe des Rechtsanwaltes Dr. Otto Herbert Bauer für RM 10.000,– an Manfred Hirschel. Dr. Otto Herbert Bauer wurde, neben Manfred Hirschel, zum zweiten Geschäftsführer dieser GmbH ernannt. Beide Geschäftsführer waren nun nur gemeinsam vertretungsberechtigt. Ohne Zustimmung von Dr. Otto Herbert Bauer war keine Entscheidung möglich]

An dieser Gesellschaft war Herr Hirschel formell mit einem Anteil beteiligt, sein Anteil mit Gewinnbeteiligung war aber an Frau Esslen verpfändet wegen der sehr grossen Schuldverpflichtungen des Herrn Hirschel gegenüber der Frau Esslen. Herr Hirschel wurde Mitgeschäftsführer neben Frau Esslen bis 1933.

[Falschinformation: Manfred Hirschel war nicht “formell“ sondern mit 50 % an dieser GmbH beteiligt. Nach Umbenennung und Verlagerung waren die ersten Geschäftsführer Dr. Otto Herbert Bauer und Manfred Hirschel. Nach dem Rücktritt von Otto Herbert Bauer ernannte sich Clara Hirschel zu Geschäftsführerin (Wohnsitz: Berlin Charlottenburg).]

Da sich gewisse Unzuträglichkeiten ergaben, gab Herr Hirschel die Kassenführung und die Erledigung aller finanzieller Angelegenheiten an den jüdischen Rechtsanwalt, Herrn Dr. Bauer, ab.

[Falschinformation. Der jüdische Rechtsanwalt war schon vor längerer Zeit zum Christentum konvertiert und wird hier in seinem “Judensein“ instrumentalisiert.]

Etwa im Mai 1934 schied dann Herr Hirschel auch formell als Geschäftsführer aus und an seine Stelle wurde Herr Rechtsanwalt Dr. Bauer Geschäftsführer. Ferner gab er seine Anteile an Frau Esslen ab auf Grund eines vor dem Landgericht abgeschlossenen Vergleichs, wobei Herrn Hirschel seine Anteile entsprechend bezahlt wurden.

[Falschinformation. Die Nazis hatten sich weder daran gestört, das Dr. Otto Herbert Bauer zum Christentum konvertiert war, noch daran, das er im ersten Weltkrieg als Freiwilliger Soldat an der Front gekämpft hatte. Sie haben ihn ins KZ Fuhlsbüttel gebracht und später in Mauthausen ermordet. Er konnte sich also 1945 nicht mehr gegen seine Instrumentalisierung durch Esslen und Heisig wehren. Und bezahlt wurde nichts.]

Meiner Erinnerung nach hat die Reichsfilmkammer nicht das Ausscheiden des Herrn Hirschel begehrt. Dass hier keine Arisierung vorlag, ergibt sich im übrigen schon daraus, dass, wie bemerkt, an die Stelle des Herrn Hirschel der jüdische Rechtsanwalt, Herr Dr. Bauer, Geschäftsführer wurde. Hochachtungsvoll Stumme [Falschinformation. Herr Dr. Otto Herbert Bauer war bei Umbenennung und Verlagerung der Firma von Mühlenbeck nach Hamburg behilflich und zum zweiten Geschäftsführer ernannt worden. Karl Friedrich Esslen starb am 16. Juli 1930. Zu seinem Nachfolger als Geschäftsführer wurde am 10. Februar 1931 der Rechtsanwalt Dr. Otto Herbert Bauer aus Hamburg im Handelsregister Berlin eingetragen. Dieses Amt übte Bauer bis zum 10. Januar 1932 aus. In seiner Amtszeit wurde die GmbH umbenannt und ihr Sitz von Berlin Mühlenbeck nach Hamburg verlegt. Seine Nachfolgerin wurde Clara Esslen, Berlin Charlottenburg.] [Seite 14 + 15 der Akte] [IMG_4931.jpg + IMG_4232.jpg] [Abschrift Anlage 1]

[Anmerkung 2023: An diesem »Persilschein« ist so gut wie alles falsch. Kein Wunder, das Dr. Carl Stumme, als er von dem Rechtsanwalt Dr. Hans Juul (Anwalt von Klara Esslen und Heinz Heisig) darüber informiert wurde, dass dieser Persilschein, der auf Begehren von Esslen und Heisig für die Britische Militärregierung erstellt wurde, im Wiedergutmachungsverfahren als Beweismittel verwendet wurde, alles versucht hat, um dieses Schreiben als nicht gegeben zurück zu bekommen. Aber in der Akte hat es die Jahre überdauert und zeigt uns auf, wie hier − mit allen Mitteln − versucht wurde, das Kino zu behalten. Und Esslen und Heisig sind damit durchgekommen.]

Dokument 4 Brief von Rechtsanwalt Kurt Leo Eisner aus Saõ Paulo Saõ Paulo 14. September 1950 bezüglich der Rückgabe des Waterloo Theaters. Dammtorstraße 14. [IMG_5010.jpg]

Rechtsanwalt Kurt Leo Eisner schreibt aus Saõ Paulo: Saõ Paulo 14. September 1950

An Herrn Rechtsanwalt Dr. Hans Dehn Hamburg 36

Sehr geehrter Herr Dr. Dehn!

Herr Hirschel hat mir Einsicht gegeben in seine Wiedergutmachungsakten betr. Waterloo Theater. Über dem diesem Verfahren zugrundeliegenden Vergleich kann ich an sich keine Angaben machen, da ich an diesem nicht mitgewirkt habe.

Dagegen glaube ich Ihnen einige wichtige Tatsachen mitteilen zu können, die sich auf die Einwendungen der Frau Esslen beziehen. Sie behauptet der Vergleich sei nicht abgeschlossen worden, weil Herr Hirschel auf Grund der Rassenverfolgungen aus der Leitung des Theaters ausscheiden musste, sondern aus ein anderen Gründen resp. weil er Geld gebrauchte seine Verpflichtungen zu erfüllen.

Dieser letzte Grund kann auf keinen Fall stichhaltig sein. Herr Hirschel hat nämlich im Jahre 1931 für sich oder und die Norddeutsche Filmtheater KG. ein Schiedsgerichtsverfahren gegen Frau Esslen gehabt. In diesem Verfahren, dessen Leitung Oberlandesgerichtsrat Dr. Prochnownick hatte, sass ich als Mitschiedsrichter.

Dieses Verfahren endete mit einem Vergleich zwischen den Parteien und gleichzeitig mit einem Akkord zwischen der Gruppe Norddeutsche Filmtheater und ihren Gläubigern.

Mit der Abwicklung dieses Akkordes war ich betraut. Sämtliche Verpflichtungen der Norddeutschen und etwaige persönliche des Herrn Hirschel wurden endgültig getilgt. Die Norddeutsche hörte auf zu bestehen und das Waterloo Theater wurde von der auf Grund des Vergleiches gegründeten GmbH. übernommen.

Von dieser Zeit an konnte also Herr Hirschel keinerlei neue Verpflichtungen kontrahieren, die alten waren liquidiert, der Lebensunterhalt des Herrn Hirschel war auf Grund der Verträge geregelt.

Auf Grund dieses Sachverhaltes halte ich die oben angegebenen Behauptungen für frei erfunden.

Durch die oben erwähnte Abwicklung der Gläubiger war zwar Herr Hirschel niemals mein Mandant geworden, jedoch bin ich in näheren Kontakt mit Herrn Hirschel gekommen. Wir haben gelegentlich über seine Geschäftsangelegenheiten gesprochen und er hat mich auch ab und zu um Rat gefragt.

So erinnere ich mich, dass mich Herr Hirschel 1933 anrief, und mir mitteilte, dass er in Schwierigkeiten sei; es liefe ein antisemitischer Film im Waterloo und Herr Dr. Bauer, Vertreter Frau Esslens teilte ihm mit, die Parteileitung liesse den Film nicht aufführen, wenn Herr Hirschel Geschäftsführer bliebe. Herr Dr. Bauer hatte ihm im Namen von Frau Esslen vorgeschlagen, formell die Leitung niederzulegen ohne dass seine rechtliche Stellung und seine Ansprüche geändert würden.

Ich erinnere mich, dass ich Herrn Hirschel zugeraten habe, mit dem Hinweis, dass ich Herrn Dr. Bauer als Mann von Wort kenne. Über die weitere Entwicklung dieser Angelegenheiten kann ich . . . (fehlt im Text) vermutlich: . . . keine Angaben machen. ( . . . ) (IMG_5010.jpg)

Dokument 5 Brief von Manfred Hirschel an seinen Anwalt Dr. Dehn [IMG_5011.jpg + IMG_5012.jpg + IMG_5013.jpg] [Abschrift. Seite 70 + 71+72 der Akte]

An Herrn Dr. Hans Dehn Hamburg 36.

Saõ Paulo, d. 8. Mai 1950 Sehr geehrter Herr Dr. Dehn

Zum gegnerischen Schriftsatz vom 22. April habe ich folgendes zu erwidern: “Ich habe niemals behauptet, dass Frau Esslen oder gar Herr Heisig Mitglieder der NSDAP waren. Die Gesinnung des Herrn Heisig als Antifazist war mir bekannt, aus welchem Grunde ich ihm s. Zt. meine Interessenvertretung anvertraute und ihn von mir aus zu meinem Nachfolger vorschlug. Die Gesinnung der Frau Esslen erkannte ich nur aus ihren Handlungen. Ihr Rechtsanwalt Dr. Otto H. Bauer war kein Jude, er war Christ, in der Petrikirche getauft worden und war der Verfasser verschiedener antisemitischer Schriftsätze in den Prozessen von 1934-35.

Wenn der eingereichte Spielplan des Waterloo beweisen soll, dass Frau Esslen antinazi oder etwa projüdisch eingestellt war, so ist dies ein grosser Irrtum. Der Spielplan umfasst die Zeit vom 30. Juni bis 25. Juli 1933.

1.) Abgeschlossen wurden diese Filme noch von mir und hatte Frau E. [sslen] wie auch ihr Vertreter überhaupt keinen Einfluss auf die Programmgestaltung.

2.) In den meisten Filmen, die ja bereits vor 1933 hergestellt wurden, waren jüdische Darsteller oder Regisseure tätig.

2.) gab es zu dieser Zeit noch keine nationalsozialistischen Filme, nur einen und der wurde im Waterloo Theater vom 16 – 22. Juni 1933 gespielt. Warum beginnt der Spielplan lt. Anlage erst am 30. Juni und nicht schon am 16. Juni? Man möge dies nachholen.

Soviel ich mich erinnere und ich habe eine sehr gute Erinnerung wurde an diesem Tage, dem 16. Juni auch die Hakenkreuzfahne gehisst, wohl als Zeichen, dass das Theater an diesem Tage reinarisch wurde. Dies Programm war der einzige und ausschliessliche Anlass, wie ich meinem Schriftsatz 15.8.49 dargestellt, der zu der Niederlegung meines Geschäftsführerpostens führte.

An dieser Wahrheit werden alle Versuche der Gegenseite, die Schuld mir selbst zuzuschreiben oder meiner finanziellen Verhältnisse aus früheren Jahren 1930/31 wegen, scheitern, denn wenn ich vor der Gründung der Waterloo. Theater G.m.b.H. verschuldet war, und dies war der Fall, so beweist dies nur die Schwäche meiner Position in welcher ich mich befand, als ich meinen Anteil zeitweilig verpfänden musste und diese Schwäche hat Frau E.[sslen] auch ausgenutzt. Dass Frau E.[sslen] aber auch wiederum diese Zeit 1930/31 in ihrer Beweisführung anführt und sich hierauf stützt um sich der Wiedergutmachung zu entziehen, ist ein starkes Stück.

Meine finanziellen Verhältnisse im Jahre 1932 und 1933 waren vollkommen geordnet durch Verträge und Abmachungen sodass der Versuch, die Schwierigkeiten aus den Jahren 1930/31 als Anlass oder Grund für die Niederlegung der Geschäftsführung anzunehmen, nicht der Wahrheit entspricht.

Die Gegner haben auch nicht den leisesten Versuch gemacht, den klaren Tatbestand, niedergelegt in meinem Schriftsatz vom 15.8.1949, zu widerlegen, so dass man diesen Tatbestand als den wahren Tatbestand ansehen kann.

Frau Esslen als Grundeigentümerin hatte mir Anfang 1934 das Betreten des Büros und des Theaters verboten, andernfalls ich mich des Hausfriedensbruches schuldig machen würde. Ferner hatte sie mir jegliche Zahlung von Gehalt oder Gewinn verweigert, wodurch sie mich zwang, die unerquicklichsten Prozesse zu führen, die zu den bekannten Vergleichen führten.

Wenn Frau E.[sslen] nur ein wenig prohumano eingestellt gewesen wäre, so hätte sie alles tun müssen, um das Los der Juden in ihrem Unglück zu erleichtern und nicht, wie sie es getan hat, versucht, Vorteile hieraus zu ziehen.

Dann würde sie auch heute wenigstens den Versuch machen das begangene Unrecht wiedergutzumachen und nicht einen Kampf gegen das Wiedergutmachungsgesetz zu führen, den sie bereits seit langem, siehe Schreiben Dr. Stumme aus dem Jahre 1945, vorbereitet hatte.

[Anmerkung 2023: Manfred Hirschel bezieht sich hier auf ein Schriftstück des Rechtsanwaltes Dr. Carl Stumme. Ein Art Persilschein, den dieser Klara Esslen und Heinz Heisig im August 1945 ausgestellt hatte. Die Britische Militärregierung hatte die Absicht, das Waterloo Kino 1945 zu beschlagnahmen und einen Treuhänder einzusetzen. Esslen und Heisig besuchten Dr. Stumme und erbaten diesen Persilschein, der von Dr. Stumme zur Abwehr dieser Beschlagnahme ausgestellt wurde. Als diese Bescheinigung dann von Dr. Juul, dem Anwalt von Clara Esslen, in dem Restitutionsprozeß Verwendung fand, erfuhr Dr. Carl Stumme davon und bestand darauf, das dieser Persilschein aus der Prozessakte entfernt werden sollte, was aber nicht geschah, wie man der Akte entnehmen kann]

M.E. [Mit Einschränkungen] ist es aber gleichgültig, wie Frau E. [sslen] eingestellt ist. Maßgeblich ist, dass ohne den Nationalsozialismus respe. einer solchen Regierung ich niemals aus dem Waterloo, welches ich gebaut hatte, ausgeschieden wäre und noch heute drin wäre und dies ist doch gerade der Sinn des Wiedergutmachungsgesetzes, dass diejenigen wieder eingesetzt werden sollen in ihren Rechte, deren sie durch oder infolge des Nationalsozialismus beraubt worden sind. Da Frau E. [sslen] kräftig Beihilfe geleistet hat, weil ich ihr unsympathisch war und da es ihr persönlicher Vorteil war, mich herauszubekommen, so sind ihre heutigen Erklärungen aufzufassen.

Auf die Ausführungen der Gegner zu Seite 7 No. 6, dass die bezahlten Beträge “angemessen“ seien, möchte ich folgende Rechnung aufstellen:

Im Jahre 1921 haben Sass, Streit und ich das Theater gekauft und eine verhältnismässig hohe Summe für das Theater bezahlt. Dann haben wir 1928 das Theater für 530.000, um-resp. neuerbaut. Es hatte also mindestens einen Wert von 600.000, . Da Sass und Streit wegen anderer grosser Bauverpflichtungen austreten wollten, suchte ich einen Sozius und fand ihn in Herrn Esslen, dem Eigentümer des Hauses. Derselbe bezahlte für den 50 % Anteil 300.000, . Nach dem Tode des Herrn Esslen trat Frau E.[sslen] und Kinder an seine Stelle. Von Anfang an glaubte sich Frau E.[sslen] übervorteilt und benutzte 1932 bei Abschluss des Vergleichs die Gelegenheit meiner finanziellen Schwierigkeiten übrigens verursacht durch den Bau des Waterloo für sich eine Summe, ich glaube, es waren 150.000,— vorweg zu nehmen und sich aus der Verpfändung bezahlt zu machen. Selbst wenn der Wert keine 600.000,– sondern nur 300.000,— gewesen wäre, so kann man aus dem Vergleich ersehen, dass ich in keiner Weise angemessen entschädigt wurde. . . . ( . . . ) Hierüber müssten evtl. Zeugen vernommen werden aus Theaterbesitzerkreisen und nicht etwa der Richter Herr Dr. Kreiss und Dr. Stumme. Dies wiederum hat nur Sinn und Zweck, wenn das Gericht anerkennt das Umstände aus dem Jahre 1931 mit dem Nationalsozialismus, der erst 1933 kam, nicht das mindeste zu tun haben und mich daher nicht haben veranlassen können eine gesicherte und lohnende Position aufzugeben.

Zu III Seite 8. Erstens bin ich nicht abberufen worden, habe auch niemals meinen Posten zur Verfügung gestellt, sondern habe unter Druck mein Amt als Geschäftsführer niedergelegt, siehe wiederum mein Schreiben vom 15.8.1949. Zweitens sind alle Anspielungen auf Unehrenhaftigkeit Verleumdungen, die an meiner Person jedoch abprallen.

Ich bin fast 14 Jahre in Brasilien, habe nur grosse Vertrauensstellungen eingenommen und wen es interessiert, kann Auskunft über mich vom Internationalen Auskunftsbüro R.G. Dun & Co. erhalten, auch über meine Firma, die einen internationalen guten Namen hat.

Was die Gegner über Reichsfilmkammer unter Berufung des Zeugen Adam schreiben, dass dieser keinen Druck oder Einflussnahme auf Frau E.[sslen] ausgeübt haben und das diese erst in Januar 1936 gegründet wurde, so darf ich wohl daran erinnern, dass die s. Zt. offizielle Politik der Regierung oder deren Instanzen nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten und dass seit dem Boykott April 1933 ein direkter und indirekter Druck von der Partei, die ja bereits existierte ausgeübt wurde, das alle Juden aus den Theatern Kinos und Presse verschwanden.

Ein weiterer Beweis dieses Drucks ist der Verkauf unseres Theaters am Nobistor. Dieses, eines der besten Volkstheater Hamburgs auf der Reeperbahn war 23 Jahre im Besitz meiner Mutter und waren mein Bruder und ich ebenfalls daran beteiligt, mussten wir bis zum 1. November 1933 verkauft haben, ohne es zu müssen oder waren meine persönlichen Umstände aus den Jahren 1930-31 auch daran Schuld?

Wir verkauften dies Theater an Frau Erna Vogt am 18. Oktober 1933 mit Genehmigung der nationalsoz. Verbandsorganisation, Reichsfilmkammer oder wie sei sich z. Zt. genannt hat. Übrigens ist in dem Frau Esslen vor Gericht abgeschlossenen Vergleich auch schon von der Reichsfilmkammer die Rede, die erst 1936 in Funktion trat? (Vergleich vom – Anmerkung handschriftlich am Rand vom 13. Mai 1935).

Ehemann der Frau Erna Vogt Herr Oscar Vogt wird sicherlich gerne bestätigen, dass wir das Theater gezwungenermassen im Oktober 1933 an ihn resp. seine Ehefrau abtraten. Gegen ihn haben wir keine Ansprüche im Wiedergutmachungsverfahren gestellt, da erstens das Theater nicht mehr existiert (Ausgebombt) zweitens das Ehepaar niemals versucht hatte, aus unserem Unglück Sondervorteile zu ziehen und sich stets einwandfrei und korrekt benommen haben, trotzdem der gezahlte Preis weit unter Wert war.

Wenn das Theater noch existieren würde, und wenn wir Ansprüche (in) gestellt hätten, so bin ich überzeugt, dass wir uns in kurzer Zeit aussergerichtlich verständigt hätten, genau so bin ich überzeugt, dass wenn ich meinen Anteil am Waterloo frei hätte verkaufen können an einen Herrn, ich heute nicht nötig hätte, lange Prozesse zu führen.

Das Gericht bitte ich feststellen zu wollen, dass meine Angaben, die nicht widerlegt wurden, als den Tatsachen entsprechend anzusehen sind und meine Ansprüche daher grundsätzlich zu bejahen sind. Ich habe schon in früheren Ausführungen dargelegt, dass es nicht glaubhaft wäre, Verträge von sich aus aufzugeben, die einem Existenz und lohnende Position geben, wenn man nicht dazu gezwungen wird, durch äußere Umstände. Diese äußeren Umstände war das Programm des Waterloo Theaters vom 16. bis 22. Juni 1933

gez. Manfred Hirschel

Dokument 6 Richard Adam schreibt ans Gericht Abschrift [IMG_5037.jpg, Seite 64 der Akte Hirschel gegen Esslen]

Brief an das Landgericht Hamburg Wiedergutmachungskammer Hamburg 37 Kampen / Sylt, d. 25.7. 1951 Aktenzeichen 1 Wik 2/50 In Sachen Hirschel L/,1 Esslen

Ihre Zeugenvorladung in obiger Angelegenheit vom 17. Juli mit dem Poststempel vom 23. Juli erreichte mich heute hier in Kampen a. Sylt, wohin ich seit einiger Zeit meinen Wohnsitz verlegt habe.

Ich bin gerne bereit, als Zeuge zu erscheinen, mache Sie jedoch darauf aufmerksam, dass mir dadurch Fahrtkosten 2. Klasse Eisenbahn DM 54.20 entstehen. Ich bitte Sie, mir diesen Betrag rechtzeitig vorher zuzusenden und zwar an die Adresse Richard Adam, Kampen a. Sylt.

Ich sehe Ihrer entsprechenden Nachricht entgegen.

Hochachtungsvoll Richard Adam

Dokument 7 Beschluß Richard Adam wird verlegt. [Seite 95 der Akte- IMG_5038.jpg] Beschluß in der Sache Hirschel gegen Esslen, Bevollmächtigter RA. Dr. Dehn, Hamburg, Antragsteller gegen Esslen, Bevollmächtigter RA. Dr. Hans Juul Hamburg, Antragsgegner hat das Landgericht 1. Wiedergutmachungskammer durch folgende Richter 1. Landgerichtsdirektor Dr. Joost, als Vorsitzender 2. Landgerichtsrat Dr. Warmbrunn, 3. Landgerichtsrat Engelschall am 31. Juli 1951 beschlossen:

Der Beweisbeschluß vom 17. Juli 1951 wird dahin abgeändert, daß der nach Kampen auf Sylt verzogene Zeuge Richard Adam durch Ersuchen des örtlich zuständigen Amtsgerichtes in Westerland zu vernehmen ist.

