In Erinnerung an Renate Holland Moritz (II) Interview mit Andreas Kurtz

Renate Holland-Moritz (R.H.M.) schreibt seit 50 Jahren in der Satire-Zeitschrift Eulenspiegel ihre Filmkritiken. Sie waren zu DDR-Zeiten Kult: Die Kinoeule. Interview mit Andreas Kurtz (A.K.)

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Zur Person: Renate Holland-Moritz (R.H.M.) wurde in Berlin-Wedding geboren, wuchs aber in Südthüringen auf. Nach nicht abgeschlossenem Oberschulbesuch begann sie als Volontärin und Assistentin bei verschiedenen Berliner Tageszeitungen. Seit 1956 ist sie freiberufliche Mitarbeiterin der Satirezeitschrift „Eulenspiegel“. Seit 1960 veröffentlicht sie dort unter dem Titel „Kino-Eule“ Filmkritiken. Sie hat eine Vielzahl satirischer Erzählungen im „Eulenspiegel“ und in Büchern veröffentlicht, von denen zwei vom DDR-Fernsehen und der Defa auch verfilmt wurden.

(A.K.): Vor fünfzig Jahren erschien im Satiremagazin Eulenspiegel zum ersten Mal die Autorenzeile Renate Holland-Moritz. Wie kam es dazu? (R.H.M.): Die Phase des Ausprobierens hatte ich damals mit einundzwanzig schon hinter mir. Das war wie Heimkehr. Das war genau der Ort, an den ich wollte, ohne begründete Hoffnung, dass die Eulen-Leute auch mich wollten. Ich hätte denen von mir aus nichts angeboten. A.K Wer hat Sie dazu angestiftet? (R.H.M.) Mein väterlicher Freund Rudolf Hirsch, der legendäre Gerichtsreporter der Wochenpost. Der war dabei, als ich am Stammtisch der Gerichtsreporter erzählte, wie ich dauernd mit anderen jungen Mädchen verwechselt wurde und dadurch in die peinlichsten Situationen geriet. „Schreib das auf!“ sagte er, und nachdem er meine allererste Geschichte „Ich habe ein Dutzendgesicht“ gelesen hatte, wollte er, dass ich sie dem Eulenspiegel schicke. Eigentlich habe ich mich immer wie ein Preuße benommen, der Befehle ausführt. Es mussten nur Befehlsgeber sein, die ich mochte und ernst nehmen konnte. (A.K.) Sind Sie es noch? (R.H.M.) Ich werde immer preußischer. Zum Beispiel bei Lieferterminen. Mittlerweile ist für mich pünktlich, wenn ich überpünktlich liefere, ein oder zwei Tage vorher. Es wird schlimmer. Im Alter verschärfen sich eben alle Wesenszüge. Besonders die unangenehmen. (A.K.) Das mit den Gerichtsreportagen war ein Umweg? (R.H.M.) Gewissermaßen. Ich hatte im Schweinsgalopp eine zweijährige Lehrzeit in verschiedenen Ost-Berliner Redaktionen durchlaufen. Das fing bei der Vierteljahreszeitschrift „Sowjetwissenschaft“ an. Also, da war ich so was von falsch! Ich konnte ja noch nicht einmal ordentlich russisch. Dann kam ich in die Monatszeitschrift „Neue Gesellschaft“, danach in die „Friedenspost“ und von dort zur „BZ am Abend“, heute der Berliner Kurier. Aus der „BZ am Abend“ bin ich rausgeschmissen worden. (A.K.) Wie kam es dazu? (R.H.M.) Der stellvertretende Chefredakteur war hinter mir her. Aber der war mir hochgradig unsympathisch. Als er mitkriegte, dass ich einen anderen Kollegen favorisierte, hat er mich fristlos entlassen. Wegen unmoralischen Verhaltens. Eine typische Nummer aus den 1950er- Jahren: Verhältnisse am