Drei unleserliche Unterschriften.

Vermutlich Joost, Warmbrunn, Engelschall.

Dokument 8 Abschrift. Richard Adam. Zeugenvernehmung in Westerland Das Amtsgericht. Westerland, den 15. August 1951. Seite 98 der Akte. [IMG_5042. jpg und IMG_5043.jpg] Gegenwärtig: Amtsgerichtsrat Dr. Petersen als Richter, Justizangestellte Unruh als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle.

In Sachen Hirschel gegen Esslen erschienen bei Aufruf 1.) f.d. Antragsteller ― niemand ― 2.) für die Antragsgegnerin ― RA. Dr. Juul aus Hamburg 3.) Nachbenannter Zeuge Adam. Nachdem der Zeuge auf die Bedeutung des Eides sowie die Strafbarkeit einer falschen uneidlichen Aussage hingewiesen worden war, wurde er, wie folgt, vernommen. z.P.: Richard Adam, 57 Jahre alt. Filmtheaterbesitzer. wohnhaft z.Zt. Kampen /Sylt.

z.S.: Ich bin vom 1932 bis 1934 xxxxxxx Landesfilmstellenleiter der NSDAP. in Hamburg gewesen. Vorher war ich privater Filmverleiher. Ich trat an die NSDAP. heran, um deren Filme verleihen zu können. Zunächst kaufte ich die Filme der NSDAP. und verlieh sie auf eigene Rechnung. Vom Jahre 1933 ab wollte die Partei den Verdienst jedoch selbst einziehen. Von dieser Zeit an konnte ich die Filme nicht mehr selbständig verleihen. Deshalb gab ich im Jahre 1934 die Tätigkeit auf. Zu der Zeit wurden die Landesfilmstellen aufgelöst. Es wurden Gaufilmstellen errichtet, die dem Gauleiter unterstanden. Von 1934 an bin dann Geschäftsführer des Reichsverbandes Deutscher Filmtheater, Abt. Norddeutschland, gewesen. Zu der Zeit handelte es sich noch um eine Organisation der Privatwirtschaft, die die Interessen der. Filmtheater zu vertreten hatte. Der Gauleiter mußte allerdings schon damals mit der Besetzung des Geschäftsführerpostens einverstanden sein. Die Partei hielt sich jedoch bis zu meinem Ausscheiden aus dieser Tätigkeit im Jahre 1936 jeder Eingriffe.

Ich hatte keine Befugnis dazu, in die Verhältnisse einzelner Filmtheater einzugreifen. Ich habe das auch nie getan. Insbesondere habe ich nie erklärt oder gar darauf gedrängt, daß der Antragsteller seine Beteiligung an der damaligen Waterloo Theater GmbH aufzugeben habe. Mir ist auch nicht bekannt, daß von irgendeiner Seite darauf gedrängt worden ist, daß der Antragsteller seinen Posten als Geschäftsführer der Gesellschaft aufzugeben habe. [IMG_5043.jpg] [Seite 99 der Akte] .

Auf Befragen des Vertreters der Antragsgegnerin: Im Jahre 1933 bestanden ausser der Landesfilmstelle der NSDAP. und des Reichsverbandes Deutscher Filmtheater keine weiteren Institute, die sich mit den Belangen der Filmwirtschaft befaßten. Ich halte es für ausgeschlossen, daß einer meiner damaligen Angestellten nach der Machtübernahme bei der Waterloo-GmbH angerufen und erklärt hat, daß der Antragsteller seinen Geschäftsführerposten niederzulegen habe. Dienststellenleiter hatte ich nicht. Ich halte es auch für ausgeschlossen, daß eine Parteidienststelle einen solchen Anruf gemacht hat. Wenn ein solcher Anruf von irgend einer Seite erfolgt wäre, so hätte Herr Heisig mich sicher darüber unterrichtet. Auf die personelle Besetzung hat die NSDAP. erst xx vom Jahre 1936 ab Einfluß genommen.

Auf die Programmgestaltung der Filmtheater ist kein Einfluß genommen worden. Sobald die Filme von der Zensur freigegeben worden waren, konnte jeder Theaterbesitzer die Filme aufführen, die er zeigen wollte. [Offenbar ist der Widerspruch, der in dieser Äusserung steckt, bis heute nicht weiter aufgefallen] Frau Esslen und Herr Heisig haben niemals bei mir darauf hinzuwirken versucht, daß etwas gegen den Antragssteller als Juden unternommen werden sollte. Es war mir damals bereits bekannt daß Herr Heisig anti-nationalsozialistisch eingestellt war und zwar sogar sehr stark.

In der ganzen Filmbranche war bekannt, daß der Antragsteller sehr stark verschuldet war. Ich bin der festen Überzeugung, daß er wegen dieser Verschuldung aus der Waterloo-G.m.b.H. auch ausgeschieden wäre, wenn die Machtübernahme durch die NSDAP. im Jahre 1933 nicht gekommen wäre. Nach Diktat genehmigt. Dr. Petersen geschl. Unruh

Dokument 9

Kein Zeugengeld

[IMG_50 46.jpg, Seite 1003 AR. 178/51] Beschluß Der Antrag des Kaufmanns Richard Adam aus Kampen/ Sylt, ihm als Zeugen eine Entschädigung von 7,– DM für die Benutzung eines eigenen Kraftwagens zu gewähren, wird abgelehnt.

Gründe:

Der Zeuge ist am 15. August 1951 in der Wiedergutmachungssache Hirschel gegen Esslen (LG. Hamburg Wik. 2/50) vernommen worden. Er hat für die Fahrt von seinem Wohnort Kampen nach Westerland und zurück seinen eigenen Wagen benutzt und beantragt, ihm hierfür eine Vergütung von 7,– DM festzusetzen. Wie ein Zeuge zu entschädigen ist, ist in der Gebührenordnung für Zeugen und Sachverständige geregelt. Als Reiseentschädigung wird sind nach § 8 der Geb. O. die nach billigen Ermessen in dem einzelnen Falle erforderliche Kosten zu gewähren.

Daraus folgt, daß regelmäßig das billigste Beförderungsmittel zu benutzen ist. Das wäre in diesem Falle die Kleinbahn oder der Omnibus gewesen. Richtig ist es, daß der Zeuge dann, um den Termin wahrnehmen zu können, über 5 Stunden von seinem Wohnort entfernt gewesen wäre.

Wenn der Zeuge eine Entschädigung für Zeitversäumnis verlangen würde (§ 6 Geb.O.) und dann die Gesamtentschädigung höher sein würde als der für die Benutzung eines eigenen Kraftwagens zu vergütende Betrag, so könnte er die Summe verlangen, die üblicherweise bei Inanspruchnahme eines Kraftwagens erstattet wird.

Da der Zeuge aber eine Entschädigung für Zeitversäumnis nicht beansprucht, kann er nur eine Entschädigung in Höhe der Omnibus- oder Bahnfahrkosten, die sonst entstanden wären, – das sind 1,– DM erstattet bekommen.

Westerland, d. 18. August 1951

Das Amtsgericht.

Dr. Petersen. [Amtsgerichtsrat] [Richter] Das Amtsgericht. Westerland, den 15. August 1951. [Seite 98 der Akte] [IMG_5042. jpg und IMG_5043.jpg] [Handschriftlich vermerkt: 2 x ab Protokollabschriften an den Anwälten 22. 8. 52] Warmbrunn 22.08.52 Gegenwärtig: Amtsgerichtsrat Dr. Petersen als Richter, Justizangestellte Unruh als Urkundsbeamter der Geschäft stelle.

Dokument 10 Zeuge Hans Struckmeyer 12. November 1951. Seite 111 der Akte [IMG 5074.jpg―IMG_5075.jpg] Öffentliche Sitzung. Zeugenvernehmung Hans Struckmeyer im Prozess Hirschel gegen Esslen. Anwesend: RA. Dr. Dehn RA H. Juul 14.15. Uhr Frau Esslen und Herr Heisig. Dr. Warmbrunn als Einzelrichter Manfred Hirschel ./. 1.) Waterloo Theater GmbH, 2.) Frau Klara Esslen und ihre minderjährigen Kinder, 3.) Heinrich Heisig Erschienen bei Aufruf für den Antragsteller RA. Dr. Dehn, für den Antragsgegner RA. Dr. H. Juul und Geschäftsführer Heisig sowie nachstehend benannter Zeuge.

Zeuge Struckmeyer:

Zur Person: Ich heiße Hans Struckmeyer, bin 62 Jahre alt, Kaufmann in der Filmtheaterbranche in Hamburg, ohne Beziehung zu den Beteiligten.

Zur Sache: In der Zeit vor dem Jahr 1933 war ich Vorsitzender des Verbandes Norddeutscher Filmtheater e. V., der die Belange der Inhaber von Lichtspieltheatern wahrnahm. Herr Hirschel war für seine Person nicht Mitglied, sondern sogenannter Außenseiter.

Ich war damals Mitinhaber eines Lichtspielhauses in der Mönckebergstrasse [Passage Kino, Mönckebergstrasse 17 ― 1930 ― 976 Sitzplätze] und befaßte mich außerdem mit der “Verleihung“ von Filmen. Ich erinnere mich genau, das in den Jahren etwa 1931/32 jedenfalls vor dem politischen Umschwung des Januar 1933 Herr Hirschel, den ich persönlich gut kannte, sich in erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten befand.

Da er seinen Zahlungsverpflichtungen gegenüber Filmverleihern nicht nachgekommen war, war eine Treuhandschaft eingerichtet worden, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die verfügbaren Einnahmebeträge aus der Treuhandschaft des Waterloo-Theaters pro rata unter den Gläubigern zu verteilen.

Die Grundlage der Tätigkeit war eine Vereinbarung, aufgrund deren der damalige Rechtsanwalt Dr. Eisner für die Belieferung des Waterloo-Theaters beteiligten Filmverleihern die Einnahmen in Empfang nehmen und anteilig der Forderungen verteilen sollte. So ist es auch eine Zeitlang geschehen. Aus welchem Anlaß und zu welcher Zeit Herr Hirschel seine Tätigkeit im Waterloo-Theater eingestellt hat, ist mir nicht bekannt.

Ich bin nur befaßt gewesen, wie die Schulden des Herrn Hirschel an Filmverleihern beglichen wurden, nicht aber darüber unterrichtet, wann und in welcher Weise seine sonstigen Verbindlichkeiten abgedeckt worden sind.

Allgemein kann ich nur zu der Lage “jüdischer Filmtheater“ in der ersten Zeit nach der sogenannten Machtübernahme folgendes erwähnen:

Meine Position im Verband Norddeutscher Filmtheater habe ich bis zum Sommer 1934 beibehalten. Mein Nachfolger war ein Herr Roman,

[richtig: Paul Romahn, der Buchhalter (“der Syndikus“) vom Henschel Film- und Theaterkonzern]

nach der Umorganisation im Rahmen der Schaffung einer Reichsfilmkammer wurde es Herr Adam [Richard Adam]. Auf die Abgabe von Theatern durch jüdische Inhaber oder auf Entlassung jüdischer Angestellter wurde in der ersten Zeit nach dem politischen Umschwunge nicht hingewirkt.

Wenn mir mitgeteilt wird, daß Herr Hirschel behauptet, Mitte Juni 1933 durch politischen oder rassistischen Druck aus seiner Position verdrängt worden zu sein, so halte ich die Richtigkeit des Vortragens für unwahrscheinlich.

Vielmehr ist anzunehmen, daß andere Gründe damals für sein Ausscheiden maßgebend gewesen sind. Ich weiß auch nichts davon, daß damals außer den Wirtschaftsverbänden andere Stellen Einfluß auf die personelle Besetzung der Filmtheater nahmen. Die Schauburg-Theater an denen Juden beteiligt waren, [Man beachte die Wortwahl!] haben noch lange Zeit, sicher bis in das Jahr 1934 hinein, unter Beibehaltung ihrer Leitung und ihres Personals gespielt.

Später sind Änderungen durch Verpachtung oder durch ähnliche Weise herbeigeführt worden. Ich selbst bin in der Lage gewesen, einen jüdischen Angestellten, wenn auch schließlich unter Tarnung, bis in den Krieg hinein (1943) zu beschäftigen, der zurückgekehrt ist und jetzt wieder in meinen Diensten steht. [!]

Herr Adam [Richard Adam] betätigte sich in der Zeit vor dem Jahre 1933 im Vertrieb nationalsozialistischer Propagandafilme, erzielte aber dabei, so weit mir bekannt, keine besonderen Erfolge. Später hat er sich meiner Kenntnis nach an der Arisierung eines Theaters in Kiel [Adam, Romahn und Schümann] beteiligt.

Adam [Richard Adam] war zunächst nur irgendwie in der Propaganda der NSDAP tätig und kam in das Verbandsleben erst zu einem späteren Zeitpunkt hinein. Es wäre zu meiner Kenntnis gelangt, wenn aufgrund irgendwelcher höherer Weisungen Herr Hirschel zur Aufgabe seiner Tätigkeit gezwungen worden wäre. Ich habe hiervon aber nichts erfahren. Vorgelesen und genehmigt.

Hierauf trat die besetzte Kammer, Landgerichtsrat Dr. Warmbrunn als Vorsitzender, Amtsgerichtsrat Ehrhard, Landgerichtsrat Engelschall zusammen. Die Anwälte wiederholten ihre früheren Anträge und verhandelten zur Sache. Beschlossen und verkündet: Eine Entscheidung soll den Parteien zugestellt werden. Warmbrunn Keßler

Dokument 11 Sie sind damit durchgekommen 16. Juni 1952 Seite 170 der Akte [IMG _5132.jpg] An das Landgericht Hamburg 1. Wiedergutmachungskammer

In Sachen Manfred Hirschel gegen Waterloo-Theater GmbH. (RAe. Dres. Dehn, Wiegers pp.) ./. (RA Dr. Hans Juul) schliessen die Parteien ohne Präjudiz für ihren gegenseitigen Rechtsstandpunkt und zur Erledigung aller gleich wie gearteten Ansprüche, die den Antragsteller aus seiner früheren Tätigkeit als Geschäftsführer bei der Waterloo-Theater GmbH Hamburg bezw. heute noch zustehen sowie als Ersatz für die ihm zustehenden Nutzungen den nachstehend formulierten Vergleich.

1) Die Waterloo-Theater GmbH zahlt dem Antragsteller eine einmalige Abfindung in Höhe von DM 50.000,–.

2) Die Zahlung erfolgt dergestalt, dass am Montag, d. 16 Juni 1952, DM 10.000,– in bar gezahlt werden. Der Antragsteller zeigt den Empfang dieser ersten Rate zu gerichtlichem Protokoll an.

3) Die übrigen werden die restlichen DM 40.000,– in 8 Monatsraten á DM 5.000,– bezahlt, jeweils am 15. eines jeden Monats, beginnend am 15. Juli 1952.

4) Die Restschuld wird gesichert durch Depotwechsel, welche dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers in Depot gegeben werden, der jeweils Zug uKurt Leo Eisnerm Zug gegen Leistung einer Fälligkeitsrate einen dieser Depotwechsel an die Waterloo-Theater GmbH. zurückgibt.

5) Die Waterloo-Theater übernimmt die Kosten des Rechtsstreits. Für Herrn Manfred Hirschel Der Rechtsanwalt Dehn Für die Waterloo-Theater GmbH. Der Rechtsanwalt Juul.

Übrigens hat sich die loyale Haltung von Heinz Bernhard Heisig gegenüber der Grundbesitzerin Clara E. nicht ausgezahlt. Das hat Heisig spätestens gemerkt, als sie das Kino an MGM verkauft hatte und er diese Neuigkeit aus der Zeitung erfahren hatte.

Foto von Dr. Otto Herbert Bauer aus dem Buch von Dr. Heiko Morisse, Jüdische Rechtsanwälte in Hamburg, Ausgrenzung und Verfolgung im NS-Staat, S. 117

Hallo J., Deinen Brief habe ich noch nicht gelesen, jedenfalls nur bis zu Deiner Becherpendelfrage. Und weil ich gerade an was ganz Langweiligem sitze, von dem ich mich mit Begeisterung ablenken lasse, habe ich doch prompt angefangen, ueber Deine Becher nachzudenken. Hier ist die Frucht meiner Ueberlegungen: Bei Deinen aufgehaengten Bechern handelt es sich um Pendel im Sinne der Physik. Ein Pendel ist – ich zitiere – „ein starrer Koerper beliebiger Form und Massenverteilung (trifft auf Deine Becher zu), der um eine horizontale Achse (den Haken), die nicht durch seinen Schwerpunkt geht (eindeutig nicht, der liegt tiefer), unter dem Einfluss der Schwerkraft Schwingungen um seine Ruhelage ausfuehrt“. Ich zitiere weiter: „Bringt man ein solches Pendel aus seiner vertikalen Ruhelage (was ja beim Aufhaengen offensichtlich gegeben ist), schwingt es unter dem Einfluss der Schwerkraft zurueck und wird zwischen den beiden Umkehrpunkten um die tiefstmoegliche Position weiterschwingen.“ Dass diese Pendelbewegungen kleiner werden und Deine Becher schließlich zur Ruhe kommen, liegt (behaupte ich jetzt mal) an der Reibung. Dass es so lange dauert, liegt wiederum daran (behaupte ich jetzt ebenfalls mal), dass der Reibungsverlust nicht besonders gross ist: Porzellan auf Metall, zwei glatte Oberflaechen. Insofern hat die Schwerkraft schon was damit zu tun. Die zieht sozusagen von unten am Schwerpunkt deines Bechers (spaetestens hier wuerde mein alter Physiklehrer in Traenen ausbrechen :-), der aber, einmal aus seiner Ruhelage gebracht, in beide Richtungen ueber das Ziel (den Schwerpunkt) hinausschiesst, bis die gesamte Bewegungsenergie wieder in potenzielle Energie umgewandelt ist und der Becher endlich Ruhe gibt. Klingt doch plausibel, oder? Ich bin zufrieden mit mir. Wiebeke

Hallo Wiebeke,

j

a das hast Du gut erklärt. Was ich noch vergessen hatte: Ich hatte und habe den Verdacht, das Clara Esslen vielleicht die Tochter des Schuhmachermeisters Ferdinand Koglin war, der 1909 in der Berliner Kantstraße Nr. 2 seinen Laden hatte. Eigentlich kam der Verdacht deshalb auf, weil Karl Friedrich Esslen als Vertreter der Schwedischen Firma Collan Olja bestimmt bei vielen Schustern und Schuhmachermeistern vorstellig geworden ist, um ihnen sein Lederöl anzubieten und später auch mit der Schuhcreme mit Namen Collonil. Und dieser Schuhmachermeister Koglin ist der einzige Schumachermeister in dem Scherl Adressbuch von Berlin von 1909 mit Namen Koglin. Und ausserdem war er auch noch der Hausbesitzer des Hauses in Charlottenburg in der Kantstraße 2. Wie findest Du das? J.

Apropos Carl Stumme und der Persilschein: noch ein Zitat aus einem Brief vom 11. Juni 1952 [IMG_5125.jpg + IMG_5126.jpg], Originalton Dr. Carl Stumme: „Ende August 1945 erschienen bei mir Frau Esslen und Herr Heisig. Sie fragten mich, ob ich bestätigen könne, dass Frau Esslen die im Vergleich 1935 übernommenen Verpflichtungen loyal erfüllt hätte. Das habe ich nach meiner besten Erinnerung bejaht. Sie teilten mir dann mit, dass die Militärregierung, wenn ich recht erinnere, die Film-Section, beabsichtige Frau Esslen das Waterloo-Theater zu nehmen und einen Treuhänder hineinzusetzen. Das würde verhindert werden können, wenn ich eine Bescheinigung ausstellen würde.

Dazu habe ich mich bereit erklärt, weil ich der Ansicht war, dass zu einem Eingreifen der Militärregierung nach Sachlage keine Veranlassung bestände. Das Rückerstattungsgesetz war noch nicht ergangen. Man stand damals unter dem Eindruck, dass eine Rückerstattung nur infrage käme, wenn Werte unter Anwendung eines gewissen Druckes Juden entzogen worden seien. Ich bemerke ausdrücklich, dass ich die Bescheinigung nur zu dem Zweck erteilt hatte, sie der Film-Section vorzulegen.

Als ich dann einige Jahre später, wenn ich recht erinnere, durch Herrn Dr. Dehn, erfuhr, dass der Prozessbevollmächtigte von Frau Esslen und Herrn Heisig, Herr Rechtsanwalt Dr. Juul, meine damals erteilte Bescheinigung als Beweisdokument im Rückerstattungsverfahren vorgelegt hatte, habe ich Herrn Dr. Juul das vorgehalten und ihm gesagt, dass ich unter keinen Umständen damit einverstanden sein könne, dass diese nur zu einem bestimmten Zweck erteilte Bescheinigung im Wiedergutmachungsverfahren gegen Herrn Hirschel verwendet werde. Herr Dr. Juul sah das ein. Ich habe dann gemeinsam mit Herrn Dr. Juul und im Einverständnis mit dem Vertreter des Herrn Hirschel, Herrn Dr. Dehn, Herrn Landgerichtsdirektor Dr. Jost aufgesucht und dieser hat mir dann auf meine Bitte die Originalbescheinigung vom 30. August 1945 mir aus der Akte zurück gegeben, damit sie nicht im Prozess verwandt wurde. Ich spreche deshalb nochmals auch bei dieser Gelegenheit die Bitte aus: diese Bescheinigung als nicht erteilt zu betrachten. Hallo Wiebeke, ja die Tasse ganz rechts ist aus dem ehemaligen Hamburger Hafenkrankenhaus entwendet worden, J. Hallo Wiebeke, ja und immer wenn man an der Deutschen Geschichte ein wenig krazt, kommt wieder etwas hervor. Den Namen Prochnownick fand ich doch sehr ungewöhnlich. Und mein Verdacht hat mich nicht getäuscht. Ich finde ihn in dem Buch: Hamburger Jüdische Opfer des Nationalsozialismus auf 334, dort steht: Prochnownick, Wilhelm, 19.09. 1878 Hamburg,1943 KZ Fuhlsbüttel, 27.03. 43 Hamburg, KZ Fuhlsbüttel. Es gibt auch einen Stolpersteintext, geschrieben von Dr. Heiko Morisse aus Hamburg.

PDFZwei oder drei Dinge über WProchnownick

Apropos Karl Friedrich Esslen

Werbung ca.1921

PDF Apropos Karl Friedrich Esslen (II) (Zeichen 5.100)

Sein Vater, Josef Esslen, Drucker aus Trier, war nach Luxemburg eingewandert. Er hat sich im Grenzort zu Preussen, Grevenmacher, niedergelassen und dort eine Zeitung, die »Obermosel Zeitung«, gegründet.

Sein Sohn, um den es hier eigentlich geht, wurde ein echter »Luxemburger«. Damit hat er Schwein gehabt, denn er mußte nicht, wie seine späteren Firmenteilhaber, in Deutschland Kriegsdienst leisten.

Wikipedia teilt mit, das Sohn »Karl Friedrich Esslen« einige Semester in Paris Medizin studiert hatte und dann später als Zeitungsredakteur bei der Zeitung seines Vaters der »Obermosel Zeitung« in Grevenmacher gearbeitet hatte.

Die Nullnummer der »Obermosel Zeitung« war am Samstag, d. 2. Juli 1881 erschienen. 1908 war Karl Friedrich Esslen Redakteur dieser Zeitung. Daher stammt die Vermutung, das Karl Friedrich so um 1880 geboren ist.

1910 ist Karl Friedrich Esslen Generalvertreter des Schwedischen Lederölherstellers »Olsen«. und wohnt in Berlin-Kreuzberg in der Köpenicker Straße Nr. 9. Zusammen mit den Brüdern Paul und Walter Salzenbrodt, gründet er zwei Firmen: Eine für Schuhcreme und eine zweite, die sich mit dem Verkauf von Wein und Spirituosen aus Trier beschäftigen soll.

Wo Karl Friedrich Esslen seine spätere Ehefrau, Clara Koglin, kennengelernt hat ist nicht überliefert. Geheiratet haben sie in Berlin.

Im Hinterhof der Köpenickerstraße Nr. 9 beginnt »Esslen & Co. GmbH« 1910 mit der Herstellung von Schuhcreme. Sie setzen dem schwedischen Lederöl, laut Wikipedia, ein »südamerikanisches Baumharz« hinzu. Offensichtlich erfolgreich: 1912 wird ein größeres Gebäude in der Schlesischen Strasse 12 angemietet.

1914 ruft der Kaiser Paul und Walter Salzenbrodt zur Verteidigung des Vaterlandes auf. Karl Friedrich Esslen hat das Glück, das sein Vaterland, Luxemburg, nicht kriegsbeteiligt ist. Schuhcreme wird gebraucht und so wird das »Collonil Pflegemittel« im Krieg ein Verkaufsschlager: „Der erhöhte Bedarf an wasserabweisender Pflegemittel für Soldatenstiefel tat den Umsätzen gut“, zitiert Wikipedia aus einer »Collonil« Firmenschrift.

Schon 1921 ist die Schuhcremefabrik so groß geworden, das der Platz in Berlin-Kreuzberg nicht mehr ausreicht. Ein neuer Standort wird nördlich von Berlin in Mühlenbeck gefunden. Die Schuhcremefirma »Collonil«, ist seit 1914 ein eingetragenes Warenzeichen. Auch der Handel mit Wein und Schnapps zieht nach Mühlenbeck um.

Inzwischen ist der Vater von Karl Friedrich Esslen, Josef Esslen, laut Adressbuch „Privatier“ aus Luxemburg in seine Heimatstadt Trier zurückgekehrt. Er wohnt 1922 in der Nikolausstraße 39. Auch sein Sohn Karl Friedrich Esslen hat 1922 in der Ostallee 79 eine Wohnung in Trier.

Von 1923 – 1930 habe ich im Netz keine Adressbücher von Trier gefunden. Vermutlich, weil dieses Gebiet von ausländischen Truppen besetzt war, denen man keine Adressbücher zur Verfügung stellen wollte, um dem »Erzfeind« keine Hinweise zu geben, wer wo wohnt.

Karl Friedrich Esslen starb »plötzlich« am 16. Juli 1930. Paul Salzenbrodt starb 1935. Die Schuhcremefabrik »Collonil« wird von Walter Salzenbrodt fortgesetzt.

1948 lag Mühlenbeck in der SBZ, der Sowjetischen Besatzungszone. Walter Salzenbrodt verläßt Mühlenbeck und versucht in Berlin (West) (damalige westberliner Schreibweise), in Borsigwalde, einen Neuanfang. Das ist ihm offensichtlich gelungen.

Ob die beiden Zinshäuser von Clara Esslen in Berlin, Kaiserplatz 11 + 12 (heute Bundesplatz 11 + 12) 1945 noch vorhanden waren, ist nicht überliefert. Auf jeden Fall sehen sie heute so aus, als hätten sie den Krieg heil überstanden.

Und hier noch ein Suchmaschinen Fundstück: Autor ist: R. Hilgert. Er schreibt über den Herausgeber der Obermosel Zeitung Josef Eßlen: Das goldene Zeitalter 1866-1888. Nachdem er öfters die beiden hauptstädtischen Parteiblätter »Luxemburger Wort« und »Luxemburger Zeitung« gelesen habe, sei ihm klar geworden, dass ein Markt für eine weitere Zeitung bestehe. So erinnerte sich 50 Jahre später der, wie einst Schroell, aus Trier eingewanderte Drucker Josef Eßlen an die Gründung der »Obermosel Zeitung«. Als Ausländer habe er es nicht gewagt, sich in Luxemburg-Stadt niederzulassen, deshalb habe er sich in einer Grenzortschaft zu Preußen niedergelassen. Zuerst habe er Remich erwogen und dann, nach Absprache mit dem dortigen Bürgermeister und Dechanten, Grevenmacher ausgewählt, das geschäftlich beinahe ein Vorort von Trier gewesen sei. Nach einer Nullnummer erschien am Samstag, dem 2. Juli 1881, die erste Nummer der Obermosel-Zeitung, Druck und Verlag von J. Eßlen, Grevenmacher.

Eßlen, der unbeteiligt an den politischen Auseinandersetzungen in Luxemburg war, versuchte, ein unpolitisches, populäres Massenblatt zu schaffen. Deshalb setzte er auf Lokalnachrichten und füllte seine Zeitung mit jedem Dorfklatsch, der ihm zu Ohren kam. Das war ein Erfolgsrezept, das sich zu der Zeit auch in den Nachbarländern bezahlt machte und von manchen gebildeten Lesern naserümpfend als neumodische Dekadenz der Presse angesehen wurde.

Da es Eßlen als Ausländer an persönlichen Kontakten fehlte, baute er systematisch ein Netz von mit Zeilenhonorar bezahlten Lokalkorrespondenten auf, die ihn so schnell wie möglich mit den wichtigsten und unwichtigsten Nachrichten aus möglichst allen Landesteilen und den Grenzdörfern versorgen sollten.

Die Konkurrenzblätter warfen der Obermosel-Zeitung vor, mit „Zeilenschindern“ zu operieren. Beim Start habe die neue Zeitung bereits 200 Abonnenten gehabt, erzählte Eßlen, die bereit waren, 1,30 Franken zu zahlen.

Bereits 1884 warb die Obermosel-Zeitung als „meistverbreitete Zeitung im Großherzogtum Luxemburg“ für sich. Nach wenigen Jahren sei die Auflage auf 10 000 gestiegen, so Eßlen, die Obermosel-Zeitung war kurz vor der Jahrhundertwende die am meisten verbreitete Zeitung des Landes. Als sie wieder von der Konkurrenz überrundet wurde, warb sie weiter doppeldeutig damit, die größte Zeitung des Landes“ zu sein, da sie mit vorübergehend 64,5 x 49 cm eine der größtformatigen Zeitungen der Luxemburger Geschichte war.“

PDF Fünf Fundstücke

Fünf Fundstücke Fundstück ― Nummer: 1

Abschrift aus dem Reichsanzeiger. Handelsregister Hamburg. Veröffentlicht am 23. 09. 1922 Eintrag vom 16. September 1922. „Norddeutsche Film=Theater=Komm. Ges. Hirschel & Co. Persönlich haftende Gesellschafter sind Manfred Hirschel und Hermann Urich, Kaufleute, zu Hamburg. Kommanditgeselllschaft hat am 1. August 1922 begonnen. Die persönlich haftenden Gesellschafter sind gemeinschaftlich vertretungsberechtigt.

Fundstück ― Nummer: 2 Abschrift eines Handelsregisterauszuges. Handelsregisterauszug Berlin Berlin, Dienstag d. 21. Juli 1925 Nr. 36536 Handelsregister B „Karl Esslen, Weinkellereien, Trier, Verkaufszentrale Mühlenbeck bei Berlin, Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Mühlenbeck bei Berlin. Gegenstand des Unternehmens ist der Handel mit Weinen und Spirituosen aller Art. Stammkapital 20.000 Reichsmark. Geschäftsführer: Kaufmann Karl Esslen in Wecker, Luxemburg, Kaufmann Walter Salzenbrodt und Kaufmann Paul Salzenbrodt, beide in Mühlenbeck bei Berlin. Die Gesellschaft ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Der Gesellschaftsvertrag ist am 22. Juni 1925 abgeschlossen. Sind mehrere Geschäftsführer bestellt, so erfolgt die Vertretung durch einen Geschäftsführer allein.“ Anmerkungen: (Umwandlung am 10. Februar 1932) (Am 18. Februar 1932 verlegt nach Hamburg)

Fundstück ― Nummer: 3 Handelsregister Hamburg 1. Februar 1930. Veröffentlicht am 8. Februar 1930 im Reichsanzeiger (Seite 4) „Norddeutsche Film=Theater=Komm. Ges. Hirschel & Co. sind zwei Kommanditisten eingetreten, Prokura ist erteilt an Karl Esslen; er ist in Gemeinschaft mit einem persönlich haftenden Gesellschafter zeichnungsberechtigt.“

Fundstück ― Nummer: 4 Handelsregister Berlin. Eintrag vom 10. Februar 1932. Deutscher Reichsanzeiger. „Bei Nr. 36 536. Karl Esslen, Weinkellerei, Trier, Verkaufszentrale Mühlenbeck bei Berlin Gesellschaft mit beschränkter Haftung: Der Geschäftsführer Karl Eßlen ist durch Tod ausgeschieden. Durch Beschluß vom 1. Dezember ist zum alleinigen Geschäftsführer an seiner Stelle Rechtsanwalt Dr. jur Otto Herbert Bauer, Hamburg, bestellt, der jedoch am 19. Dezember 1931 bzw. 9. Januar 1932 sein Amt niedergelegt hat.

Bild von Dr. jur. Otto Herbert Bauer aus dem Buch von Heiko Morisse, Jüdische Rechtsanwälte in Hamburg, Ausgrenzung und Verfolgung im NS-Staat, S. 117

Laut Beschluß vom 19. Dezember 1931 bzw. 9. Januar 1932 ist der Gesellschaftsvertrag bezgl. des Sitzes der Gesellschaft, der Vertretung und sonst abgeändert und völlig neu gefaßt. Der Sitz der Firma ist von Berlin Mühlenbeck nach Hamburg verlegt. Die Gesellschaft wird nur durch zwei Geschäftsführer gemeinsam vertreten. Zu neuen Geschäftsführern sind Kaufmann Manfred Hirschel, Hamburg, Rechtsanwalt Dr. jur. Otto Herbert Bauer, Hamburg bestellt.“

Fundstück ― Nummer: 5 Handelsregister Hamburg Abschrift eines Handelsregisterauszug vom 11. Oktober 1933 Eintrag vom 10. Oktober 1933 „Waterloo=Theater Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Dr. O. H. Bauer ist nicht mehr Geschäftsführer. Witwe Klara Esslen, geb. Koglin, zu Berlin Charlottenburg ist zur weiteren Geschäftsführerin bestellt worden.“

Foto von Willy Pragher Berlin 9. Juni 1965
Land in Sicht. Heimathafen Hamburg. Foto von Helmut Schönberger. 1975

Briefe an Wiebeke (XXXIV) Abteilung: Letzte Fragen Ilse K.

Briefe an Wiebeke Abteilung: Letzte Fragen

Hallo Wiebeke ,

PDF Briefe an Wiebeke: Letzte Fragen zu Ilse K.

Romische Zahlen am BUG

mal wieder ein Spezialfall. So aehnlich wie bei der Aufnahmepruefung bei der dffb. Das letzte Wort, das der Millionaer Kane in dem Film von Orson Welles an seinem Todestag gesagt hat, war: xxxxxxxxxxx. Ich weiß es, weil ich die Aufnahmepruefung bestanden hatte und weil am Ende ein Schlitten auf dem dieses Wort steht in den Ofen geworfen und mit dem Lenkschlitten verbrannt wird.

Nun geht’s um unsere Millionaerin, die aus Berlin stammt. Da hat jemand im Auftrag der Stiftung Ilse Kubaschewski eine Biografie geschrieben, die nicht so schlecht geraten ist. Leider hat Michael Kamp, der das Buch im Auftrag geschrieben hat, nicht herausfinden koennen, in welchem Berliner Kino Ilse Kramp (Maedchenname) sozialisiert wurde. Die Legende sagt Folgendes:

Ilse Kramp ist am 18. August 1907 in Berlin geboren. Da war der Erste Weltkrieg, wie er später genannt wurde, gerade 18 Tage alt. Ilse wird meist in Berlin Rudow verortet, was aber nachweislich nicht stimmt. Geboren ist sie Luebars, wo ihre Eltern wohnten, das aber erst 13 Jahre spaeter in Reinickendorf eingemeindet wurde. Mit anderen Worten: Sie ist gar keine Berlinerin. Ihre Mutter war Klavierlehrerin, ihr Vater Postbeamter. Briefträger wie mein Opa? Wir wissen es nicht.

1910 und 1911 wurden noch zwei Geschwister 1) Gerda und 2) Erich in Lübars geboren. Als am 1. August 1914 der Kaiser zum Krieg ruft und die Spezialdemokraten seinem Darlehensanliegen zustimmen, wird ihr Vater Hermann eingezogen, verliert dadurch sein Einkommen als Postbeamter und wird besoldet, was, weil er einen so niedrigen Dienstgrad hat, dazu fuehrt, das die Familie in Berlin hungert, während sich die Offiziersfrauen die Bäuche vollgeschlagen haben. Das ist aber nur eine Vermutung. Das mit den vollgeschlagenen Bäuchen.

Was aber wiederum dazu fuehrt, das Mutter Kramp und die drei Kinder, also auch Ilse, arbeiten müssen: Knoepfe auf Stange annaehen, fuer fuenf Pfennnig fuer drei Stueck. Zur Schule geht es mit der Straßenbahn, aber das Geld reicht nur fuer den Hinweg, der Rueckweg wird gelaufen. So viel zum Elend eines Postbeamten und einer Klavierlehrerin und ihren drei Kindern im ersten Weltkrieg.

Im zweiten Weltkrieg war’s auf jeden Fall besser, weil, wie der Fischer Verlag in einer Anzeige für das Buch von Götz Aly: „Hitlers Volksstaat“ geschrieben hatte: „Den Deutschen ging es im Zweiten Weltkrieg besser als je zuvor, sie sahen im nationalen Sozialismus die Lebensform der Zukunft ― begründet auf Raub, Rassenkrieg und Mord.“ Aber so weit sind wir ja noch nicht.

Und jetzt kommt die Aufgabe: Die Mutter Maria arbeitet in einem Stummfilmkino in Berlin und spielt dort Klavier. Die kleine Ilse, 1914 gerade sieben Jahre alt geworden, hilft dabei, in dem sie die Seiten der Noten umschlaegt. Das geht eine Weile gut und dann fliegen sie irgend wann raus, weil die kleine Ilse mehr auf die Leinwand, als auf die Noten guckt. Rausgeschmissen werden sie vom Besitzer des Kinos: Ein Mann. Leider hat auch der Biograf Michael Kamp nicht herausgefunden, in welchem Kino in Berlin der Rausschmiss stattgefunden hatte und wie der Mann hieß, der diese Untat beging.

Der Biograf schreibt nur: Es ist ein Kino in der Koepenickerstraße gewesen und hat einem Mann gehoert, womit ein anderes Kino aus der Koepenickerstraße schon mal wegfaellt, das einer Frau gehoerte: Gertrud Fechner vom Kino Lichtspiele Südost aus der Koepenickerstraße 96-97. Bleiben drei. Nicht beruecksichtigt hat Michael Kamp dabei, daß es die Koepenickerstraße in Berlin mehrfach gibt (5 x).

Aber seine Annahme ist glaubwuerdig, in dem die ausgesuchte Koepenicker Straße in Kreuzberg, dem Wohnort der Familie Kramp, Berlin N 65, Transvaalstraße 18 ―IV Treppen, am naechsten liegt.

Nach meinen Nachforschungen im Scherl Adressbuch bin ich nun zu der Ansicht gelangt, das Ilse und Maria Kramp 1914 – 1918 im Kino von Karl Stiller, SO 36, in der Coepenicker Straße 36 -38 gearbeitet haben. Das Kino hieß in dieser Zeit, 1914 – 1918: Pariser Lichtbildtheater. Die Informationen stammen aus dem Branchenbuch der Firma Scherl von 1914 bis 1918.

Nur zur Ueberpruefung: Die Daten dazu stehen auf Seite 191 (1914) und auf Seite 201 (1918) des Scherl Adressbuches von Berlin. (Branchenverzeichnis)

Die Adresse der Familie Kramp: Kramp, Hermann, Ob. Postschaffner, N 65, Transvaalstraße 18, IV Treppen, befindet sich im Namensverzeichnis des Scherl Adressbuches von Berlin von 1919 auf Seite 1435.

Nun kommt die Frage: Koennen wir das Raetsel loesen: In welchem Kino ist die spaetere Millionaerin Ilse Kubaschewski sozialisiert worden?

Und nun kommst Du, vielleicht kennst Du ja Jemanden, der das herausfinden kann, ob das wirklich stimmt? Natuerlich kommt fast nur eine Suche im Netz in Frage, weil, wieder mal, alle Beteiligten, die man fragen koennte, schon seit Jahren tot sind,

PS: Was mir noch einfaellt. Der Biograf Michael Kamp notiert noch, das Ilse, als sie schon ueber eine Menge Geld verfuegte, immer noch die eingegangenen Briefe auf ungestempelte Briefmarken ueberpruefte, die sie dann sorgfaeltig abloeste, um sie erneut zu benutzen. Sobald ich das gelesen hatte, hatte ich auch gedacht, ein Buch ueber ihr Leben, das 48,00 Euro also fast 96 Mark kostet, das haette sie vermutlich niemals gekauft, schon gar nicht, wenn, wie in meinem Falle, die gewuenschte Information, ich welchem Kino Ilse sozialisiert wurde, im Buch gar nicht vorhanden ist, was sie in unserer Zeit jedoch nicht im Buchladen haette herausfinden koennen, weil, es liegt nirgendwo rum und muß natuerlich erstmal beim Verlag bestellt werden. Und eine Bestellung zur Ansicht gibt es, so wie frueher, bestimmt nicht mehr. Lg. J.

xxxxxxxxxxx = nur damit du keine Suchmaschine anwerfen mußt = Rosebud und der Mann heißt eigentlich Charles Foster Kane und meint = William Randolph Hearst.

„Knoepfe auf Stange annaehen“ hat mir eine Freudin erklaert, kannte ich natuerlich nicht. Also wenn man (meist eher Frau) Knoepfe auf Stange anaehen soll, dann geht das so: Also zuerst den Faden durch die Knopfloecher mit dem Kleidungsstueck verbinden und dann, damit der Knopf einen kleinen Abstand zum Kleidungsstueck bekommt, die Faeden zwischen Knopf und Kleidungstueck umwickeln und dann mit dem Wickel verbinden, sodaß sich der vernaehte Faden nicht wieder abwickeln kann. Aber das wußtest Du natuerlich schon lange, oddr?

Spiegel 23. Januar 1957

Foto von dem Fotograf: Clemens Franz. Prierosser Strasse 32 in Berlin Rudow
Rechts daneben ist der Rest von dem Kino von Ilse Kubaschewski in Berlin Rudow zu sehen.

v.l.n.r. Ilse Kubaschewski, geb. Kramp, Adrian Hoven und Hans Wilhem Kubaschewski beim Gloria Filmball 1956. Der Name der Fotografin oder des Fotograf wurde auf der Seite mit dem Schreibfehler nicht genannt.

Hallo Dr. Eva Moser, ist ein Schreibfehler der gleich zwei mal auftaucht immer noch ein Schreibfehler? „Die „Kuba“, wie sie in Branchenkreisen genannt wurde, brachte aber auch anspruchsvollere Werke auf den Markt. Das 1957 von Robert Siodmak inszenierte Kriminaldrama „Nachts, wenn der Teufel kam“ wurde als erster deutscher Nachkriegsfilm für den Oscar nominiert. In den Siebziger Jahren sorgte Ilse Kubaschweski noch einmal für dicke Schlagzeilen, als sie ihre Filmfirma für neun Millionen Mark verkaufte. 2001 ist sie gestorben. Heute erinnert noch das Kino mit dem klingenden Namen Gloria Palast am Münchner Stachus an ihr Wirken. Ilse Kubaschweski gehörte zu den ganz wenigen Erfolgsfrauen im harten Filmgeschäft. Sie produzierte und verlieh über 500 Filme, darunter auch den Klassiker „La dolce vita“ von Federico Fellini. Mit der Überlieferung der Gloria-Film verwahrt das Bayerische Wirtschaftsarchiv einen wichtigen Bestandteil deutscher Filmkultur.“

Dr. Eva Moser, Leiterin des Bayerischen Wirtschaftsarchivs.