Arbeitsplatz waren unerwünscht, und das Verdikt traf immer die Frau. (A.K.) Hat Sie das aus der Bahn geworfen? (R.H.M.) Nee. Ich kannte ja genügend Leute in anderen Redaktionen, die alle sagten: Kommste eben zu uns. Sobald sie aber meine Kaderakte gelesen hatten, gab es plötzlich keine Vakanz mehr. Ich war 19 und habe keine Festanstellung mehr gekriegt. Musste also zusehen, wie ich mich freiberuflich durchschlage. (A.K.) So gerieten Sie unter die Gerichtsreporter? (R.H.M.) Genau. Rudolf Hirsch sagte: „Schreib Gerichtsberichte, das kann nämlich jeder. Aber sag’s nicht weiter.“ Später fand er, ich sei bei den Satirikern doch besser aufgehoben. (A.K.) Hat nie wieder eine Festanstellung gelockt? (R.H.M.) Im Eulenspiegel musste ich mal zwei Jahre als Humor-Redakteurin arbeiten, weil mein Freund John Stave gekündigt hatte. Erst wollte ich nicht, weil die ja schon um acht Uhr anfingen. Um die Zeit kann ich noch nicht klar denken. Also bin ich so gegen zehne, elfe eingetrudelt. Nach einem Riesenkrach mit Chefredakteur Peter Nelken kam ich dann pünktlich, hängte allerdings ein „Bitte nicht stören“-Schild an die Türklinke und packte mich erst mal für zwei Stündchen auf die Couch. Da hatte der Chef ein Einsehen und ließ mich zu Hause ausschlafen, zumal ich die gesamte Post in der S-Bahn zwischen Grünau und Friedrichstraße erledigte. Nelken sagte immer: „Ich bezahle meine Leute nicht für ihren Hintern, sondern für geleistete Arbeit.“ (A.K.) Haben Sie eigentlich jemals ihre Kaderakte zu Gesicht bekommen? (R.H.M.) Beim Eulenspiegel hatten wir eine Kader-Instrukteurin, eine ungeheuer nette, junge Frau. Wir haben immer mal in ihrem Zimmer zusammengesessen und Kaffee getrunken. Eines Tages stand der Safe offen, und ich fragte: „Was sind denn da für furchtbar geheime Dinger drin?“ – Darauf sie: „Zum Beispiel die Kaderakten. Willste mal in deine reinschauen?“(A.K.) Sie wollten natürlich? (R.H.M.) Na klar! Und ich fand die Aktennotiz von diesem stellvertretenden Chefredakteur der BZA, in der stand, meine fristlose Entlassung erfolge wegen politischer Unreife und zweifelhafter Moral. Die zweifelhafte Moral hat mich nicht um weitere Festanstellungen gebracht, nur die politische Unreife! Mit solchen denunziatorischen Eintragungen konnte man einem Menschen die Zukunft versauen. Mir ist es allerdings zum Segen ausgeschlagen. (A.K.) Ihre Klatschgeschichten, die 1986 unter dem Titel „Die tote Else – Ein wahrhaftiges Klatschbuch“ erschienen, sind eine geschickt getarnte Autobiografie. Wie kam es dazu? (R.H.M.) 1974 hatte ich eine Einladung von der Reichsbahn in West-Berlin zu einer Lesung. Ich habe mich natürlich wahnsinnig gefreut. Den Pass dafür durfte ich mir im Büro des Schriftstellerverbandes abholen. Ein paar Wochen später kriegte ich wieder eine Einladung zur West-Berliner Reichsbahn. Als ich mir erneut den Pass abholte, kam ich mit der zuständigen Kollegin ins Gespräch. Sie sagte, sie habe den schönsten Posten im ganzen Schriftstellerverband, denn zu ihr kämen nur gut gelaunte Leute. Wegen der bevorstehenden Westreisen. (A.K.) Kamen denn viele? (R.H.M.) Mehr und mehr, behauptete die Verbands-Kollegin. Dann gab sie mir den Tipp mit dem Vierteljahresvisum. Für den Antrag brauchte ich nur eine halbwegs glaubwürdige Recherche-Idee. Nach einem Blick in meine Unterlagen sagte sie: „Mensch, du bist ja in West-Berlin geboren! Für eine Autobiografie musst du an Ort und Stelle nach deinen Wurzeln suchen!