Briefe an Wiebeke (XXXII) Winterunterwäsche

Briefe an Wiebeke (XXXII)

Romische Zahlen am BUG

Hallo Wiebeke,

Ben Hecht hat geschrieben, natürlich nicht mir, sondern als Reporter der amerikanischen Zeitung Daily News: „Ich war ein vierundzwanzigjähriger junger Mann, als ich deutschen Boden betrat. Als ich ihn verließ, hatte mein jugendlicher Zynismus viel von seinem Grinsen verloren.“ ( . . . )

Über seine Begegnung mit Karl Liebknecht schrieb er: „Dieser kleine Mann war offensichtlich Karl Liebknecht. Erst eine Stunde zuvor hatte ich von ihm gehört (obgleich er für das politisch denkende Volk weltberühmt war). Es war meine erste Begegnung mit Brutus, Robespierre, Garibaldi, Bolivar, Washington — ein Führer der Revolution, ein Stürmer der Königspaläste. Er drang in das Schloß ein, einhundert Matrosen folgten ihm. Die Zivilisten blieben draußen im Schnee. Es wurden keine Befehle erteilt. Es sah aus wie eine Revolution, bei der jedermann machen konnte, was er wollte. In Sachen Politik so unwissend wie ein Igorote, war ich trotzdem ein guter Reporter und hinsichtlich dieser Nacht fast immer ein glücklicher. Ich stellte keine Fragen und folgte Liebknecht“. ( . . . )

„Ich gelangte in ein weiträumiges Schlafzimmer. Die großen Matrosen standen in Reihe angetreten an seinen Wänden. Ihre Karabiner berührten den Boden, ihre Gesichter blickten in starrer Aufmerksamkeit nach oben. Liebknechts Stimme schrie fremdartige Sätze in einem von des Kaisers Schlafzimmern. Ich erkannte einige wieder — »die Freiheit für das Proletariat ist angebrochen — die Arbeiter sind die neue Dynastie —«

Niemand rührte sich nach der Rede oder ließ einen Ton vernehmen. Liebknecht begann sich auszuziehen. In seinen schwarzen Augen lag ein zorniger, lyrischer Blick. Liebknecht, der kleine Arbeiter mit einem guten Mundwerk, zog sich im Schlafzimmer eines Hohenzoller-Kaisers aus ― und war im Begriff, sich in das Bett des Kaisers zu legen!

Nach einigen Minuten stand Liebknecht barfuß in langer Winterunterwäsche. Einige der Knöpfe fehlten, und das Gesäßteil war vom zu vielen Waschen ausgebeult. Er hob eine prallvolle Aktentasche und vier umfangreiche Bücher auf. Mit diesen Sachen unter seinem Arm näherte er sich dem kaiserlichen Bett. Jemand schaltete die Deckenbeleuchtung aus. Eine Lampe auf dem spindelbeinigen Nachttisch blieb brennen. Der weisse Schnee fiel wie ein Gesicht in alle Fenster.

Die Matrosen waren erstarrt. Sie standen da und beobachteten, wie sich der kleine Mann in der häuslichen Bekleidung langer Unterwäsche dem königlichen Bett näherte, und ich spürte, daß ein sonderbarer Kampf stattfand ― einer, über den ich niemals in den Geschichten von Revolutionen gelesen hatte. Schattenhafte Wesen lieferten den hundert bänderbemützten Matrosen, die an der Wand standen, den Kampf. ( . . . )

Liebknecht, der Volksführer, plazierte seine prallvolle Aktentasche und vier Nachschlagewerke auf den kleinen Nachttisch und kroch zwischen die kalten königlichen Laken. Im Raum lastete das Schweigen. Ich hörte die königlichen Sprungfedern quietschen, als Liebknecht seine Beine ausstreckte. Dann, als er sich umdrehte, um ein Buch zu nehmen gab es plötzlich einen durchdringenden Lärm. Der spindelbeinige Nachttisch, eine Antiquität, war unter dem ungewohnten Gewicht revolutionärer Literatur zusammengebrochen. Die Lampe schlug auf den Boden, und eine der Birnen explodierte. Und die Soldaten der Revolution flohen. Bis auf den letzten Mann flitzten die hundert Matrosen halb in Panik aus dem Schlafzimmer, von mehr Geistern in die Flucht geschlagen, als ich mir je hatte vorstellen können. Ich begann mein erstes Telegramm an die Daily News, die mit siebzig amerikanischen Zeitungen assoziiert war, mit der Information: »Kaiser Wilhelm kehrte letzte Nacht nach Berlin zurück«.“ (Abgeschrieben aus dem Buch: Ben Hecht – Revolution in der Teekanne, Geschichten aus Deutschland 1919, erschienen im Wolke Verlag, Hofheim, 1989. Fallobst Band 1. Aus dem Amerikanischen von Dieter H. Stündel und Helga Herborth . (111 Seiten). ISBN 3-923997-24-8

Tier
Postkarte

pdf Briefe an Wiebeke (XXXII) Winterunterwäsche

Apropos Waterloo Theater

PDF AbschriftFührer Guckfenster

Manfred Hirschel mit seiner Tochter Eva HirschelRosa Hirschel

Cine CaramdiroManfred Hirschel

CineCarandiro8 Juni 1940Seite2

pdf klausHebeckerWaterloo

pdf Waterloo2005KCFührer

Marcus Hirschel Kinobesitzer in Hamburg
Marcus Hirschel Gründer des Kinos an der Reeperbahn
Günther Harald Hirschel 2004

von l.n.r. Manfred Hirschel, Eva Hirschel und Rolf Arno Streit.

Waterloo Kino (Das waren herrliche Zeiten)

PDF KlausHebeckerWaterloo 1974

Dieser Zeitungsartikel von Klaus Hebecker hat erneut meine Aufmerksamkeit gefunden. Besonders dadurch, daß viele Informationen über dieses Kino in der Dammtorstraße 14 in Hamburg fehlten. Andere Informationen fehlten oder waren falsch dargestellt. Leider fehlt dem PDF von dem Zeitungsartikel auch das Erscheinungsdatum und der Name der Hamburger Zeitung (Vermutlich das Hamburger Abendblatt) . Da der letzte Spieltag des Waterloo der 31. März 1974 war (Ein Sonntag) ist anzunehmen, das dieser Artikel am folgenden Donnerstag, d. 4. April im Hamburger Abendblatt erschienen ist. Klaus Hebecker war Journalist und Herausgeber des Filmtelegramm in Hamburg. Redaktion im Schrötteringsweg Nr. 11. Er ist am 25.7. 1923 in Berlin geboren und ist am 2.7.1981 gestorben.

Konjunktur und Krisen der neuen »Lustbarkeit«

Leider befindet sich auf der Internet Seite der TAZ nur die Überschrift des Artikels, nicht aber der Text, den Renate Kemper damals (am 30. 04. 1992) auf Seite 25 der TAZ Hamburg veröffentlicht hatte. Dem, so hatte ich gedacht, müßte doch mal abgeholfen werden und habe den Artikel von der Papier Ausgabe dieser Zeitung abgeschrieben. (Ohne irgend wen zu fragen. Worauf ich aber auch nicht stolz bin.) Die Überschrift lautete:

Konjunktur und Krisen der neuen »Lustbarkeit«

Im Untertitel stand:

Auf dem Höhepunkt seines Kinobooms in den 20er und 30er Jahren besaß Hamburg zwar keinerlei Filmindustrie dafür aber 72 Lichtspielhäuser / Der damals erfolgreichste Hamburger Kinounternehmer, James Henschel, wurde von den Nazis enteignet.

Seit Jahren präsentiert sich Hamburg gerne als glänzender Medien- und Filmstandort. Das war nicht immer so. Im Jahre 1929 beklagte der Hamburger Regisseur Carl Heinz Boese in einem offenen Brief, daß Hamburgs Filmwirtschaft nicht mehr sei als ein „Provinzgeschäft“. Was die Filmindustrie betraf war diese Bemerkung mehr als untertrieben: In der Hansestadt existierte nur eine einzige Produktionsstätte. Mangels ausreichender Aufträge mußten die Vera – Filmwerke an der Alsterkrugchaussee zudem 1930 Konkurs anmelden.

Als Kinostadt konnte sich Hamburg jedoch sehen lassen. Auf dem Höhepunkt ihres Kinobooms zählte die Hansestadt 72 Kinos, die damals preußischen Nachbarbezirke Wandsbek und Altona nicht mitgerechnet. Neben den kleinen Vorstadtkinos prägten vor allem luxeriös ausgestattete Lichspielhäuser in den Vergnügungsvierteln St. Georg und St. Pauli die Kinowelt. Aber auch die Arbeiterquartiere Barmbek (7 Kinos), Neustadt (6 Kinos) und Eimsbüttel (5 Kinos) wiesen eine hohe Kinodichte auf.

Das attraktive Lichtspielgewerbe war in Hamburg zwischen vier Unternehmen aufgeteilt. Dem süddeutschen Konzern Emelka gehörten vier größere Filmtheater, darunter das älteste Hamburger Kino, Knopfs Lichtspielhaus am Spielbudenplatz. Die Hirschel-Gruppe betrieb vier Lichtspiele und die UFA als reichsdeutsches Filmflagschiff des rechtskonservativen Medienzars Alfred Hugenberg besaß hier sechs große Filmpaläste.

Mit dem am 22. Dezember 1929 eröffneten Ufa-Palast, Ecke Dammtorstraße/Valentinskamp, erregte der Konzern erhebliches Aufsehen. Das 2667 Plätze Kino integrierte sich in den modernen Gebäudekomplex des „Deutschlandhauses“ zu dem Tanzcafes und Büros gehörten. Die Lokalpresse bejubelte den Bau als „größtes Filmtheater des europäischen Kontinents“.

Daß hinter dem glanzvollen Projekt auch ein sozialpolitisch kalkuliertes Sanierungskonzept steckte, offenbarte Oberbaudirektor Gustav Leo bei der Eröffnung. Mit dem Kino, so Leo, sei „das Rückgrat für die Gestaltung eines neuen, an breiten Straßen hochragenden Geschäftsgebietes anstelle des hygienisch, baulich und sozial bedenklichen Gängeviertel geschaffen“.

Als führendes Hamburger Kinounternehmen etablierte sich schließlich der Henschel-Konzern mit sieben modernen Schauburgen. Betreiber waren Hermann Urich-Saß und Hugo Streit, Schwiegersöhne des Hamburger Kinopioniers James Henschel. Nachdem Henschel sich 1918 aus dem Geschäft zurückgezogen und seinen Kinopark an die UFA verkauft hatte, etablierten seine Schwiegersöhne Mitte der zwanziger Jahre durch die Übernahme älterer und den Bau moderner Theater ihre eigene Kinokette. In den Schauburgen fanden jeden Monat Filmveranstaltungen der Arbeiterbewegung statt. Neben gängiger Kinokost kamen auch sowjetische Filme wie Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin ins Programm.

Trotz prosperierender Kinobautätigkeit klagten die Betreiber beständig über ihre ruinöse Finanzlage. Die hohen Abgaben der sogenannten Lustbarkeitssteuer belasteten vor allem in den besucherschwachen Sommermonaten die Kassen. Als von städtischer Seite keine Senkung der Steuer in Aussicht gestellt wurde, griffen die Kinobesitzer zu einem drastischen Mittel: Sie traten 1922 in einen Steuerstreik. Fünf Wochen blieben in Hamburg alle Kinos geschlossen.

Erst nachdem der Senat einer geringen Steuersenkung zugestimmt hatte, öffneten sich wieder die Pforten. Gerne hatten sich die Stadtoberen zu diesem Kompromiß nicht hergegeben, stellte die Lustbarkeitssteuer doch eine gue Einnahme für das Staatssäckel dar.

Mit der Weltwirtschaftskrise und der finanziell aufwendigen Einführung des Tonfilmes stand der Kinowirtschaft Ende der zwanziger Jahre ein erneuter Tiefschlag bevor. Gerade das Arbeiterpublikum, dem das Kino zum Theater des kleinen Mannes geworden war, mußte in Zeiten harter Rezession und Arbeitslosigkeit auf jeden Pfennig im Haushaltsbudget achten. Da blieb für den Kinobesuch – Eintrittspreise von 60 Pfennig bis 1,80 Reichsmark- nichts übrig. Die Besucherzahlen sanken rapide.

Die Umstellung auf den Tonfilm wiederum erforderte für viele Kinos eine kostenaufwendige Installation neuer Klanggeräte – Investitionen, die sich nur die finanziell stabilen Kinokonzerne leisten konnten, nicht jedoch die kleinen Eckkinos der Vororte. Viele dieser oft in Familienregie betriebenen Kleinkinos mußten Anfang der dreißiger Jahre schließen.

Ungeachtet aller Krisen und Konjunkturschwankungen überdauerte eine andere Hamburger Filminstitution die Jahrzehnte. Mit dem Ziel, den Film als Kultur- und Bildungsmedium zu nutzen, gründeten hanseatische Honorationen die Kulturfilmgesellschaft Urania.

In ihrem Kino in der Fehlandtstraße zeigte die Vereinigung belehrende Filmstreifen wie Schiller – eine Dichterjugend oder Sumatra, das Land der 1000 Freuden. Zeichnete sich Hamburgs Filmförderungspolitik jener Zeit dadurch aus, eben keine zu sein, so galt dies nicht im Falle der Urania. Mit Beharrlichkeit umwarb Urania-Leiter Lichtwarck Vertreter städtischen Behörden, um finanzielle Aufbauspritzen für seinen Kulturverein zu erhalten. Von solchen Subventionen konnte der ebenfalls nichtkommerzielle, aber der KPD nahestehenden Volks-Film-Verband nur träumen.

Auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wußte sich die Urania schnell anzupassen. Bereits eine Woche nach Bildung des neuen Hamburger Senates kam es auf Einladung Lichtwarcks zu freundschaftlichen Gesprächen zwischen der Urania und Senatsvertretern. Ein Jahr später kooperierte die Vereinigung bereits mit dem nationalsozialistischen Kampfbund für deutsche Kultur.

Heute führt die Urania als Kulturelle Film- Vortragsgesellschaft ein Schattendasein in Hamburgs Filmlandschaft. Das Kino in der Fehlandtstraße brannte Mitte der siebziger Jahre ab.

Für andere Filmschaffende in der Hansestadt verlief der politische Führungswechsel weniger reibungslos. James Henschel, Kinounternehmer der ersten Stunde wurde 1939 aus Hamburg zwangsausgewiesen, weil er Jude war. Den Schauburg-Ring seiner Schwiegersöhne Urich-Saß und Streit hatten bereits 1933 zwei ehemalige Geschäftsführer des Konzerns übernommen.

Beide traten wenig später in die NSDAP ein, der Name Henschel verschwand aus dem Handelsregister. Nachdem sich die sogenannte „Arisierung“ jüdischer Betriebe auch auf das lukrative Kinogewerbe erstreckt hatte, errang der Film in den weiteren Jahren als Propagandainstrument ohnehin nur zweifelhafte Verdienste.

Renate Kemper

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PDF Abschrift Taz Artikel von Renate Kemper

Ein Dokumentarfilm über die Geschichte des Henschel-Unternehmens läuft im 3001: Siehe Kinotips

Kinotips: Auf den Spuren von Hamburgs Kinogeschichte fahndeten Reinhold Sögtrop und Regisseur Otto Mayer. Vom Henschel-Konzern als einstmals größtem Kinounternehmen (s. Text oben) ist nach seiner „Arisierung“ 1933 und dem Krieg nichts übrig geblieben. Der Video-Film Leute, seid vernünftig, laßt die Frau duch, denn sie will noch schnell mal in die Schauburg, läßt nicht nur das Bild vergangener Glanztage neu entstehen. (3001, 6.5. 21 Uhr)

Renate Kemper

Auf der Suche nach Henschel

Abschrift eines Artikels aus der Hamburger Rundschau vom 5. Dezember 1991 Nr. 50, Seite 13 von Otto Meyer

Auf der Suche nach Henschel

Die verdrängte Geschichte des jüdischen Kinounternehmers Henschel

Mit vielen Hamburger Kinos selbst ging auch deren Geschichte in den Trümmern des zerfallenden Nazi-Deutschlands unter. Eine Ausstellung im 3001 Kino in der Schanzenstraße erinnert nun an den ehemaligen jüdischen Kinobesitzer James Henschel. VON OTTO MEYER

Die Ausstellung zeigt brisante Fotos und Dokumente von 1905 bis 1938. Die Nazis und die von Ihnen begünstigten Kinobesitzer haben einen großen Anteil daran, daß keiner in der Stadt mehr weiß, wo beispielsweise das Lessingtheater stand, wie sein Erbauer 1912 hieß, wer das Waterloo Theater in der Dammtorstraße baute und wo es stand, wem das Passage Theater in der Mönckebergstraße gehörte.

Nur ganz wenige wissen, daß Hamburger Kinogeschichte in dieser Pionierzeit ohne deutsche Juden gar nicht möglich gewesen wäre. Henschel war einer von ihnen und einer der größten Kinobesitzer mit den schönsten und geräumigsten Kinos. Und James Henschel (Jeremias) war einer der ersten, der in Hamburg Kinos gemacht hat. Keine Kneipen, wie die von Eberhard Knopf, in denen gelegentlich die Leinwand runtergelassen wurde, um die Trinker ein wenig abzulenken.

„Feste“ Häuser, die ausschließlich der Vorführung von „lebenden Photographien“ dienten. Das „Helios Theater“ wurde im Dezember 1905 in Altona/Große Bergstraße Nr. 11-15 eröffnet. Ein Jahr später das „Belle Alliance“. Schulterblatt 115, mit 1.400 Sitzplätzen.

(Anmerkung 2022): Das wußte ich damals noch nicht. Es wurde nicht ein Jahr später, sondern bereits einen Monat später im Januar 1906 eröffnet.).

(2. Anmerkung von 2022): Ulrich Mott hat noch mehr neue Informationen: Das Belle Alliance Kino wurde am 28. April 1906 eröffnet. Im Staatsarchiv hat er diese Information gefunden: „Herr Henschel, Gr. Bergstr. 11 wohnhaft, zeigt dem Polizei-Amt an, daß er vom 28.4.06 ab in den Nachmittags- u. Abendstunden in dem Lokal Belle-Alliance, in welchem die erforderlichen Einrichtungen bereits getroffen sind, lebende Photographien vorzuführen beabsichtige.“ (Staatsarchiv 423-31_37 (Akten der Feuerwehr Altona).

Das führt zu folgenden Überlegungen: Da Henschels Pachtvertrag am 1. Januar 1906 begann, wurde der Ballsaal in den folgenden Monaten in einen Kinosaal umgebaut, bis das Kino am 28. April 1906 eröffnet werden konnte.Es wurde von 15.00 Uhr bis 1.00 nachts gespielt. Oft waren mehr als achttausend Besucher pro Tag im Kino. Der schlechteste Tag war der 3. Juli 1906: Die gesamte Tageskasse des Belle Alliance betrug 56 Mark – alle anderen Zuschauer hatten sich lieber den Brand der Michaeliskirche angesehen.

Henschel baute in Wandsbek das erste Filmtheater Welt, das ausschließlich für Kinozweecke bestimmt war. Für 550.000,00 Mark wurde in der Wandsbeker Chaussee das „Palast Theater“ errichtet.

(Anmerkung 2022): Auch das wußte ich damals nicht. Es wurde gar nicht in Wandsbek, sondern in der Hamburger Straße in Hamburg gebaut. Der Fehler geht auf einen Artikel von Hermann Lobbes in einer Ausgabe der Lichtbildbühne (LBB) von 1930 zurück. Da hat dann immer einer vom anderen abgeschrieben. Ich auch.

Einer der gewaltigsten Saalbauten jener Zeit mit einer Gesamttiefe von 86 Metern und einem lichten Durchmesser von 70 Metern. 1916 kaufte James Henschel das Passage Theater in der Mönckebergstraße und das Lessingtheater am Gänsemarkt 46/48. Eigentlich hätten es „Grammophonautomaten-Salons“ werden sollen. Aber bei einem Besuch von James und Friderike Henschel in Paris schlug Friderike vor, doch „Ciné“ zu machen. Die lange Schlange vor einem solchen hatte beide überzeugt.

Die UFA wurde 1918 gegründet.

(Anmerkung 2022): Auch diese Angabe stimmt nicht. Die UFA wurde 1917 auf Veranlassung der Reichsregierung gegründet, die 8 Millionen als Startkapital bereit stellte. Dr. Klaus Kreimeier weist in seinem Buch: »Die UFA Story« auf Seite 462 auf einen geheimem Kontrollvertrag hin: “Den Einfluß des Reiches sicherte ein geheimer Kontrollvertrag, der in einem Schreiben des Kriegsministeriums an den Reichskanzler vom 18.4.1918 erläutert wird. Darin werden die Aktionäre Frenkel und Wassermann ausdrücklich als »Strohmänner« aufgeführt, hinter deren Zeichnungen das Reichskapital von 7 Millionen Mark »verborgen« sei. Laut Kontrollvertrag hätten sich die Gründer verpflichtet, »gegen alle Maßnahmen zu stimmen, die den Regierungsvertretern, die zu Sitzungen eingeladen werden müssen, nicht recht sind«. Das hat 1987 Wolfgang Mühl-Benninghaus herausgefunden. (Dissertation 1987 Humboldt Universität Berlin (Ost)).

Es war Ludendoff, der 1917 die Gründung einer großen deutschen Filmgesellschaft gefordert hatte. Viele Generäle waren der Meinung, sie hätten den Ersten Weltkrieg mit einer besseren Propaganda gewinnen können. Die Ufa sollte alles machen: Filme produzieren, Kinos betreiben, Kinoausstattung verkaufen. In Hamburg trat sie an James Henschel heran: „Entweder Sie verkaufen uns ihre Kinos, oder wir bauen selber Kinos und machen Ihnen Konkurrenz“, berichtete der Enkel Rolf Arno Streit. Henschel verpachtete.