“ (A.K.) Damals waren Sie noch nicht einmal 40. Bisschen früh für eine Autobiografie, oder? (R.H.M.) Das war auch mein Einwand. Den ließ sie aber nicht gelten: „Mit dem Suchen kann man gar nicht früh genug anfangen!“ So kam ich zu meinem ersten Vierteljahresvisum. Ab 1975 durfte ich dann auch jedes Jahr zur Berlinale. Klatsch galt in der DDR als besonders unappetitliche Erscheinungsform der bürgerlichen Publizistik. (A.K.) Wieso durften Sie trotzdem ein Klatschbuch schreiben? (R.H.M.) Erzählt habe ich Klatschgeschichten ja schon immer. Und irgendwann sagte Wolfgang Sellin, der damalige Chef vom Eulenspiegel-Buchverlag: „Du solltest das langsam mal aufschreiben! Damit man sagen kann: Steht auf Seite soundso, hast du schon erzählt!“ (A.K.) In diesen Geschichten geht es vordergründig immer um nationale und internationale Prominente. (A.K.) Wie viele Klatschbücher haben sich verkauft? (R.H.M.) In zwei Jahren erschienen drei Auflagen mit jeweils 20 000 Exemplaren. So schnell konnte man gar nicht gucken, wie die weg waren. Aber dann war die DDR weg und vorübergehend auch das Interesse an hausgemachten Büchern. Als es wieder erwachte, druckte der Eulenspiegel Verlag die Fortsetzung „Die tote Else lebt“, wovon es bereits die 4. Auflage gibt. (A.K.) Verkauften sich zu DDR-Zeiten alle Ihre Bücher so schnell? (R.H.M.) Ich hatte da mal ein Schockerlebnis. „Die Eule im Kino“, meine allererste Sammlung von Filmkritiken aus den Jahren 1960 bis 1980, stand drei Wochen in den Regalen der Buchhandlungen. Ich hatte das Gefühl: Nun ist alles vorbei! Eines meiner Bücher oberhalb des Ladentisches heißt: Kein Mensch will mehr etwas von mir wissen! Inzwischen gibt es „Die Eule im Kino“ Band I und Band II (1980-1990) nur noch antiquarisch, während Band III (1991-2005) im Handel ist. (A.K.) Warum durften Sie sich in der DDR mehr als andere Filmkritiker erlauben? Weil Sie bei einem Satireblatt waren? (R.H.M.) Das war nur am Anfang so. Da hat man gesagt, Satire braucht eine etwas längere Leine, sonst funktioniert sie nicht. Dann hatte dieser entsetzliche Joachim Herrmann als SED-Agitationschef den Ehrgeiz, aus Fernsehen und Defa eine Firma zu machen, die er zu leiten gedachte. Das wiederum hat SED-Kulturchef Kurt Hager nicht zugelassen, denn für ihn, den hochgebildeten Zyniker, war Joachim Herrmann ein indiskutabler Emporkömmling. Von da an war es dem Herrmann egal, wie mit der Defa in den Medien umgegangen wurde, folglich waren auch die Kritiken schärfer. (A.K.) Heutzutage gibt es Pressevorführungen, wenn neue Filme herauskommen. Wie war das damals? (R.H.M.) Da gab es die natürlich auch, und nach den Vorführungen der Defa-Filme zusätzlich Pressekonferenzen, bei denen sich die Schöpfer den Fragen und nicht seltenen Zornesausbrüchen der Kritiker stellen mussten. Da wurde wirklich mit harten Bandagen gearbeitet. Am meisten gefürchtet waren übrigens meine Kolleginnen Rosemarie Rehahn von der Wochenpost und Margit Voß vom Berliner Rundfunk. Die eine kämpfte mit dem Florett, die andere mit dem Degen, während ich die Dampframme bevorzugte. (A.K.) Stimmt es, dass ein Regisseur Ihnen mal Prügel angedroht hat? (R.H.M.) Ja, aber den Namen sage ich nicht. Schließlich lebt der Mann noch. Für welche Filmkritik? (R.H.M.) Das weiß ich nicht mehr. Aber seine Filme habe ich alle verrissen. Er konnte also zuschlagen, wann immer er wollte, er hätte immer recht gehabt. Dankenswerterweise verzichtete er darauf. (A.K.) In den 1960ern hat für anderthalb Jahre jemand anderes die Kino-Eule geschrieben. Warum? (R.H.M.) Weil ich einen Riesenknatsch mit der Redaktion hatte und ungeheuer stur war. So entkam ich der auch für Filmkritiker entsetzlichen Zeit des 11. ZK-Plenums, dem fast eine ganze Jahresproduktion der Defa zum Opfer fiel. Und ich hätte ohne diese Pause möglicherweise nie „Das Durchgangszimmer“ geschrieben. (A.K.) Wie fanden Sie den Film „Florentiner 73“, den das DDR-Fernsehen daraus gemacht hat? (R.H.M.) Ganz nett, aber Agnes Kraus war hervorragend. (A.K.) Haben Sie das auch geschrieben? (R.H.M.) Nein, das war ja ein Fernsehfilm. Aber auch über den Kinofilm „Der Mann der nach der Oma kam“ nach meiner Erzählung „Graffunda räumt auf“ habe ich nicht geschrieben. Das hat ein Kollege gemacht, nicht ganz so kritisch, wie ich es getan hätte. Trotzdem war es einer der erfolgreichsten Defa-Filme aller Zeiten. (A.K.) Ist Ihnen oft in Ihre Filmauswahl reingeredet worden? (A.K.) Von der Redaktion nie, weder damals noch heute. Im Jahre 1984 wünschte sich die ZK-Abteilung Agitation und Propaganda Lob für den misslungenen Clara-Zetkin-Film „Wo andere schweigen“ und Tadel für den sehr kritischen Gegenwartsfilm „Erscheinen Pflicht“. In beiden Fällen war ich anderer Meinung, und die durfte ich dann für mich behalten. (A.K.) Einmal haben Sie ein Bestechungsgeschenk angenommen. (R.H.M.) Eine sehr dekorative Eule für Ihre große Eulensammlung. (A.K.) Von Dean Reed, dessen Filme Sie bis dahin immer verrissen hatten. Und als Gegenleistung verlangte er eine positive Kritik für seinen nächsten Film. (R.H.M.) Weil es sich dabei um „Sing, Cowboy, sing“ handelte, konnte ich mich nicht an den Deal halten. Deshalb bat ich Freunde, die im Kulturmagazin des DDR-Fernsehens arbeiteten, mich unter irgendeinem Vorwand zu interviewen, um bei der Gelegenheit auf meine Eulensammlung zu sprechen zu kommen und die Herkunft des Prachtstücks zu erklären. Da habe ich dann eingeräumt, mich als korrupt erwiesen zu haben, aber nicht als korrumpierbar. Selbstverständlich könne Dean sein Eigentum wieder abholen – wenn er das Gesicht verlieren wolle. Dieser Halbsatz hat mir die Eule gerettet. (A.K.) Sie wohnen mit Ihrem Mann, Tausenden von Büchern und ungezählten Eulen aus allen denkbaren Materialien in einer großen Wohnung in der Leipziger Straße. Hatten