(Anmerkung 2022): Auch das wußte ich nicht besser. Es war alles viel komplizierter.

Die James Henschel GmbH wurde am 29.11.1919 eine Tochtergesellschaft der UFA. Fünf Theater: Das „Palast Theater“ und das „Zentral Theater“, das „Lessing Theater“, die „Harvestehuder Lichtspiele“, das „Passage Theater“ und das „Zentral Theater“ gingen an die UFA. Die Grundstücke Gänsemarkt 46/48, Hamburger Straße 5/7 und Wandsbeker Chaussee 162 waren noch bis 1938 im Eigentum der James Henschel GmbH und sind vermutlich bis heute im Eigentum der Erben von James Henschel.

(Anmerkung 2022): Auch das wußte ich 1991 nicht besser. Ursache ist vor allem der angebliche Datenschutz, der seit 1972 die Einsicht in die deutschen Grundbücher verhindert.

Auch wenn die Gestapo in Zusammenarbeit mit dem Oberfinanzpräsidenten Hamburgs das „inländische Vermögen“ von James Henschel enteignet hat. Beispielhaft ist auch die Geschiche der legendären „Schauburg Kinos“. Die Schwiegersöhne von James Henschel, Hermann Urich Sass und Hugo Streit, die bereits seit 1914 gemeinsam die Geschäfte der Firma Henschel führten, wurden per Vertrag mit der UFA als Geneneraldirektoren übernommen.

(Anmerkung 2022): Auch das wußte ich 1991 nicht besser. Nicht nur Hermann Urich Sass und Hugo Streit wurden übernommen, sondern auch das gesamte Personal der Firma Henschel. Dafür hatte sich James Henschel stark gemacht, dass alle Mitarbeiter von den Neugründung, der „J.Henschel GmbH“ übernommen wurden.

1925 schieden sie aus dieser Tätigkeit aus und gründeten den „Henschel Film- & Theaterkonzern“. Innerhalb von vier Jahren (1926-1930) wurden acht neue Kinos gebaut (Schauburg Millerntor, Schauburg Barmbek, Schauburg Hammerbrock, Schauburg St. Georg, Schauburg Nord, Schauburg Wandsbek, Schauburg Hamm, Apollo Theater). Vier weitere Kinos: Schauburg Hauptbahnhof (später Barke), Schauburg Uhlenhorst, Burg Theater, Schauburg Altona (früher Helios Theater) wurden übernommen . Am 27. Januar 1933 starb der Henschel Schwiegersohn Hermann Urich Sass.

(Anmerkung2022): Das wußte ich schon besser. Hatte allerdings dem Sohn Horst Urich Sass versprochen, das ich den Selbstmord seines Vaters erst nach seinem und dem Tod seiner Fraui Ciedra Urich Sass bekannt machen würde. An dieses Versprechen habe ich mich gehalten.

1936 flüchteten seine Söhne Horst Urich Sass, Rolf Arno Streit und Carl Heinz Streit nach Südamerika. James Henschel flüchtete im August 1938 zusammen mit Ehefrau Friderike nach Holland und starb dort ein Jahr später. Friederike Henschel flüchtete in die USA und ging nach New York. Die Henschels wurden der Staatsangörigkeit für „verlustig“ erklärt und das „inländische Vermögen“ nach dem Tode James Henschels 1938 beschlagnahmt. Die neuen „Besitzer“ der Schauburgen waren die ehemaligen Angestellten von James Henschel: Paul Romahn und Gustav Schümann, beides NSDAP-Mitglieder.

(Anmerkung 2022): Sie waren nicht nur NSDAP Mitglieder, sondern auch „Mitglieder“ der SA. Das wußte ich 1991 noch nicht.

Im Sommer 1943 hatten sich Hitlers Kino Geschenke auch für die Beschenkten erledigt. Von 12 ehemaligen Schauburgen entkam nur eines dem Bombenhagel der Alliierten. Den Schlager „Kinder laßt die Frau durch, sie will noch in die Schauburg . . . „ gibt es nur noch auf alten Schellackplatten. Die Geschichtswerkstatt in Barmbek hat sie wiedergefunden. Der Fotograf Reinhold Sögtrop, der die Henschelausstellung mit organisiert hat, hofft mit dieser Ausstellung auch noch weiter Zeitzeugen zu finden, die vielleicht noch Bilder aus der Frühzeit der Schauburgen und der Henschel Kinos haben.

Otto Meyer*

(*Manchmal muß man auch die anderen Vornamen benutzen, die einem die Eltern gegeben haben, weil man sonst keine Gelder von der Filmförderung bekommt).

PDF Stopersteine auf der Reeperbahn

PDF Auf der Suche nach Henschel Seite 2

Hugo und Sophie Streit mit der Schauburg Zeitung. Lil Dagover und Emil Jannings werden angekündigt.

PDF Eröffnung BELLE DTPortu

Willy Münzenberg aus dem Schweizer Zuchthaus

Historischer Text ausgewählt von Stinki Müller

Willi Münzenberg Geschrieben im Schweizer Zuchthaus 1918

Willi Münzenberg

Lebenslauf

Verlag Detlev Auvermann KG Glashütten im Taunus 1972

Abschrift des Lebenslaufes von Wilhelm Münzenberg

Die Eltern

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Das Recht der ersten Nacht ist in Deutschland nach dem Gesetz schon seit langem aufgehoben. Praktisch freilich wird es heute mindest so oft als früher ausgeübt. Nur wartet man nicht bie zur Hochzeitsnacht der Magd und beschränkt sich auch nicht auf nur eine Nacht. Es war deshalb kein besonderer Zufall oder ein ausgezeichnetes Wunder, als sich Baron von M. vergass, sein aldiges und edles Blut mit demjenigen seines Zimmermädchens zu mischen. Das Kind erbte den Standesdünkel, den Jähzorn, die Brutalität und Roheit, die Liebe zu Wein, Weib, Weib und Spiel, kurz alle Tugenden seines Vaters, ohne dessen Vermögen. Der Alte benahm sich immerhin noch anständiger als andere seines Standes und in seiner Lage. Er anerkannte das Kind, gab ihm seinen Namen und bestritt die Kosten seiner besseren Schulbildung. Aber die junkerlichen Triebe in dem Jungen waren zu stark, um einen grösseren Lerneifer aufkommen zu lassen. Als Knabe war er der Anführer aller losen und verwegenen Streiche und als Jüngling mehr im Wirtshaus und hinter den jungen Schönen des Dorfes her als beim Studium. Ermahnungen und Drohungen des Alten fruchteten nichts. Da sagte sich dieser von dem Jungen los, kaufte für 300 Taler seinen Namen zurück und jagte ihn zum Teufel. Da brach der Krieg zwischen Preussen & Oesterreich aus (1866) und der hoffnungsvolle Sprössling des preusssischen Junkers und seiner Magd, der nichts gelernt und nichts zu verlieren hatte, meldete sich freiwillig. Er wurde angenommen und folgte als Feldgendarm dem siegreichen preussischen Heer. Das Leben unter den Soldaten gefiel ihm und er beschloss zu bleiben. Als Ordonanzreiter machte er einige Jahre später den deutsch-französischen Krieg mit, nahm 1873 den Abschied und wurde als Telegraphist angestellt. Das blieb er er aber nicht lange. Ein frischer Unternehmungsgeist trieb ihn, sich selbst zu versuchen und wurde in wechselreicher Reihenfolge Agent, Förster, Güterspekulant, Gastwirt, Coiffeur, Geflügelhändler etc., ohne aber mit irgend einem Fach dauernd Fuss fassen zu können. Das Soldatenleben und die Teilnahme an zwei Kriegen hatte alle seine Leidenschaften und Neigungen mächtig gefördert. Zu gute kam ihm nur der dabei gewonnene frische Unternehmungsgeist und eine gewisse Weltgewandtheit, die sich später zu einem guten und sicheren Geschäftssinn entwickelte. Im Vergleich zu der Vermehrung und der Steigerung der schlimmen Eigenschaften herzlich wenig. Der Standesdünkel war durch militärische Chargen und Orden kräftig gehoben worden. Und fehlte ihm auch der Name und das Vermögen, in seiner Einbildung und durch seine Abstammung fühlte er er sich als ein Mitglied der herrschenden, besseren Klasse, als schneidiger preussischer Junker und schaute mit Verachtung auf das gewöhnliche Volk. Die Liebe für ein flottes Leben, für Wein, Weib und Spiel war um die teurere Passion, für die Jagd, reicher geworden. Kein Wunder, wenn das schnell und leicht erworbene Geld ebenso schnell und rasch wieder zerfloss. Wenn ihm heute eine glückliche Güterspekulation Tausende in den Schoss warf, so verschlang morgen eine Jagdpartie zehntausende. Besonders die Leidenschaft für den Wein war durch den Krieg und nicht zuletzt durch die eroberten Weinkeller der französischen Bauern zu einer unbezwinglichen Trunksucht geworden. Und da der Wein in der Heimat ziemlich teuer war, so trat an dessen Stelle der Schnabs, der Gocnak und ein „guter Korn“. Und das täglich genossene Quantum stieg von Jahr zu Jahr und die Tage ohne Rausch wurden im selben Masse seltener. Hand in Hand mit der Vergrösserung der Trunksucht ging die Steigerung des Jähzorns, der Brutalität und Roheit. Die geringste ihm missfallende Handlung, ja, schon ein einziges Wort konnte ihn in einen Taumel sinnloser Wut versetzen. Als es anlässlich eines Kartenspiels zwischen ihm und einem Mitspielenden zu Differenzen kam, verliess er in höchster Erregung das Zimmer, um einige Minuten mit dem geladenen Gewehr zurückzukehren. Nur mit Mühe konnte dem Tobenden das Gewehr entwunden werden. Ueberhaupt wurde das Schiessen je länger je mehr zu einer direkten Manie des Unglücklichen. Einige Gewehre hingen stets geladen über dem Bett. Er begnügte sich nicht mit der Jagd auf die gewöhnlichen Jagdtiere, sondern schoss Stare, Raben, Störche, Katzen, Hunde, kurzum, was ihm vor das Rohr kam. Zu Hause droht er er täglich, sich zu erschiessen, die Frau, die Kinder, die „ganze Bande zu erschiessen“. Und mehr wie einmal rettete nur die schleunige Flucht die Unglücklichen vor dem Tod. Alles wurde aber übertroffen durch seine Roheit und Brutalität gegen die Familie. Jedes, auch nur das geringste und kleinste gefühlvolle Verständnis für ein Familienleben fehlte ihm vollständig und Liebe für Frau und Kinder war ihm so weltfremd, wie die Pflicht, für sie zu sorgen. Während er in lockerer und feuchtfröhlicher Gesellschaft tausende verprasste, fehlte der Familie das zum Leben notwendige Brot! Um die Erziehung der Kinder bekümmerte er sich nur insofern, als er ab und zu, und das nicht selten, alle auf das grausamste schlug. Mit der Frau wurde begonnen und mit dem Jüngsten geendet. Dabei fand alles Verwendung , was ihm in die Hand kam Stöcke, Peitschen, Ketten, Eisenstücke, Geschirr. Narben auf allen Körperteilen der Kinder zeugen heute noch von den erlittenen Misshandlungen. Als eines Tages der damals zweijährige älteste Sohn weinte, ergriff ihn der darob erboste Vater und warf ihn wie ein Ball oder ein Stein die Treppe hinunter. Nur dass die Mutter das Kind auffing und so den Sturz milderte, rettete dem Kind das Leben. Natürlich schrie der Kleine noch kläglicher als zuvor. Das machte den Vater so wütend, dass er Mutter und Kind in die Jauchegrube warf. Die Jauchegrube befindet sich in den thüringischen Bauernhäusern in der Mitte des Hofes und ist eine Grube ca. 2 m. tief, 3 m. breit und 6 m. lang. Auf die Hilferufe der beiden eilt die Schwiegermutter herbei, um gleich darauf ebenfalls in der Grube zu liegen. Nicht besser erging es dem Schwiegervater, der mit einer Mistgabel bewaffnet dem Wütenden zu Leibe wollte. Und während Großvater, Grossmutter, Mutter und Kind in der stinkenden Jauche zappelten und sich zu retten suchten, erzählte der Held des Stückes den wildauflachenden Bauern seine neueste Heldentat und unter den unflätigsten Witzen. Das war mein Vater! Später habe ich mich manchmal gefragt, wie war das alles möglich? Wie war es möglich, das ein solcher Mensch vierzig Jahre ein Familie quälen, vierzig Jahre wie ein Wahnsinniger leben leben durfte, ohne das die Nachbarschaft, ohne das die Behörde eingriff? Eine alles erklärende Antwort habe ich bis heute nicht gefunden. Viel erklärt das Wesen meiner Mutter. Meine Mutter kenne ich mehr nach den Schilderungen der älteren Geschwister als aus eigener Erinnerung; sie starb, bevor ich vier Jahre alt war. Sie war die Tochter armer Bauersleute in der Nähe von Erfurt und wie alle deutschen Arbeiter und armen Bauern, grenzenlos zufrieden und unterwürfig. Am schwersten musste sie ihre begeisterte Liebe für das bunte Tuch büssen. Sie liebte an ihrem Mann vor allem die Uniform und nur den Soldaten. Sie blickte zu ihm auf wie zu einem höheren Wesen, und empfand seine Liebe als die grösste, ihr erwiesene Gnade. Diese Ehrfurcht wurde durch die halbadlige Abstammung und durch die kriegerischen Auszeichnungen des Mannes noch bedeutend vergrössert. Damit aber war ihre Stellung in der Ehe gegeben. Sie war die Magd und er der Herr. Die Ehe war eine schlechtere Ausgab der Liebschaft zwischem dem Baron und seinem Zimmermädchen, die zum Unglück mit einer Heirat endete. Unergründlich, wie die tiefsten Tiefen des Weltmeers ist das Leid, das die vielgeprüfte Frau in dem Martyrium einer vierunddreissigjährigen Ehe frommgeduldig ertrug. In ihren Händen allein lag die Erziehung der Kinder und später, als der Mann alles vertrank und vertat, auch die Ernährung der Familie. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht war sie unermüdlich tätig, durch den Betrieb einer Kuchenbäckerei das zum Unterhalt der Familie notwendige Geld zu verdienen. Und anstatt der Mann dazu beisteuerte, forderte er noch. Sie sollte ihm das Geld erarbeiten, das er in Gesellschaft mit Dirnen verprasste! Und als Entgelt Grobheiten, Skandale, Misshandlungen und Prügel. Wie viele Nächte wachte sie, in banger Angst und Sorge um das Leben und das Leben ihrer Kinder. Wie viele Nächte arbeitete sie, wenn die Stunden des Tages nicht langten. O tränenreichste, schmerzensreichste Dulderin deines Geschlechts! Wie oft habe ich nichts sehnlicher gewünscht, um mit kindlicher Liebe all das zu vergelten, das du in namenloser Liebe an uns und an mir getan. Ach, wie zu oft habe ich gewünscht, alle deine um mich geweinten Tränen von den geliebten Wangen zu küssen oder sie in Tränen glücklichster Freude zu verwandeln. Heute, da in stiller Einsamkeit die Erinnerungen früherer Zei-ten besonders lebendig in der Seele werden, heute fasse ich den Kopf mit beiden Händen und frage mich verzweifelnd „Wie war es möglich, das ich dich vergessen konnte? Wie war es möglich, dass ich mithelfen konnte, die ewig währende Mutterliebe zu bezweifeln und zu leugnen; zu der selbst der Richter des „Scheiterhaufen“ und „der Vater“ mit heiligem Schauer zurückkehrte? Wie vielmehr ich, der Dich Mutter nennt? Wie immer sich auch der Begriff Pflicht, Recht, Liebe ändern mag, in deinem Leid, o Mutter, in deinem Schmerz bis du unerreicht gross, jetzt und in alle Ewigkeit. Dem ersten Buben, meinem ältesten Bruder, schenkte sie das Leben, als ihr Mann als preussischer Soldat vor Paris stand. Er wurde das getreueste Ebenbild des Vaters, wie er Soldat, Spieler und Trinker. Da er bereits dreissig Jahre alt war, als ich geboren wurde und nur selten zum Besuch bei uns weilte, hat er keinerlei Einfluss auf mein Leben ausgeübt. Seit mehr als zehn Jahren hat überhaupt jeder Verkehr zwischen uns aufgehört. Ihm folgte nur einige Jahre später meine Schwester, in der sich die Eigenschaften von Vater und Mutter mischten. Besass sie von Vater den unbeugsamen Willen und den frischen Unternehmungsgeist, dann von der Mutter die Kraft zu schwerer und dauernder Arbeit. Ihr Leben war noch dornenvoller als das der Mutter. Wegen ihrer Liebe von zu Hause verstoßen, heiratete sie einen Menschen, der nach wenigen Jahren sich in der Trunkenheit verlor. Nach der Scheidung behielt sie nicht viel mehr als ihre sechs oder sieben Kinder. Sie heiratete wieder, einen Witwer, ebenfalls mit mehreren Kindern und seit jener Zeit habe ich nie mehr etwas von ihr gehört. Der dritte Sprössling war wieder ein Bube, der 1882 geboren wurde. Er glich in allen Zügen der Mutter. Mit ihm war ich am läng-sten in Verbindung und wechsle heute mitunter noch Briefe. Trotzdem er später mein Vormund wurde, habe doch ich auf ihn den grösseren Einfluss ausgeübt als er auf mich und ihn sowohl der Partei wie der Gewerkschaft zugeführt. Mit seiner Geburt glaubte die damals zweiundvierzigjährige Frau ihre Pflicht als Mutter erfüllt zu haben. Eine besondere Freude wird die mit schwerer Arbeit überbürdete Frau nicht empfunden haben, als sie sich Anfang 1889 nochmals Mutter fühlte und Segenswünsche waren es sicher keine, mit dem der Vater das frohe Ereignis begrüsste. Am 14. August wurde ich geboren.