Sie nie Lust, diese Hochhauswohnung gegen ein Häuschen im Grünen zu tauschen? (R.H.M.) Das lief genau umgekehrt. Wir haben in Bohnsdorf gewohnt, am südlichsten Zipfel Berlins in einem Reihenhaus der über 100 Jahre alten Arbeiterbaugenossenschaft Paradies. Wir hatten so ein Eckgrundstück, mit Garten dran und Garage drauf. Uns hat die Entfernung zur Stadt genervt. Mein Mann fuhr jeden Tag eine halbe Stunde rein und ein halbe Stunde wieder heim. Und ich musste wegen Zeitmangels dauernd Taxis nehmen. Vor dem endgültigen finanziellen Ruin haben wir lieber getauscht. (A.K.) Wann haben Sie sich zuletzt richtig über einen Film geärgert?(R.H.M.) Dauernd. Jedenfalls mehrmals wöchentlich. Zu DDR-Zeiten dachte ich oft, alle Schrecken, die ein Mensch im Kino erleben könnte, hätte ich bereits erlebt. Das war ein Irrtum. (A.K.) Über welchen Film haben Sie sich zuletzt gefreut? (R.H.M.) Über den wunderbaren „Volver“ des Spaniers Pedro Almodóvar. Und über die deutschen Produktionen „Wer früher stirbt, ist länger tot“ und „Die Könige der Nutzholzgewinnung“. Und wer immer noch nicht meine Lieblingsfilme „Alles auf Zucker“ von Dani Levy und „Sommer vorm Balkon“ von Andreas Dresen gesehen hat, der schere sich gefälligst hin. Darum möchte ich höflichst bitten. (A.K.) Was bereuen Sie im Rückblick auf Ihre Arbeit? (R.H.M.) Dass ich einen Rat von Friedrich Luft zu spät erhalten habe. Der sagte, Kritiker dürften mit den zu Kritisierenden nicht auf dem Duzfuß stehen. (A.K.) Hat Sie das schon mal in die Bredouille gebracht? (R.H.M.) Einmal. Es ging um Werner Bergmann, den langjährigen Kameramann von Konrad Wolf. Sein erster eigener, also von ihm auch geschriebener und inszenierter Film hieß „Nachtspiele“. Ich fand ihn misslungen und wollte eigentlich den Mantel des Schweigens darüber breiten. Aber dann hätten die bei der Defa mit Fug und Recht sagen können, mit der Eule muss man sich nur anfreunden, dann hält sie im Zweifelsfall die Klappe. Und deshalb habe ich geschrieben. Unter Qualen. Mit Tränenergüssen. Reichlich zwei Wochen später kam ein Brief von Werner Bergmann. Darin schrieb er, er habe die Zeit gebraucht, um mit dem Schlag in die Magengrube fertig zu werden. Nun aber wolle er sagen, was wäre Freundschaft, wenn sie Wahrheit nicht vertrüge. Das fand ich groß. (A.K.) Haben Sie verstanden, warum Ihre Rubrik im Eulenspiegel nach Jahrzehnten vom sehr markanten „Kino-Eule“ in ein nichts sagendes „Kino“ umbenannt wurde? Nein. (A.K.) Was raten Sie jungen Filmkritikern? (R.H.M.) „Immer deutlich sein. Die Anzahl der Fremdwörter auf ein vertretbares Maß reduzieren. Die Leser, unter denen es ja auch Nichtakademiker geben soll, müssen erkennen können, ob ihnen der Film empfohlen oder ob vor ihm gewarnt wird. Ein Kritiker muss von wiedererkennbarer Gesinnung sein. Früher kriegte ich manchmal Briefe, in denen stand: Wir gehen in jeden Film, den Sie verreißen, und es war noch immer ein gelungener Abend. Auch so entsteht Verlässlichkeit.“ Renate Holland Moritz. Vielleicht sollten wir uns ein paar Scheiben davon abschneiden,. meint Wessi J.