Die ersten Eindrücke

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Das erste Gefühl, das mich beherrschte und auf das ich mich heute noch erinnern kann, war bange Furcht. Der Ruf „Vater kommt“ erschreckte mich auf das tiefste und vor Angst wusste ich nicht, soll ich mich verstecken oder stehen bleiben. Soweit ich mich erinnere und so oft ich noch die gemeinsam mit ihm verlebten fünfzehn Jahre an mir vorüberziehen lasse, nicht auf ein liebevolles oder zärtliches Wort kann ich mich von ihm besinnen. Zum Glück war der Vater selten zu Hause, mitunter sah ich ihn wochenlang nicht, dann weilte er auf Jagden und Vergnügungsreisen. Damals bewohnten wir eine Etagenwohnung eines mittelgrossen Hauses in der damaligen Hauptstrasse von Erfurt. Rechts die Tür vom Hauseingang führte in den Laden, den die gute Mutter zu Ernährung der Familie betrieb, links die Tür in das Heiligtum, das wir Kinder nie oder nur selten betreten durften, in das Zimmer des Vaters. Es war das best eingerichtetste der ganzen Wohnung. Hinter dem Laden befand sich das Wohn- und daran anschliessend das Schlafzimmer. Die Küche und der Backraum waren hinter des Vaters Zimmer. Die Stuben waren niedrig und dunkel, das Haus schon alt. Das Töchterchen einer Nachbarfamilie, wie ich später erfuhr, des sozialdem. Reichstagsabgeordneten R. war meine erste Spiel-gefährtin, auf die ich mich erinnern kann. Besonders liebte ich die Spiele, wo ich predigen konnte – Hochzeits – Beerdigungs- u.s.w.. Ich bin, trotz Strindbergs “Damaskus“ und “Inferno“ zu viel Atheist um in all diesem den weisenden Finger einer höheren Macht oder des Schicksals zu sehen. Aber ein leises Gefühl stillen Glücks überfällt mich doch, wenn vor mir der dreijährige, kleine Knirbs mit dem ausgestopften Bauch und der Mutterschürtze auf dem Stuhle steht, um der nach grausamem (n) Schmerzenslager gestorbenen Puppe die Beerdigungsrede zu halten. Ja, damals. – Die treueste Pflegerin wurde mir, da die Mutter vor allzustrenger Arbeit keine Zeit fand, meine Schwester. Und das dürfte auch die Ursache sein, warum ich mich später in schmerzlichster Sehnsucht mehr nach einer Schwester sehnte, als nach der Mutter, um in dessen Schoss mein Haupt zu bergen und alles Leid und alle Schmerzen der Seele auszuweinen. Und namenlos glücklich fühlte ich mich, als mein Wunsch in Erfüllung ging und das beste Mädchen meine Kameradin, meine Freundin und meine Schwester wurde. Frühzeitig wurde alles getan, um mir die gleiche Begeisterung für das Soldatenleben zu erwecken, die die ganze Familie dafür hegte. Bleisoldaten, Festungen, Gewehr, Säbel, Trommel und dergleichen war mein erstes und einziges Spielzeug. Erst dreijährig, schickte mein älterer Bruder, der damals als Unteroffizier in Gotha weilte, mir eine Soldatenuniform. Mit diesem Kleid lief ich nun Tag für Tag durch die Strassen und die Familienmitglieder waren nicht wenig stolz, wenn das stramme Salutieren des kleinen Knirbses von den Soldaten und Polizisten lächelnd erwidert wurde. Am glücklichsten zeigt sich daron stets meine Mutter. Die arme Frau. Selbst das dreissigjährige Martyrium unter einem waschechten Soldaten und Krieger, wie es mein Vater war, mit all den scheusslichen Erniedrigungen, Leiden, Qualen und Misshandlungen, konnte bei ihr die Begeisterung für das bunte Tuch nicht schwächen. Alle ihre Buben, das war ausgemacht, mussten stramme Soldaten werden und wie der Aeltestes zwölf Jahre dienen. Auf dem Sterbebett war es ihr letzter Wunsch, den “Willy“ nochmals als Soldaten zu sehen“. Und so wurde ich angekleidet mit der Uniform, den Helm auf gesetzt und den Säbel umgeschnallt und an das Bett der Sterbenden gebracht. Die arme Mutter. Hätte sie geahnt, welche ganz andere Wege später ihr Jüngster zu gehen bestimmt war. Zu stark wurzelte das Vorurteil in ihrer Seele, zu mächtig wirkte die an der Mutterbrust begonnene Erziehung und die landesübliche Gewohnheit und eine fast klösterliche Abgeschlossenheit tut das seinige, um die Ideen und Anschauungen des Bauernmädchens zu konservieren. Nach der Mutter Tod wurde die Bäckerei aufgegeben, die Schwester verliess uns und der Vater, der damals 11 jährige Bruder H. und ich zogen in eine kleinere und bescheidenere Wohnung. Aber nicht lange. Mein Vater macht bald eine gute Partie und heiratete eine Witwe mit cirka 20.000 Mark Vermögen. Mit dem Geld erwarb er eine Gastwirtschaft in einem Dorf in der Nähe von Weimar. Die Stiefmutter war ein geistig etwas beschränktes Wesen und die Behandlung und Prügel, die sie gleich meiner Mutter von meinem Vater erhielt, trugen nicht dazu bei, ihre Intelligenz zu schärfen. Ihr fehlte jede Liebe zu dem Mann wie zu uns. Die Misshandlungen seitens des Mannes quittierte sie durch Lügen und kleine Intrigen und die magere Kost verbesserte sie durch Naschereien. Mit uns schimpfte sie den ganzen Tag, sodass wir schon nach kurzer Zeit sie nicht mehr ernst nahmen. Von einem Familienleben konnte jetzt noch weniger wie früher die Rede sein. Wenn ich heute, in den stillen und langen Nächten, die ich in einer Zelle der Polizeikaserene Zürichs, die mich immer an eine zur inneren Einkehr mahnende Klosterzelle erinnert- durchlebe und alle Stunden meiner frühesten Kindheit vor mir vorüberziehen lasse, dann kommt es mir immer deutlicher zum Bewußtsein, dass die Wurzeln meines Wesens, meiner Leidenschaft, meiner Symphatien und Antipathien, bis in diese entfernte Tage reichen. Der Eckel und Schreck gleichzeitig erregende betrunkene Gestalt meines Vaters flösste mir einen tiefen, unüberwindlichen Abscheu gegen alle alkoholischen Getränke ein. Und während meine Schulkameraden mir Kreisel, Peitsche und alle ihre Herrlichkeiten anboten, wenn ich ihnen heimlich zu einem Glas Bier oder einem Gläschen Likör verhalf, konnte ich bei besten Willen nie einen Schluck von diesem Zeug über die Lippen bringen. Aus gleicher Ursache verabscheute ich jedes Zeichen von Roheit und Brutalität. Der plötzliche Verlust zweier mich pflegender Frauen, meiner Mutter und Schwester, dem bald derjenige meines Bruders folgte, raubte mir jede Pflege des kindlichen Gemüts, jede tröstende Zärtlichkeit und helfende Liebe. Aber der Keim zu etwas weichem, zarten, liebreichen war gelegt und drängte immer und immer wieder zu einer Aeusserung. Je mehr und je länger ich jede zärtliche und liebevolle Pflege entbehren musste, immer grösser wuchs sie, immer schmerzlicher empfand ich jedes harte und böse Wort. Menschen hatte ich keine, die ich lieben konnte und die mich lieb-ten. Da flüchtete ich mich zu den Pflanzen und Tieren. Mit ihnen lebte ich, mit ihnen wuchs ich auf und ihnen liess ich die ganze Zärtlichkeit meiner Kindesseele angedeihen. Als ein Hund erschossen werden musste, den wir über 4 Jahre hatten, weinte ich tagelang und wollte mit ihm in die Grube. Damals war ich zehn Jahre alt. Das schrecklichste für mich war es, als ich als 13 Jähriger jungen Tauben die Köpfe abreissen sollte. Trotz allen Drohungen des Vaters konnte ich vor Weinen und Rührung seinen Befehlen nicht nachkommen. Wohl nahm ich die Taube in die Hand, aber ein Blick in ihre kleinen, flehenden Augen machte mich bis auf das innerste erschaudern. Ja, noch später, wo ich schon Mitglied der “revolutionären“ Schuldemokratie war, konnte mich eine Diskusssion so mitnehmen, dass ich Nächte lang weinte und und direkte Weinkrämpfe bekam. Geschlagen zu werden war für mich das schlimmste, fürchterlichste Unglück, das mich treffen konnte und ich war entschlossen, gleich dem Helden in meiner dramatischen Szene “Jung-Volk“, eher zu sterben als eine körperliche Züchtigung zu ertragen. Schlagen konnte ich nie. Diese fast mädchenhafte Weichheit ist mir umso unerklärlicher, als ich schon recht früh eine Masse Indianerbücher und Räubergeschichten lass, die doch sich nicht dazu angetan waren, diese Zartheit und Empfindlichkeit zu fördern. Heute noch kann das Leiden eines Anderen oder eine gewisse Naturstimmung, ja schon ein Bild oder ein Lied in meiner Seele die zartestes und weicheste Regung erwecken, die ich dann stammelnd in Verse auszudrücken suche. Der seit der frühesten Kindheit ungestillte Drang nach Liebe und zärtlicher Pflege lebt heute in unverminderter Stärke in mir und ist der stärkste Trieb, der mir die Feder in die Hand drückt. Auf die ersten Eindrücke in meiner Kindheit führe ich auch meine Antipathie gegen alles, was mit dem Militär in Zusammenhang steht, zurück. Für mich war jahrelang ein Soldat und ein betrunkener Raufbold ein und dasselbe. Ich hatte zu Hause einen zu guten Anschauungsunterricht genossen. In jedem uniformierten Menschen sah ich etwas von einem Henker. Durch das Studium wissenschaftlicher Untersuchungen, hauptsächlich einer Menge volkswirtschaftlicher Leh-ren, trat später an Stelle der gefühlsmässigen Abneigung gegen das Militärwesen mehr die bewußte Wertschätzung über die Rolle des Militärs im heutigen Staat. Trotzdem befürchte ich, dass, vielleicht unbewußt, auch heute noch die aus den ersten Eindrücken resultierte gefühlsmässige Antipathie nachwirkt. Kein Buch und keine Lehre und auch kein Resultat wissenschaftlicher Forschung wirkt ja so nachhaltig und tief auf uns, wie gefühlsmässig erworbene Eindrücke persönlichen Erlebens. Diese Erkenntnis ist es auch gewesen, die mich in den letzten Jahren auf eine Aende-rung der Unterrichtsmethode in der sozialistischen Bildungsarbeit drängen liess. An Stelle des toten Unterrichts abstrakter und theoretischer Begriffe sollte mehr und mehr die Erwerbung sozia-listischer Erkenntnisse auf dem Wege gefühlsmässiger eigener Er-lebnisse der zu Bildenden geschehen. Das, was heute zufällig geschieht, muss zu einer Lehrmethode ausgebaut werden. Ich verhele mir nicht die imanenten Schwierigkeiten, die einer völligen Lösung dieses Problems harren, aber es muss gelöst werden, soll die sozialistische Bewegung mehr als Parteisache, zu einer wirklichen Volks- und Kulturbewegung werden. Recht früh äusserte sich bei mir der Drang zu organisieren. Als Vierjähriger liebte ich neben dem “predigen“ nichts so sehr als das Organisieren der gespielten Hochzeiten, Feste etc. Ich verteilte die Rollen, stellte die Mitspielenden auf, bezeichnete den Weg, baute den Altar und so weiter. Später arrangierte ich Indianer- und Räuberspiele oder auch Theaterszenen. Als 12 jähriger führte ich ohne Auftrag und Weisung eine vaterländische Feier durch, an dem das halbe Dorf und die gesamte Jugend teilnahm. Und noch bevor ich mit der sozialistischen Arbeiterbewegung in Berührung kam, betätigte ich mich an der Gründung von Theaters und Fussballklubs. Woher dieser Drang kommt, kann ich mir freilich nicht erklären. Am schlimmsten hatte ich unter dem Furchtgefühl zu leiden, das sich von Jahr zu Jahr steigerte. Vor allem wurde die Angst vor dem Vater riesengross. Während ich in der frühesten Kindheit mich nur vor seinen harten und bösen Worten und vor den Schlä-gen fürchtete, hatte die immerwährende Drohung mit dem “Aufschiessen“ es soweit gebracht, dass ich schon als 8 jähriger, meinem Vater zutraute, mich zu ermorden. Diese Angst wuchs ins Unermessliche, als er in jener Zeit meinen Bruder zu erschiessen versuchte, der, mit Hemd und Hosen bekleidet, sich nur durch einen Sprung aus dem ersten Stock unseres Hauses retten konnte. Heute presst es mir noch die Kehle zusammen, wenn ich daran denke, wie ich als 8 jähriger vor jedem Einschlafen betete “Lieber Gott, mach, dass mein Vater mich nicht totschiesst.“ – Das Lesen einer Menge Indianerbücher, Räuber- und Gespenstergeschichten verkleinerten natürlich diese Furcht nicht und übertrugen sie nur noch auf andere Erscheinungen. Ich fürchtete mich vor dem Blitz, dem Donner, der Dunkelheit, vor hundert eingebildeten Gestalten, die meine gereizte Phantasie schuf, vor etwas grossem Unbekannten, vor dem Schicksal, vor Gott. Es hat lange, lange gedauert bis ich diese Furcht überwun-den hatte und ich jauchzend und durch ein inneres Kraftgefühl glücklich, in dunkelster Nacht durch die schwersten Gewitter wan-derte. Bei allem qualvollem, das mir die Angst bereitete, verdanke ich ihr doch viel. Aus Angst habe ich, bevor ich die moralische und sittliche Kraft kannte, das Schlechte gemieden und das Gute getan. Zu den nützlichen Eigenschaften, die ich der Kindheit verdanke, gehört ein stark entwickeltes Selbstständigkeitsgefühl. Das kommt wohl daher, dass sich nach dem Tod meiner Mutter eigentlich Niemand mehr um mich bekümmerte. Niemand beaufsichtigte oder half mir bei meinen Schulaufgaben, erkundigte sich nach meinem Wohlergehen, Niemand nahm sich meiner an. Hatte ich etwas getan oder nicht getan, was des Vaters Zorn reizte, bekam ich eine gute Portion Prügel und ging, wie stets, weiter meine eigene Wege. Ich glaube nicht an ein das Leben bestimmendes Schicksal und noch weniger an eine göttliche Vorsehung, wenn ich aber meine ersten Lebensjahre zergliedere und analysiere, komme ich doch zu der Ueberzeugung, das die mitunter unbewußt empfangenen Eindrücke und vor allem die der frühesten Jugend einen starken Einfluss auf unser Gefühls- und Seelenleben ausüben und so doch indirekt unser Leben mitbestimmen.

Die Schulzeit.

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Meine Schulbildung wurde durch einen häufigen Wohnungs-wechsel der Familie sehr erschwert. Im ganzen besuchte ich an acht Orten, meistens kleinen Bauerndörfern, die Schule. Der dort gebotene Unterricht war mehr als dürftig. Die Hauptsache war Religion und dieser Unterricht beschränkte sich auf das Auswendiglernen von Bibelsprüchen und Gesangbuchversen. In der Geographie kam man über das Herzogtum Gotha nicht hinaus. Die ganze Jämmerlichkeit der sonst so hoch gelobten deutschen Volksschule wird recht treffend durch folgenden Vorfall gezeichnet, der sich in einem Dorf in der Nähe unserers Wohnortes zutrug. In einer Gemeindeversammlung stellte der Lehrer den Antrag, eine Karte von Europa anzuschaffen. Da steht ein biederes Bäuerlein auf und sagt “Wozu brauchen wir eine Karte von Europa, dorthin kommt doch keiner von uns!“ Meine schwächsten Seiten in der Schule waren Singen, Schönschreiben und Turnen. In diesen drei Fächern wurde ich nie Meister, während ich im Rechnen, im Aufsatz, in Geschichte etc. stets eine gute Note errang. Eine besonders qualvolle Zeit war es für mich, als der Vater plötzlich den Einfall bekommt, ich müsse Klavierspielen lernen. Jedenfalls versprach er sich durch etwas Musik in der Wirtschaft einen besseren Besuch, das Unglück aber war, dass ich absolut kein Talent und noch weniger Lust zum Musiker hatte. Dazu kam die Pferdekur meines Vaters, um mir dieses beide fehlende beizu-bringen. Mitunter musste ich 6. 7 und noch mehr Stunden am Kla-vier sitzen und ohne Pause spielen. Diese Tortur wurde dadurch nicht angenehmer, das ich begreiflicherweise im Anfang nur weni-ge Accorde spielen konnte. Ueber ein Jahr dauerte die Qual. Ich hatte es soweit gebracht, das Lied, “Guter Mond du gehst so stille“ – spielen zu können. Wieder musste ich eines Tages mehrere Stunden ununterbrochen spielen ohne Aussicht, erlöst zu werden. Der Vater hockte wie gewöhnlich berauscht auf seinem Stuhl. Im Vertrauen auf den Rausch erwiderte ich, als er frug, was ich spiele, den “Torgauer Marsch“. Das war sein Lieblingsstück und ich hoffte damit los zu kommen. Sei es aber nun, dass er nicht genügend berauscht war und die Töne noch unterscheiden konnte oder war ihm der Marsch so bekannt, dass er ihn auch im ärgsten Rausch unterscheiden konnte, auf alle Fälle erkannte er meine Lüge. Die Folge war ein Mordslärm, eine tüchtige Tracht Prügel. Im Eifer hieb er mit der Kette, die diesmal zur Züchtigung diente, in der eine damals noch üblichen Petroleumlampen, die dabei in Scher-ben ging. Eine neue Ursache, die Prügelei fortzusetzen: “Wegen Dir Lump muss ich eine neue Lampe kaufen“, rief er aus und Schlag folgte auf Schlag. Schliesslich holte er einen Strick, einen guten, neuen Strick, und forderte mich auf, mich aufzuhängen. Wenn ich am andern Tag noch lebte, würde er mich totschlagen. Ich nahm den Strick und ging nach dem Boden mit festem Vorsatz, dem Verlangen nachzukommen. Denn nie wäre es mir eingefallen, den Befehlen meines Vaters zu trotzen oder mich zu widersetzen.Freudige Gefühle freilich waren es keine, die mich bewegten. Ich dachte an den Schulausflug der bald sein sollte, und verschiedene Gespiele und Kameraden, an meinen Bruder und ganz zart und schwach noch an die verstorbene Mutter und die ersten Kindheits-tage und schlief dabei mit dem Strick in der Hand ein. So fand mich meine Stiefmutter und damit endeten meine musikalischen Studien. Eine besondere Quälerei war für mich auch die Beschaffung der nötigen Lehr- und Lernbücher. Derselbe Mann, der tausende für Jagden und seine Leidenschaften ausgab, liess mich mehrmals um 10 Pfenning für ein Schreibheft bitten und machte den grössten Skandal, bevor er sie gab. Darunter litt ich schrecklich. Ebenso unter den zerrissenen Kleidern und zu grossen Schuhen, mit denen ich zur Schule musste. Ich war oft das Gespött der übrigen Kinder. Ein alter Rock des Vaters, der mir fast bis auf die Schuhe reichte, trug mit den Spitznamen “Schwenko“ ein. Vor der Konfirmation fieberte ich geradezu und dachte an Selbstmord, da ich keinen Anzug und keinen Kragen bekommen sollte. Schliess-lich legte ich einen Kragen meines Vaters an, der mindest 55 cm hatte, während mein Hals höchstens 35 war. Ich half mir, indem ich in die Mitte des Kragens ein Loch schnitt und den Kragen ander-thalbmal um den Hals legte. Was litt ich nicht allein an diesem Tag. Vor Scham drohte ich zu ersticken. Unzählig sind die Leiden, denen ich als Kind ausgesetzt war. Mitten in der Nacht, wenn der letzte Gast die Wirtschaft verlassen, weckte mich mein Vater und zwang mich, nur mit dem Hemd bekleidet, die Gläser und Flaschen zu putzen. Er war betrunken und konnte nicht unterscheiden, ob ein Glas geputzt oder ungeputzt war und so musste ich Gläser vier, fünf und noch mehrmals reinigen. Ein Glück, wenn er so betrunken war, dass er bald einschlief, dann stahl ich mich leise davon, zurück in das Bett und weinte bitterlich. Ich war noch nicht zehn Jahre, da weihte mich der Betrunkene mit den schmutzigsten Zoten in die Geheimnisse des Ehelebens ein und führte in meinem Beisein die eindeutigsten Griffe an dem Körper meiner Stiefmutter aus. Das Blut schoss mir in die Wangen und ich verbarg den glühenden Kopf hinter einem Zeitungsblatt. Er riss es weg, ein echter Wirtssohn muss alles wissen und du bist alt genug dafür“, schrie er dazu. Selbst wenn der Lehrer und Pfarrer als Gäste daweilten scheute er sich nicht, die dreckigsten Zoten zum Besten zu geben. Und nur die dringlichsten Vorstellungen dieser Männer brachten in soweit, dass ich dann das Zimmer verlassen durfte. Von allen zehn Geboten schien mir zuerst das vierte für unwahr und unrichtig. Wie konnte ich einen Vater ehren und lieben, der sich schlimmer und schmutziger als ein Tier benahm? Hier setzten zuerst meine Zweifel an der Richtigkeit der göttlichen Ge-bote und Gesetze ein. Als Zehnjähriger musste ich mitunter schon selbstständig die Wirtschaft leiten. Der Vater war auf der Jagd und die Stief-mutter klatschte in der Nachbarschaft. Ich bediente die Gäste, spielte mit ihnen Karten und politisierte wie ein Alter. Die Berichte über die Reichstagsverhandlungen war mir das erste, was ich regelmässig las und verfolgte. Und damals erregte der Burenkrieg alle Gemüter auf das heftigste. Ich war Feuer und Flamme für die Buren und verteidigte sie in der Wirtschaft genau so tapfer wie in der Schule gegen die Kameraden. Ich fraternisierte direkt und erfand selbst Geschichten, um den Mut und die Tapferkeit der Buren im hellsten und herrlichsten Licht erstrahlen zu lassen. Ja, ich traf sogar Vorbereitungen auszuwandern und ihnen zu helfen. Deshalb schnitt ich das Futter meines Rockes auf und füllte diesen mit Proviant. Das wurde entdeckt bevor ich ab-reisen konnte und die Folge war natürlich eine tüchtige Tracht Prügel, umso mehr, als ich nicht die schlechteste Wurst gewählt hatte. Meiner Begeisterung für die Buren tat das aber keine Einbusse. Wie früher, so summte ich auch danach noch während des ganzen Tages “Die dreifarbige Fahne für s Transvaaler-Land, auf Buren beschützt sie Gwehr in der Hand.“ Eine ähnliche grosse Begeisterung erlebte ich erst 1905 wieder und zwar für die russische Revolution. Damals kaufte ich mir eine Schrotpistole für 2,50 Mark und wollte allen Ernstes nach Petersburg, den Zaren töten. Meine Freunde hatten nicht wenig Mühe, mich von dem verrückten Gedanken abzubringen. Ein Lichtschimmer in das tägliche Grau meiner Kindheit schaffte mir die Freundschaft mit einem gleichalterigen Schulkameraden, dem Sohn begüterter Bauern. Bei ihm brachte ich jede Stunde freie Zeit zu. Wir fuhren auf das Land, trieben uns im Stall und in der Scheune herum, rauften, spielten, assen Beeren und Aepfel, wenn sie reif waren, mitunter auch schon vorher. Am liebsten aber zogen wie auf die Jagd, bewaffnet mit Pfeil und Bogen. Ein toter Rabe oder eine andere Tierleiche, die wir fandenm, wurden als stolze Trophäen des Jagdzuges heimgebracht. Einmal erschreckte uns eine Hase, der jäh aufsprang, fast bis zum Tode. “Das war kein richtiger Hase, das war ein wilder Hase“ – versuchten wir unsere Angst zu entschuldigen. – Ich war noch nicht 13 jahre, da hatte der Vater nicht nur den Verdienst der vielen Jahre und die erheirateten 20000 Mark verlumpt, sondern auch noch obendrein Schulden gemacht. Die Familie war gezwungen, die Wirtschaft aufzugeben. Der Vater zog in die Stadt zur Miete. Jetzt begann die traurigste Zeit meiner Kindheit. Arbeiten konnte der Vater nicht, hatte es nie gelernt und so lebte die Familie von dem Verdienst der Stiefmutter, den diese als Waschfrau verdiente und das war kläglich genug. Die entbehrlichsten Möbelstücke wurden gerichtlich beschlagnahmt und zwangsweise verkauft. ich wagte nicht mehr mich satt zu essen und würgte an den wenigen Bisse, die ich mir zu nehmen getraute. Dazu kam, dass ich nun, das letzte Jahr in die Stadtschule musste, wo ich mit meiner sechsjährigen Dorfschulbildung gerade keine beineidenswerte Rolle spielte. Ich gab mir redlich Mühe, nachzukommen und einigermassen zu folgen und bis zu einem gewissen Grad ist mir das auch gelungen. Dieses letzte Schuljahr gehörte zu jenen, in welchem ich am meisten profitierte. Aber eine Szene bleibt mir unvergesslich. Wir hatten Religions-stunde, plötzlich krachte ein Schuss. Alles horcht auf, wer ist das gewesen? Der Lehrer ist wütend. Niemand meldet sich. Jeder Einzelne wird streng und aufs Gewissen gefragt. Niemand bekennt. Es beginnt eine peinliche Untersuchung. Bei mir wird eine Pistole, aber kein Pulverblättchen gefunden. Der Lehrer brüllt mich an, “Gestehe, Du bis es gewesen“. Der Wahrheit entsprechend sage ich nein. Da meldet sich ein Schüler und erzählt, dass ich noch gestern Pulverblättchen gehabt hätte, ich gebe das zu, sage aber, dass ich diese gestern alle beim Spiel verbraucht. Der Lehrer glaubt das nicht. Ich muss mich überlegen und der Lehrer haut los. “Gestehst Du nun, bist du es gewesen“ – frägt er nach einer Pause. “Nein“, schrie ich. Er prügelte weiter. “Bist Du es gewesen?“ – Nein. “Gestehe oder ich schlage eine halbe Stunde“. – Ich war es nicht. Der Lehrer lässt von mir ab. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, eine halbe Stunde Prügel zu bekommen, aber um keinen Preis in der Welt hätte ich etwas zugegeben, was ich nicht getan hatte. Der Lehrer war sonst gerecht und ich kam gut mit ihm aus. Verdienter war eine Züchtigung, die ich bei einer anderen Gelegenheit erhielt. Das Schreiben war immer noch mein Steckenpferd und fast täglich mussten wir Aufsätze zu Hause schreiben. Jeden Tag kam dann der oder jener daran, seinen Aufsatz vorzu-lesen. Bei dieser Gelegenheit verstand ich es vortrefflich, mich klein zu machen und kam nie daran. Das Glück machte mich kühn. Ich schrieb nie mehr einen Aufsatz. Da, eines Tages, brach das Verhängnis über mich herein. “Aufsatzhefte vor“ M. lese deinen vor“. Das war leichter verlangt als getan. Zum Glück hatte ich Geistesgegenwart genug und erzählte, die Augen auf das Heft gerichtet, frech eine Geschichte. Der Lehrer schwieg und schon glaubte ich mich gerettet. Da plötzlich “Münzenberg bring mir mal dein Buch vor“. Die Schandtat wurde entdeckt und die Strafe folgte der Sünde auf dem Fusse. Uebrigens war das Jahr unter den gereiften und erfahrernen Stadtburschen von heilsamen Einfluss auf meine Schüchternheit. Wenn ich sie auch nicht völlig verlor, so wurde sie doch stark gemildert. Ein um so grösserer Nachteil waren für mich die Unmenge Indianer- und Räuberhefte, deren Inhalt ich geradezu verschlang. Ausser hunderten von Indianerbüchern hatte ich 100 Hefte Buffalo Bill, 100 Hefte “Räuberhauptmann Fetzer“, 100 Hefte “Der Königsmord in Belgrad“, 100 Hefte “Lebendig begraben“ und eine Masse ähnlichen Schund gelesen. Ueberhaupt war ich in den letzten Schuljahren und in den ersten Jahren nach der Schulentlassung direkt wie versessen auf das Lesen. Ich las alles was mir in die Hände kam, und schleppte alles, was ich gedrucktes fand, nach Hause. Alte Fahrpläne, Kataloge, Schulbücher, Kalender, Zeitungen, Indianerhefte, wissenschaftliche Bücher, von denen ich keinen Deut verstand, alles, alles wurde zusammen-gefasst. Vor meinem Vater verbarg ich die Schätze geschickt, meine Stiefmutter tobte und prophezeite mir, das mich das Zeug an den Galgen bringe. Die unwahren, abenteuerlichen Geschichten raubten mir jeden Sinn für die Wirklichkeit. Nachts lag ich wach und träumte vor allen möglichen Heldentaten und wünschte mir nichts sehnlichster, als ein Haus voll Bücher. In den glühendsten Farben malte sich meine Phantasie die damit möglichen Genüsse aus. Die Frage meines Vaters, was ich nun werden wollte, traf mich ein kalter Wasserstrahl. Daran hatte ich freilich nie gedacht. Lesen, das war mein einziger Wunsch, sonst wusste ich nichts und verlangte nichts. Der Vater enthob mich weiteren Sorgen und be-stimmte, das ich Coiffeur werden sollte. Mir war es recht, weil mir alles gleich war.

In der Lehre

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Eine Lehrstelle hatte mein Vater bei einem Bekannten bald gefunden. Der Meister glich meinem Vater fast aufs Haar und zwar nicht körperlich, auch in seinem Wesen und Betragen. Wie mein Vater, so trank der Meister, wenn auch nicht gar so viel und war genau wie mein Vater ein alter Zünftler und Erzreaktionär, für den die Erinnerungen an das Soldatenleben der einzige Stolz war, der sich in der dümmsten und lächerlichsten Weise äusserte. Das Geschäft ging gut und ausser dem Meister und mir waren zwei Gehilfen und ein weiterer Lehrling beschäftigt. Die ersten Tage gefielen mir nicht übel und ich beschloss zu bleiben. Mein Vater hatte unterdessen das Glück noch einmal versucht und ohne Geld und Kapital eine Wirtschaft gepachtet. Bei dem Einzug fehlte es ihm an dem Notwendigsten. Das Bier schickte die Brauerei auf Borg, und ein mitleidiger Kaufmann lieh die wichtigsten Lebensmittel. Ohne eine Mark Geld in der Tasche wurde die Wirtschaft übernommen. Wie gesagt, an Unternehmungsgeist fehlte es dem Alten nicht. Wir hatten es abgelehnt, dass ich bei dem Meister Wohnung nehme und so maschierte ich alle Morgen den halbstündigen Weg nach der Stadt und am Abend zurück. Das war aber für mich ein Genuss und machte mir Spass. In der Lehre gefiel es mir aber je länger, je weniger. Vor allem eckelte mich die Unsauberkeit an. Das Frühstück und der Nachmittagskaffee wurden in einer Ecke des Ladens genommen, wo Haararbeiten verrichtet wurden. Die Fett- oder Butterbrote mussten dann immer erst von Haaren gesäubert werden. Auch die Liebdienerei gegen die Kunden, das dienen und bücken behagte mir nicht. Der Meister war nervös und zumal bei starkem Besuch, meistens Samstags, gereizt. Der Laden war mit Kunden überfüllt und Meister und Gehülfen hatten alle Hände voll zu tun, der Meister bis zum äussersten geladen. Ich bemühte mich, so wenig zu stören wie nur möglich und zu helfen, wo ich nur konnte. Oeffnete die Türe, bot den Kunden Feuer an, räumte auf u.s.w. Aber bei aller Geschäftigkeit konnte ich ein gewisses Unbehagen nicht los werden, ich fühlte mich eigentlich recht überflüssig in dem Betrieb. Da schreit mich plötzlich der Meister an: “Geh heim, dummer Junge, wenn du nicht anderes kannst als Maulaffen feil halten“. Ich froh, auf eine so billige Art loszukommen, nahm flugs meinen Hut und verschwand, ohne grossen Abschied zu nehmen. Aber ich hatte noch nicht die rettende Haustüre erreicht, packt mich der Meister am Kragen “Was, das könnte Dir so passen. Dein alter Meister schuftet sich so tot und Du drückst dich. Hier bleibst Du“. Mit diesen Worten warf er mich in die Ecke, das mir alle Knochen knakten. Gehorsam blieb ich auf dem Stuhl wie festgenagelt sitzen und denke darüber nach, wie schwer doch eigentlich das Leben ist. Da befiehlt mir der Meister, ich soll heimgehen, ich beeile mich, seinem Befehl nachzukommen und nun – – – Meine Grübeleien werden vom Meister unterbrochen, der mich stürmisch empor reisst und mit den Wort “Du fauler Hund, willst Du nicht arbeiten“- nach vorn stösst und einige Ohrfeigen runter haut. Das Leben erscheint mir immer verwickelter und schwerer. Wie mans macht, ist es verkehrt. Die Arbeitszeit dauerte von morgens 6 bis abends ½ 9 Uhr, ohne Pause. Am Samstag bis 10 Uhr. Am schwersten fiel mir die Sonntagsarbeit, wo ich von 7. – 1 Uhr arbeiten musste. O, wie so gern wäre ich mit anderen Kameraden durch Feld und Wald gestreift und hätte so gern an ihren Wanderungen teilgenommen. Mir war es todestraurig zu Mute und ich weinte mitunter bitterlich. Und trotzdem hätte ich die Lehre durchgehalten, wenn wir nicht einen neuen Gehilfen bekommen hätten. Sein Vorgänger war freundlich zu mir und unterwies mich spielend in vielen Handgriffen unseres Berufes. Der Neue war jung, kaum ausgelernt und bildete sich wunder was ein, das er nun Stifte unter sich habe. Sein Benehmen forderte unsern Trotz heraus und den wollte er mit Schimpfereien und Schlägen bezwingen. Schlagen wollte ich mich aber auf keinen Fall mehr lassen, wir wurden handgemein und da er der bedeutend stärkere, unterlag ich stets. Er scheute vor keiner noch so rohen Handlung zurück. Das Zimmer war niedrig, vielleicht 2½ m. hoch, er nahm mich, stemmte mich gegen die Decke, dass der Kopf krachend gegen die Decke schlug. Dann wieder nahm er einen Stein und schlug mich damit auf den Kopf. Die Folge davon war eine Gehirnerschütterung und man brachte mich schleunigst ins Spital, die Aerzte zweifelten an meinem Aufkommen. Und ich überstand es doch. Am Tage meiner Entlassung bereitete mich der Arzt auf die schonenste Weise darauf vor, dass mein Vater – den ich nie vermisste – nicht mehr lebe. Am gleichen Tag, als ich in das Spital gebracht wurde, hatte er sich vollständig berauscht, erschossen. Ein anderer Ausweg war ihm nicht mehr geblieben. Der Bruder kam, um die Wirtschaft bis zum Konkurs, der uns das Letzte rauben sollte, zu leiten. Mir war die Lust am Coiffeurberuf gründlich vergangen und obendrein fehlten jetzt auch die Mittel, um das Lehrgeld zu zahlen. Ich blieb einige Zeit bei meinem Bruder in der Wirtschaft, ging dann auf Anraten meiner Schwester, die nach dem Tode des Vaters uns wieder besuchte, in eine Schuhfabrik. Damit begann eine neue Phase meines Lebens. Eine ganz neue, unbekannte Welt tat sich vor mir auf. Die letzte Verbindung mit der Familie war ge-löst. Ich stand allein, nur auf mich angewiesen aber nun allein auch Herr über mein Tun und Lassen. Damals zählte fünfzehn Jahre.

In der Fabrik

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Es war eine der grössten Fabriken am Orte, in die ich eintrat, sie beschäftige mehr als fünfzehnhundert Arbeiter. Ich wurde in der Zwickerei als Leistensortierer angestellt, d. h. ich musste mit einem kastenähnlichen Karren von einem Arbeiter zum anderen fahren und die nicht mehr nötigen Leisten sammeln, nach Regalen bringen und dort in bestimmte Fächer sortieren. Am ersten Tag war ich von dem Lärm und Kreischen der Maschinen, von dem Klopfen und Pochen der Hämmer und von den vielen Stimmen wie betäubt. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass ich mich jemals in diesem Betrieb zurecht finden könnte. Ich hatte tatsächlich im-mer Angst, mich zu verirren. Und es dauerte mehrere Tage bis ich mich einigermassen an den Lärm gewöhnt hatte. Die gleiche Arbeit wie ich verrichteten noch zehn gleichaltrige Burschen, das wurden nun meine Freunde. Mit ihnen sass ich zusammen während dem Frühstück, Mittag & Vesperbrot. Mit ihnen ging ich nach Hause und brachte später die Abende zu. Ihr Verkehr half mir dann auch am meisten, die Schüchternheit und die Angst, die ich noch nach Wochen in der Fabrik vor dem ungewohnten Leben und Treiben empfand, zu überwinden. Die älteren Arbeiter behandelten die jüngeren, mit wenigen Ausnahmen, grob und brutal. Die meisten verkehrten nicht anders als mit Schimpfwörter mit ihnen und manche misshandelten und warfen mit Leisten, Schuhen und anderen Gegenstände. Die Arbeit war nicht schwer, der Lohn im Anfang 4,50 Mark. Das war wenig, sehr wenig. 2 Mark musste ich pro Woche für Logis und Morgenkaffee zahlen, blieben mir noch 2,50 Mark für Nahrung, Kleidung und alle weiteren Ausgaben. Da hiess es sparen, wo dies möglich war. Am Morgen nahm ich etwas Kaffee & Brot, am Mittag leistete ich mir ein Stückchen Wurst dazu. Für 20 Pfennig Abfallwurst reicht mitunter für zwei Tage. Das gleiche Menü am Abend. Von einem Bedürfnis nach geistiger Nahrung hatte ich damals zum Glück noch keine Ahnung, sonst hätte ich jene Jahre wohl kaum überlebt. Die ersten Jahre in der Fabrik verbringe ich wie in einem Dämmerzustand, ein Tag reiht sich in gleicher Eintönigkeit und im gleichen Grau an den anderen. Am Morgen haste ich in Gemeinschaft mit vielen hunderten nach der Fabrik, am Abend müde nach Hause. Nie kommt mir der Gedanke, ja, ich glaube, sogar nie der Wunsch, dass es anders sein könnte, einmal anders werden. Ich sehe weder Frühling, Sommer, Herbst, noch Winter, weder grüne Bäume, noch welkes Laub, höre kein Vogelsang, geschweige Musik oder Konzert. Ich bin gefühls- und empfindungslos gleich den Maschinen geworden, die in der Fabrik sausen und und stampfen. Meine Welt ist mein Arbeitsplatz. Mein Einkommen vergrösserte sich etwas dadurch, dass ich für die Arbeiter Frühstück einkaufen gehe, dafür erhalte ich pro Woche 10 oder 15 Pfennig. Mitunter brachte ich es auf über 20 Kunden, die ich bedienen durfte. Der Lohn stieg langsam und erst nach mehreren Jahren hatte ich es auf 8 Mark gebracht. In Deutschland besteht der obligatorische Fortbildungsunterricht, den jeder Lehrling und junge Arbeiter bis zum 18. Lebensjahr be-suchen muss. Es wird etwas Rechnen, Schreiben, Buchhaltung und Vaterlandskunde gelehrt. Der Unterricht wir zwei Mal in der Woche nach der Arbeitszeit erteilt. Ich habe dabei wie wohl alle anderen Schüler auch, herzlich wenig gelernt. Wir waren zum lernen zu müde und bemühten uns, den Lehrer zu verulken. Die Abende brachte ich mit meinen Arbeitskollegen zu. Wenn wir nicht Räuberhefte lasen, trieben wir uns in den Strassen herum und trieben lauter Dummheiten. Eine Zeit lang standen wir im Banne ein Schundromanes über die Freimauerer. Wir trafen Vorbereitungen, eine ähnliche geheimnisvolle Gesellschaft zu gründen, hockten in der finstersten Nacht in dunkeln Ecken und Abflusskanälen, zeichneten Totköpfe auf Arm und Brust, beschlos-sen Blutbrüderschaft zu trinken. Der Plan scheiterte, da wir kein passendes Getränk fanden, mit dem wir unser Blut trinken konnten. Bier und Limonade war uns doch zu prosaisch und für Wein hatten wir kein Geld. Auch trieben wir uns oft und gern in den Anlagen herum und erschreckten die Leute und belauschten und störten die Liebespäärchen. Ein nicht geringer Schreck fuhr mir anlässlich einer solchen Razzia durch die Glieder als ich im dichtesten Gebüsch auf eine Dirne stiess, die dort ihr horizontales Gewerbe betrieb und ihr Liebhaber, erbost über die Störung, mir drohte “das Messer in den Bauch zu stecken“. Einen Heidenspass machte es uns stets, Streichhölzer zu spitzen, diese zwischen den Druckknopf des elektrischen Läute-werkes in den Bordells zu stecken. Das Hölzchen wurde abgebrochen und dann läutete die Glocke zum Aerger der Einwohner und der Nachbarschaft stundenlang. Mehrmals besuchten wir auch die Versammlungen des christlichen Vereines junger Männer und die Veranstaltung eines vaterländischen Knabenhortes. Wir waren aber für diese frömmelde Unterhaltung zu gereift oder zu verdorben, wenn man will. Wir ärgerten den Lehrer und den Pfarrer und brachten Unruhe und stellten das ganze Programm in Frage. Teils blieben wir dann freiwillig weg, teils warf man uns hinaus. Da versuchten wir es mit der Heilsarmee, die in jenen Tagen ihr erstes Lokal eröffnet hatte. Dort sein ein Gaudium, versicherten mir meine Freunde und ich ging mit. Ich gestehe, dass mich die Gesänge und Gebete anfangs andächtig stimmten und mir recht beklommen zu Mute war. Das dauerte aber nicht lange. Als ich sah, wie die Betenden die schnödesten Witze unter den Bänken rissen und dort den Mädchen in die Beine kniffen, war es mit meiner Andacht vorüber. Es dauerte nicht lange, bis man uns auch da hinauswarf. Wir beschlossen jetzt, selbst einen Verein zu gründen. Ich wurde Präsident. Was wir eigentlich wollten, wusste keiner. Fidel und lustig sollte es zugehen. Wir spielten Karten, der Gewinn kam in die gemeinsame Kasse und wurde alle vier Wochen in Leberwurst und Bier angelegt. Daraus entwickelte sich dann ein Fußballklub. Eine Zeit lang hatten wir für nichts mehr Sinn als für das Fussballspielen. Dann wollte einer noch etwas lustigeres wie die Heilsarmee entdeckt haben, einen Verein, der sich “Propaganda“ nannte. Ein Name, den ich nie gehört hatte und den auszusprechen mir im An-fang viel Mühe machte. Dabei muss ich bemerken, das ich sehr schwer sprechen gelernt hab und bis zum zwölften Jahre stotterte. Ich vermutete hinter dem Namen etwas fremdes, geheimnisvolles und wir beschlossen, zu gehen, um Spass zu haben. Ich ahnte nicht, welche entscheidende Rolle der Verein in meinem Leben spielen sollte. Heute weiss ich, dass ich damals in der kritischen Phase meines Lebens stand, und das sich damals, unbewusst wie fast immer, sich mein Lebensschicksal entschied. So wechselreich auch später mein Leben wurde und so wechselreich es gerade heute zu werden droht, und so grosse und mein Wesen mitbestimmende Einflüsse auch in späteren Jahren auf mich einstürmten, im Verhältnis zu der damaligen Entscheidung sind sie unbedeutend und untergeordneter Natur. Unbewusst und ahnungslos kam ich durch das Aufsuchen des Vereins “Propaganda“mit jenem Sturm in Berührung, der stark genug war auf dem vollständig unvorbereiteten Boden später doch geistiges und seelisches Leben zu erwecken. Je älter wir wurden, umso weniger wollten wir uns damit begnügen, die Frauen zu ärgern und andere zu ihnen gehen zu sehen. Immer stärker wurde in uns der Drang, den geheimnisvollen Schleier zu lüften und jene Herrlichkeiten zu kosten, von den die ältern Arbeiter schwärmten und erzählten. Dazu kam das Leben in der Fabrik. Der Betrieb der Schuhfabrik bringt es mit sich, dass Frauen & Mädchen mit Männern und Burschen in einem Saal arbeiten. Die unzüchtigsten Reden wurden dann tagsüber gewechselt und die Witze waren schon nicht mehr derb, sondern zynisch, frech und gemein. Und die Frauen zahlten mit gleicher Münze und im gleichen Jargon heim, wie sie von den Männern behandelt wurden. Die Keuschen galten als Dummköpfe & Schwächlinge. Für uns Jugendlich war die Situation noch dadurch gefahrvoller, dass wir nach dem Gesetz das Frühstück und Vesperbrot ausserhalb es Arbeitsraumes einnehmen mussten. Bei schönem Wetter sassen wir im Strassengraben, bei schlechtem Wetter mussten wir uns in den Keller flüchten, wo stets ein gefährliches Halbdunkel herrschte. Mädchen und Burschen waren zusammen. Das musste natürlich die reine Treibhaustemperatur für geschlechtliche Reize geben und das Herumzerren und Pressen nahm dann auch kein Ende. Mit 17 Jahren, die meisten schon früher, hatte jeder seinen “Schatz“. Das heisst ein Mädchen, mit dem er von der Fabrik heimging, der er Samstags ein Stück Chocolade kaufte und am Sonntag in den Kino zu führen, um dann am Abend recht lange bei ihr in der Haustüre zu stehen und als Entgelt für das Gebotene sie zu küssen, zu pressen und wenn möglich, zu gebrauchen. Dieses Leben und Treiben ist so stark eingewurzelt, dass Jeder, der daran nicht teilnehmen will oder kann, als ein armer, bedauernswerter Kranker betrachtet und behandelt wird. Und die so leben, sind nicht einmal die niedrig stehensten. An eine Szene erinnere ich mich dabei jetzt, die ich bald nach meinem Eintritt in die Fabrik erlebte und über die dabei sich äussernde weibliche Roheit ich heute noch staune. Es war an einem Herbstag Abend, obschon nicht allzu spät, doch schon dunkel, als ich für den Meister einen Weg in einen anderen Saal besorgen sollte, dabei musste ich an dem Raum vorüber, wo die Leder- und Lumpenabfälle lagerten. Daraus hört ich ein ängstliches Wimmern, ich trat näher und sah, wie vier oder fünf ältere Mädchen einem 14 jährigen Burschen unter gellendem Lachen an dem Geschlechtsteil zerrten und rissen. – Natürlich stand nicht alle auf dieser Stufe, es gab wohl auch Ausnahmen, doch waren diese selten, sehr selten. Bis dahin, bis zu meiner Bekanntschaft mit dem Verein “Propagangda“ hatte mich ein gütiges Geschick vor dem Aeussersten bewahrt. Natürlich keine moralischen oder sittlichen Ewägungen, die waren mir so fremd wie böhmische Dörfer. Viel-leicht das Fehlen der Gelegenheit und die Erschwerung durch meine geringen Mittel, die mir nur kostenlose Vergnügen erlaubten. Dazu (auch) hat sich auch meine kleine, verhungerte Gestalt keine besonders grosse Anziehungskraft auf die Mädchen ausge-übt. Aber darüber bin ich mir heute klar, dass es so lange nicht mehr gegangen wäre. Ein Glück, hätte ich als satter Arbeiterspiesser geendet, aber bei meinem Temperament und meiner Leidenschaft dürfte es kaum glimpflich abgegangen sein.In diese kritischen Tage fällt meine erste Bekanntschaft mit dem Arbeiterbildungsverein “Propaganda“ und dadurch mit der sozialistischen Arbeiterbewegung.