In Erinnerung an: Wilfried Berghahn (XI) in Filmkritik vom März 1962. Zwiespältiges Hollywood / Der General von Buster Keaton

Umschlag filmkritik 3/62

Das Kino dient der modernen Gesellschaft als einer der Orte, an dem das Publikum seine Wünsche und Ängste abladen darf, damit die Filmproduzenten ihm daraus eine plausible Geschichte machen. Das ist nirgends mit größerer Perfektion geschehen als in den Vereinigten Staaten. In keinem anderen Land der westlichen Hemisphäre bieten sich die kollektiven Phantasien so klar umrissen und bis in alle Einzelheiten durchkalkuliert ihrem Publikum dar, wie in Amerika. Wo industrielle Produktion den Alltag perfekt rationalisiert hat, ist es offenbar unausbleiblich, daß auch die seelischen Spiegelungen der Nation übersichtlich konsumierbar auftreten müssen. Das amerikanische Kino ist ein Supermarkt für Gesellschaftskostüme und Charaktermasken. Es herrscht wie in den großen Kaufhallen der gleiche Überfluß an Angeboten, aber ebenso wie dort auch eine raffinierte Lenkung, die am Ende die Auswahl präzise vorschreibt.

Die anschliessende Filmkritik zu dem Film von Buster Keaton „Der General“ hat (ktl), das ist das Kürzel für Theodor Kotulla, geschrieben.

Abschrift: Zwiespältiges Hollywood

Wilfried Berghahn in Filmkritik 3/62 (März 1962)

Das Gesellschaftsbild des amerikanischen Films

Das ist, wenn man vom Standpunkt der Produktion aus betrachtet, zunächst nur ein Reflex der Herstellungsbedingungen. Eine rationelle Industrieproduktion kann sich keine völlige Freiheit der Erfindung erlauben. Sie muß mit Modellen und standardisierten Einzelteilen arbeiten. Man hat das in Amerika sehr früh erkannt. Schon in den ersten Jahren des Stummfilms begriff man, daß es rentabler ist, eine Serie aufzulegen, in der die Hauptdarsteller dieselben sind und nur die Kulissen ein wenig umgestellt werden, als immer neue Geschichten zu erfinden. Auf diese Weise entstanden sowohl Groteskfilme – das größte Beispiel ist Chaplin – wie die Wildwestserien oder Tarzans Abenteuer.

Wenn wir heute von Standardisierung des Hollywoodfilmes sprechen, meinen wir jedoch in der regel etwas anderes. Wir meinen nicht mehr immer die gleichen Stars oder Schauplätze, nicht die sichtbare Identität, sondern ge-rade die verborgene, die uns scheinbar ganz neue, nie gesehene Gesichter und Probleme auf eine Weise vorführt, daß wir nicht umhin können, uns ständig an ganz andere Filme erinnert zu fühlen, die anscheinend doch nichts mit diesem hier und jetzt zu tun haben und ihn eben dennoch – auf eine zunächst undurchschaubare Weise – zum Sekundärprodukt stempeln. Das ist ein Seriencharakter, der – außer durch gewisse technische Übereinstimmungen – durch eine immer gleiche Dramaturgie hervorgebracht wird. Natürlich kann man auch diese dramaturgische Standardisierung aufs Konto der Produktionserfordernisse schreiben. Man übersieht dann aber, daß kein Industrieprodukt, das nach festen Konstruktionsplänen angefertigt wird, sich ohne Einbuße auf dem Markt behaupten kann, wenn es nicht auch gleichbleibenden Bedürfnissen entspricht. Wir meinen deshalb: der immer gleiche Zuschnitt des amerikanischen Films ist nicht nur eine industrielle sondern eine gesellschaftliche Rationalisierung.

Sehen wir uns zunächst einige typisch amerikanische Filmmodelle an. Am besten beginnen wir von der Peripherie her, mit den beiden erfolgreichsten Schöpfungen der Hollywood-Produktion, mit dem Gangster und dem Westerner. Das sind, worauf Robert Warshow mit recht hingewiesen hat, beides Männer mit Pistolen. „Die Pistole als greifbares Objekt und die Haltung, die mit ihrem Gebrauch verbunden ist, stehen optisch und emotional im Mittelpunkt beider Filmtypen“, sagt er. Das klingt gefährlich und sieht nach einem tief verwurzelten Hang zur Gewalttätigkeit aus. Beim genauerem Zusehen zeigt sich jedoch, daß die Pistole in diesen Filmen weniger ein Instrument des Angriffs als der Selbstbehauptung darstellt. Im typischen Gangsterfilm, der als rein amerikanische Schöpfung angesehen werden muß und nicht verwechselt werden sollte mit dem Kriminalfilm, liegt sie in der Hand eines Mannes, der durch einen verhängnisvollen Makel vom normalen Leben ausgeschlossen ist und nun allein gelassen mit einer Pistole seine Haut verteidigen muß. Er ist der berüchtigte und berühmte Einzelgänger im Großstadtdschungel – gezeichnet oft durch eine Verunstaltung seines Äußeren, ein Narbengesicht etwa! – der jedermann den Kampf angesagt hat, weil er selbst von allen gejagt und schließlich auch zur Strecke gebracht wird.