Die erste Zeit in der Bewegung

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Nach langerm Zögern und Zauderbn fassten wir, unserer vier oder fünf, endlich Mut und machten uns auf, den geheimnisvollen Verein “Propaganda“ zu besuchen. Aber am ersten Abend gelangten wir nur bis in die Wirtschaft, in deren oberen Räumen der Verein seine Versammlungen abhielt, dort sassen wir, klopften Karten und musterten scheu die Besucher, die nach dem oberen Saal stiegen. Nachzufolgen fehlte uns der Mut und wir kehrten unverrichteter Sache nach Hause zurück. Zum zweiten-mal, einige Wochen später, begleitete mich nur ein Kollege, den andern war die Lust vergangen. Diesmal nahm sich ein älterer Genosse, jedenfalls durch den Wirt aufmerksam gemacht, unserer an und wir folgten ihm nach oben. Dort waren zirka 15 bis 20 junge Männer im Alter von 23 – 35 Jahren versammelt, wir waren also bei weitem die Jüngsten. Die meisten waren Metall- und Schuhfabrikarbeiter. Was an jenem Abend ging und besprochen wurde, ist mir vollständig unklar geblieben. Als in heimging wusste ich vom Wesen und den Aufgaben des Vereins genau so viel, als vorher. Zwei oder drei weitere Besuche brachten mich ebenfalls nicht weiter, da verleidete auch mir die Sache und ich beschloss, wie der zu meinen alten Kameraden zurückzukehren. Da wurde ich krank und musste vier Wochen von der Arbeit fernbleiben. Während dieser Zeit besuchte mich mehrmals ein Mitglied des Vereins, brachte mir Bücher und Broschüren und wir plauderten. Jetzt war mein Interesse geweckt und sobald ich das Zimmer verlassen durfte, suchte ich die Genossen wieder auf und versäumte fernerhin keine Versammlung. Bald war mir nun auch der Zweck des Vereins klar. Der ungeheure wirtschaftliche Auf-stieg Deutschlands in den neunziger Jahren, der in überraschend kurzer Zeit Deutschland zu einem der ersten Industriestaaten und der Weltmächte der Erde machte, hatte eine nach Millionen zähl-ende Arbeiterschaft geschaffen. Die Fesseln des Sozialistengesetzes waren gefallen und die sozialdemokratischen Organisationen schossen wie Pilze nach einem warmen Regen aus der Er-de. Die Partei eilte von Erfolg zu Erfolg und errang in den Städten, an den Landtagen und im Reichstag Mandat um Mandat, die Stimmen ihrer Wähler zählte schon bei der Wahl 1903 nach Millionen. Diese Riesenerfolge verblüfften und die Sozialdemokratie, bis jetzt nur eine Partei der Kritik und der Negation, sah sich plötzlich vor die Aufgabe praktischer Mitarbeit gestellt. Bald wurde in der politischen Tagesarbeit und durch die Gegenwartsforderungen das grosse Endziel, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel vergessen. Der Partei strömten eine Masse bürger-licher Elemente zu, hoffend, durch die schnell erstarkende Macht der Partei Amt und Einfluss zu gewinnen. Der Boden für den Revisionismus war vorbereitet und um die Wende des Jahrhunderts setzte dessen Propaganda kräftig ein. Der Gegenwartser-folg ist alles, der Glauben an eine proletarische Revolution roman-tische Hirngespinnste, das war die Losung. Da kam die russische Revolution und krachte wie ein Schlag ins [Auslassung in der Abschrift ](ins Kontor? ins Gesicht? ). Der Riesenstreik Millionen unorganisierter, die Eroberung Moskaus, die Meutereien der Schwarzseeflotte u. s. w. Die revisionistischen Ideen des westeuropäischen Proletariats verhinderten, dass dieses sich zu einer Solidaritätsaktion erhob und so der volle Sieg der russischen Arbeiter möglich machte. Dank der Ruhe der westeuropäischen Arbeiter eilte das französische Kapital dem bedrängten Zarismus zu Hilfe und Wilhelm II. stellte an der russischen Grenze Soldaten bereit, um, wenn nötig, mit Kriegsmacht dem bedrängtem Vetter auf dem Zarentron zur Hilfe zu eilen. So wurde die russische Revolution geschlagen. Aber ganz ohne Wirkung auf die Arbeiterbewegung Westeu-ropas sollte die russische Revolution doch nicht bleiben. Die radikalen und revolutionären Elemente wurden kräftig gestärkt und die Jüngsten unter ihnen in einen Taumel revolutionärer Begeisterung versetzt. Die Rosa Luxenburg, Karl Liebnecht, Mehring und andere machten Vorstoss um Vorstoss. forderten die Erziehung der Massen zu Massenstreiks und Massenkämpfen, die antimilitaristische Propaganda, Steigerung der sozialistische Bildungsarbeit u.s.w. in zahlreichen Städten gründeten sich Bildungsvereine, sowie Diskussionsklubs, wo sich die jüngste, lebendigsten und tatenlustigsten Arbeiter versammelten, um die Waffen zu schmieden, die sie im Kampfe gegen den bürgerlichen Gegner und gegen Revisionisten in der eigenen Partei benötigten. Eine solche Vereinigung war nun auch der Bildungsverein “Propaganda“ dessen jüngstes Mitglied. Die unverfänglichen Namen Bildungsvereine wurden gewählt, um der polizeilichen Anmeldung und Aufsicht zu entgehen. Nach dem alten preussischen Vereinsgesetz (aufgehoben 1907 durch das Reichsvereinsgesetz) musste jeder politische und gewerkschaftliche Verein seine Mitgliederliste und seine Statuten einreichen und alle Versammlungen waren polizeilich überwacht. Personen unter 18 Jahren durften keinem politischen Verein angehören. Natürlich wurde in unserem Verein, wie in allen ähnlichen, fast nur über politische und sozialistische Probleme gesprochen. Jedes Mitglied musste einmal einen Vortrag halten und darüber wurde dann diskutiert. War einmal ein Referent verhindert zu kommen oder zu sprechen, so wurde über irgend eine Frage diskutiert oder aus einem Buch vorgelesen. Das zwang zum Nachdenken und nahm gleichzeitig die Scheu vor einem grösseren Kreis Menschen seine Gedanken zu entwickeln. So war das Leben im Verein, als ich Mitglied wurde. Eine neue Erscheinung der Arbeiterbewegung um die Wende des Jahrhunderts war auch das Aufkommen von Jugendorganisationen. Vereine, die jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen im Alter von 14-20 Jahren zusammen fassten, um sie gegen die wirtschaftliche Ausbeutung zu schützen, sie auf Wanderungen zu führen, sie allgemein im speziellen sozialistisch zu bilden. Belgien und Holland besassen die ersten derartigen Organisationen. 1904 wurde der erste “Lehrlingsverein“ Deutschlands in Berlin und fast zu gleicher Zeit ein ähnlicher Verein in Mannheim gegründet. In unglaublich kurzer Zeit folgte die Gründung einer Menge Zweigvereine in vielen Städten Deutschlands. Auch auf diese junge Bewegung waren die heldenmütigen Kämpfe der sozialistischen Revolutionäre von förderlichstem Einfluss. 1906 fand in Stuttgart der erste internationale Kongress der sozialistischen Jugendorganisationen statt, der der ganzen Bewegung das Programm geben sollte. Die holländische Genossin Roland-Host sprach über die Bildungsaufgaben der sozialistischen Jugend und legte ihr Referat in Thesen nieder, die heute noch im Wesentlichsten als Richtschnur der Bildungsarbeit in den Jugendorganisationen dienen. Nach einem Referat des Gen. Müller, Wien, wurden internationale Forderungen für den wirtschaftlichen Schutz der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter aufgestellt. Liebknecht, der den Kongress als Präsident leitete, sprach über “Militarismus und Antimilitarismus“. Das Referat trug ihm später 1½ Jahr Zuchthaus ein. Es wurde beschlossen, eine feste internationale Organisation unter dem Namen “internationale Verbindung sozialistischer Jugendorganisationen“ zu gründen. Die deutschen Vereine traten wegen dem vorsintflutigen Vereinsgesetz nicht bei. Da die süddeutschen Staaten bis 1907 kein Vereinsgesetz kannten, schlossen sich die in Deutschland existierenden Vereine jugendlicher Arbeiter zu zwei grösseren Verbänden zusammen, “den Verband jugendlicher Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands“ mit Sitz in Berlin. Dieser Verband zählt 1907 bereits 6000 Mitglieder und gab eine monatlich er-scheinende Zeitung “Die arbeitende Jugend“ aus. Die Vereine be-zeichneten sich als ausdrücklich politisch neutral, sonst hätten sie natürlich überhaupt nicht existieren können. Ebenfalls schlossen sich die süddeutschen Vereine zu einem Verband mit Sitz in Mannheim zusammen. Diese Vereine aber, nicht gehindert durch ein Vereinsgesetz, bezeichneten sich als so-zialistische Jugendvereine und in diesem Sinne war auch ihr Organ “Die junge Garde“ gehalten, deren Redakteur der damals noch jugendliche und stark revolutionäre Dr. Ludwig Frank war. Unser Bildungsverein “Propaganda“ stand nur mit Mannheim, natürlich in geheimen, in Verbindung. Wir bezogen regelmässig eine bestimmte Anzahl “Junge Garde“ und es macht mir die grösste Freude, diese unter der Hand weiter zu verkaufen. Ueberhaupt war ich wie von einem Propagandafieber überfallen und liess nicht nach, bis fast der letzte jugendliche Arbeiter meines Arbeitssaales sich als Mitglied unseres Vereins meldete und an unseren Versammlungen teilnahm. Einige Monate nach meinem Eintritt dominierte das jüngere Element und die über 20 jährigen waren in den Hintergrund gedrängt.

(Text: Vermutlich Willi (Wilhelm) Münzenberg März 1918? November 1918- Münzenberg im Schweizer Zuchthaus ist 29 Jahre alt) Das Dokument hat 9.742 Zeichen

Das ganze Dokument (mit Umschlagtexten) hat 10.013 Zeichen

Der Text muss mit einer Maschine geschrieben worden sein, die über keine Grossbuchstaben der Umlaute verfügte. Das habe ich so gelassen. Fehler habe ich nicht korrigiert, vielleicht ist es mir stattdessen gelungen, einige Fehler neu in dem Text unterzubringen.

(Der namentlich nicht genannte Abschreiber 2019)

Der Text ist eine Abschrift einer Veröffentlichung des Verlag Detlev Auvermann KG, Glashütten im Taunus 1972. Es handelt sich um eine Schreibmaschinenabschrift, die in einem Überformat (Nicht DIN A 4- 210 mm x 297 mm, sondern 339 mm x 206 mm) gedruckt wurde. Der Umschlag wurde ebenfalls auf Karton bedruckt.

U1: mit folgendem Text:

Dieses aus den Akten der schweizerischen Untersuchungsbehörden stammende Schriftstück befindet sich unter der Signatur P 23914 Nr. 524.24 im Staatsarchiv des kantons Zürich. Der junge Willi Münzenberg verfaßte diese biographische Skizze, die seinen Weg zum Kommunismus bis zum Eintritt in den Erfurter sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein (1906) nachzeichnet, entweder während seiner ersten Inhaftierung in der Polizeikaserne Zürich, Ende November 1917 bis März 1918, oder während seiner zweiten Zuchthaushaft, die vom Mai 1918 bis zu seiner Ausweisung aus der Schweiz am 10. November 1918 dauerte.

Willi Münzenberg Lebenslauf

Wir danken dem Staatsarchiv des Kantons Zürich für die Erlaubnis zu Veröffentlichung und dem Schweizerischen Sozialarchiv für die Vermittlung des Textes, den wir in er erhaltenen Form reproduzieren.

Der Text ist paginiert und hat im Original 29 Seiten (einseitig bedruckt)

Der Umschlag U 2 ist mit folgendem Text bedruckt:

1889 14. August, wird M. in Erfurt als Sohn eines Dorfgastwirtes geboren. Er besucht unregelmäßig die Dorfschulen in Frimar, Eberstädt und Gotha.

1904- 1910 ist M. Arbeiter in einer Erfurter Schuhfabrik

1906 tritt M. in den sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein “Propaganda“ ein und übernimmt eine Jahr später dessen Vorsitz.

1910-1913 ist M. Hausbursche in einer Zürcher Apotheke. Er wird Mitglied in dem von Fritz Brupbacher geleiteten Jungburschenverein.

1912 Ende Juli wird M. Mitglied des Zentralvorstandes der sozialistischen Jugendorganisation der Schweiz und übernimmt die Redaktionder antirevisionistischen Monatsschrift “Die freie Jugend“.

1914 während des Krieges konsequenter Internationalist, gerät M. bald unter den Einfluß Lenins.

1916 nimmt M. an der Internationalen Sozialistischen Konferenz in Kienthal (24. – 30 . April) teil.

1917 am 19. November, wird M. in Zürich verhaftet und

1918 im März, gegen Kaution freigelassen, jedoch im Mai als Mitorganisator eines Generalstreiks in Zürich ins Zuchthaus geworfen. In seiner im Mai 1918 ausgelieferten Broschüre “Kampf und Sieg der Bolschewiki“ bekennt M. sich zur Oktoberrevolution. Er wird am 10. November aus der Schweiz ausgewiesen und übersiedelt nach Stuttgart, wo er sich der Spartakusgruppe anschließt.

1904- 1910 ist M. Arbeiter in einer Erfurter Schuhfabrik

1906 tritt M. in den sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein “Propaganda“ ein und übernimmt eine Jahr später dessen Vorsitz.

1910-1913 ist M. Hausbursche in einer Zürcher Apotheke. Er wird Mitglied in dem von Fritz Brupbacher geleiteten Jungburschenverein.

1912 Ende Juli wird M. Mitglied des Zentralvorstandes der sozialistischen Jugendorganisation der Schweiz und übernimmt die Redaktionder antirevisionistischen Monatsschrift “Die freie Jugend“.

1914 während des Krieges konsequenter Internationalist, gerät M. bald unter den Einfluß Lenins.

1916 nimmt M. an der Internationalen Sozialistischen Konferenz in Kienthal (24. – 30 . April) teil.

1917 am 19. November, wird M. in Zürich verhaftet und

1918 im März, gegen Kaution freigelassen, jedoch im Mai als Mitorganisator eines Generalstreiks in Zürich ins Zuchthaus geworfen. In seiner im Mai 1918 ausgelieferten Broschüre “Kampf und Sieg der Bolschewiki“ bekennt M. sich zur Oktoberrevolution. Er wird am 10. November aus der Schweiz ausgewiesen und übersiedelt nach Stuttgart, wo er sich der Spartakusgruppe anschließt.

1919 von Januar bis Juni, wird M in der Festung Ulm, sodann im Gefängnis Rothenburg (Neckar) eingekerkert. In der Novemberrevolution versucht M. die Arbeit des Internationalen Jugendsekretariats weiterzuführen. Er referiert auf dem Gründungskongreß der Kommunistische Jugendinternationale in Berlin (20.- 26. November 1919) und wird in deren Exekutivkomitee gewählt.

1920 nimmt M. als Vorsitzender der Jugendinternationale in Moskau am II. Weltkongress der Komintern teil. Ein Jahr später, auf dem II. Kongreß der Jugendinternationale wird er von Sinowjew abgesetzt.

1921 am 12. August, gründet M. im Auftrage Lenins die Internationale Arbeiterhilfe für die Hungernden in Rußland, die sich in den kommenden Jahren unter M. als Generalsekretär ihrer Auslandskomitees zur größten proletarischen Hilfsorganisation entwickelt.

1924 – 1933 ist M. ununterbrochen Reichstagsabgeordneter der KPD; auf dem XI. Parteitag 1927 wird er ins ZK berufen; 1931/32 gehört er der “ultralinken“ Remmle-Neumann Gruppe an. In diesem Jahren baut M. den berühmten “Münzenberg Konzern“ auf. 1924 wird er Inhaber desNeuen deutschen Verlages, welcher die Zeitungen “Welt am Abend“, “Berlin am Morgen“, “Arbeiter- Illustrierte Zeitung“, die Zeitschrift “Roter Aufbau“ und die “Universum Bibliothek“ herausgibt, sowie das Filmunternehmen “Meshrabpom“ gründet.

1933 emigriert M. nach Paris, wo er die Arbeit der Internationalen Arbeiterhilfe fortführt. Er wird einer der Leiter des neugegründeten Welthilfskomitees für die Opfer des deutschen Faschismus und Mitbegründer der “Deutschen Freiheitsbibliothek“. Zum progandandistischen Kampf gegen Hitler gründet er wieder Verlage und Zeitungen und gibt u.a. das“Braunbuch über den Reichstagsbrand“ heraus.

Umschlag Seite 3 (U 3)

1936 wird M. nach Moskau vor die Internationale Kontrollkommission geladen; er wird“wegen Verbreitung parteiinter Information auf Beschluß des Politbüros und der Leitung (Walter) Ulbrichts gerügt, erreicht aber, das er wieder nach Paris zurückkehren kann.

1937 gerät M. als einer der Initiatoren der Volksfront in verschärften Widerspruch zur Komintern und KPD-Führung; die mehrfache Aufforderung, nach Moskau zu kommen, ignoriert er.

1938 am 22. März, wird er (M.) aus dem ZK, am 6. März 1939 aus der KPD ausgeschlossen. M. wendet sich in der

1939/40 von ihm herausgegebenen Zeitung “Die Zukunft“ gegen den Stalin-Hitler Pakt und gründet 1939 in Paris die Organisation “Freunde der Sozialistischen Einheit Deutschlands“.

1940 im Mai, wird M. im Lager Chambaran bei Lyon interniert. Während die Armee im Juni 1940 auf Lyon vorrückt, flieht M. zusammen mit drei Deutschen. Ende Oktober wird seine stark verweste Leiche im Wald von Caugnet aufgefunden. Münzenbergs Lebengefährtin Babette Gross schreibt in ihrem Buch: Willi Münzenberg. Eine politische Biographie (Stuttgart 1967), ein Selbstmord scheint ausgeschlossen,“der Verdacht, daß Münzenberg Opfer eines politischen Anschlages geworden ist, scheint mit nahezuliegen. Wer die Mörder gewesen sein könnten, ist nur zu vermuten.“ (Babette Gross)

Willi Münzenberg

Charles Péguy über Das Geld (1913)

Charles Péguy über das Geld (1913)

„Sie hatten noch nicht diesen bewundernswerten Mechanismus des modernen Streiks erfunden, der die Gehälter immer um ein Drittel steigen lässt, während sich der Preis des Lebens um die Hälfte erhöht und das Elend als Differenz herauskommt.“ (Aus: Charles Péguy, Das Geld, 1913, zitiert nach Das Geld, Verlag Matthes & Seitz Verlag Berlin. Seite 62).

Fotos Jens Meyer

Über Zeitschriften (1913) Cahiers de la Quinzaine (erste Nummer erschienen am 5. Januar 1900)

„Eine Zeitschrift lebt immer nur dann, wenn sie in jeder Nummer ein gutes Fünftel ihrer Abonnenten verärgert. Die Ausgewogenheit besteht darin, dass es nicht immer dieselben sind, die sich in diesem Fünftel befinden. Im anderen Fall, das heisst, wenn man sich befleißigt, niemanden zu verärgern, verfällt man in das System der großen Zeitschriften, die Millionen gewinnen oder verlieren, aber nichts sagen. Oder besser: weil sie nichts sagen.“ (Charles Péguy, Das Geld, Verlag Matthes & Seitz Berlin, Seite 101 – 102).

Über Revolution

Es gibt (mindestens zwei) verschiedene Übersetzungen des Zitates von Charles Péguy:

1) „Die Revolution zu machen heisst auch, Dinge an ihren Platz zu stellen, die sehr alt aber vergessen sind.“ (Charles Péguy)

2) „Revolution bedeutet, sehr alten und vergessenen Dingen ihren Platz zurückzugeben.“ (Charles Péguy) (zitiert nach Jean-Marie Straub).

Die Suchmaschine übersetzt zurück:

1)“Faire la révolution, c’est aussi mettre à leur place des choses très anciennes    mais oubliées. „

2) „La révolution signifie redonner des choses à des choses très anciennes et oubliées.

über Reiche:

„Wenn er nicht ein Genie ist, kann ein Reicher sich nicht vorstellen, was das ist: Armut. Diesem Mangel entspringt jene Geistesschwäche, die wir bei den meisten Reichen wahrnehmen. Aus dieser standesmäßigen Schwäche heraus verkennen sie die Bitterkeit des Geschehens und die Härte der Menschen. Sie sind einmal so und bleiben meistens Tröpfe, Kindsköpfe, Laue . . . Selbst der begabteste Mensch der Welt hat, solange es ihm nie an Brot gefehlt, keine Ahnung von den Kreisen, die wir kennen.“ (Charles Péguy in S. VI seines Vorwortes zu Jean Coste, 12. Cahiers der 2. Serie, 13. Juni 1901), zitiert nach Romain Rolland >Charles Péguy< Zürich 1951, Büchergilde Gutenberg. Seite 504.

über Konservatismus:

„Wer nicht gegen den Konservatismus ist, ist für ihn. Einer Revolution stehen alle Neutralen und alle Gleichgültigen entgegen. Der Konservatismus hat auf seiner Seite alle Neutralen und alle Gleichgültigen . . .“ (zitiert nach Roman Rolland >Charles Péguy< Seite 504.)

über die Cahiers de la Quinzaine:

„Dire la vérité, toute la verité, rien que la vérité, dire bête, ennuyeusement la vérité ennuyeuse, tristement la vérité triste – “ (Charles Péguy)

„Die Wahrheit sagen, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit, die dumme Wahrheit dumm sagen, die langweilige Wahrheit langweilig, die traurige Wahrheit traurig.“ (Charles Péguy)

(Zitiert nach: Charles Péguy, Das Geld, erschienen bei Matthes & Seitz Berlin, 2017, übersetzt aus dem Französischen von Alexander Pschera). (abgeschrieben auf Seite 12) ISBN 978-3-95757-317-9