Ähnlich, aber mit einem anderen Vorzeichen versehen, erzählt auch der Wildwestfilm die Geschichte vom Außenseiter. Im Mittelpunkt aller jener Filme, die sich in Vorstadtkinos der westlichen Welt eine festen Platz erobert haben, steht jedesmal ein Mann, der seine imponierende Haltung der Tatsache verdankt, daß er allein ist: von niemand abhängig als von sich selbst, niemand untertan. Natürlich kann sein Lebensraum nicht die zivilisatorisch durchforstete Großstadt sein mit ihren vielfältigen Beanspruchungen, sondern ist die weite, noch unverstellte Prärie der Vorväterzeit, in der man zum Leben nichts zu benötigen schien als ein Pferd und eine Pistole. Diese imaginäre Szenerie durchstreift der Westerner als ein einsamer Reiter. Zwar kann er Genossen haben, aber sie gehen ihn im grunde nichts an. Seine vitalen Entscheidungen muß er ohne sie treffen. Die anderen, namentlich Frauen und Leute aus den verbürgerlichten Oststaaten, verstehen ihn nicht. Oft ist sogar das formale Recht gegen ihn, niemals jedoch die Gerechtigkeit, greift er doch immer eine Sekunde später zur Pistole als sein räuberischer Gegner. Trotzdem siegt er natürlich im echten Western-Film jedesmal. Dies und die Ruhe, die er allezeit ausstrahlt, unterscheidet ihn markant von dem gehetzten Narbengesicht im Dickicht der Städte.

Beide Leitbilder sind von Mißtrauen gegen das Leben in der Gemeinschaft erfüllt. Für den Gangster ist die Gesellschaft eine Falle, der er entrinnen möchte, aber nicht kann. Für den Helden des Wildwestfilmes haben kooperative Zusammenschlüsse, wie sie ihm in Gestalt der kleinen Präriestädte entgegentreten, einen bedenklichen Geruch nach Geschäftemacherei, Korruption und bourgeoiser Langeweile. Beide rebellieren dagegen, festgelegt zu werden, soziale Funktionen ausüben zu müssen, sich in die Fron des Berufs begeben zu müssen. Beide bestehen darauf, daß man frei nur ohne Rücksicht auf andere leben kann.

Die Zuschauer dieser Filme sind jedoch Bürger, sie sind Großstädter, sie haben Berufe und Familien. Sie sind eingespannt in tausend Abhängigkeiten. Und sie fühlen sich darin unbehaglich. Dieses Unbehagen ist die Begründung beider Filmgattungen. Als zwei Seiten derselben Medaille spiegeln sie ein ideologisches Dilemma, in dem die amerikanische Gesellschaft sich befindet. Auf der einen Seite ist da die Freiheitsphilosophie, auf die die Vereinigten Staaten gegründet wurden, das Versprechen, daß in Amerika jeder nach seiner eigenen Facon leben dürfe, souverän und selbstständig. Diese Philosophie kann man nicht aufgeben, ohne sich selbst aufzugeben. Auf der anderen Seite aber steht der Zwang zu immer größerer Anpassung und Nivellierung der Ansprüche im Konsumzeitalter, steht die Notwendigkeit, sich zu organisieren, keinen Anstoß zu erregen und bei den Mitmenschen beliebt zu sein. Auf diesen Widerspruch antwortet der Westerner mit einem eskapistischen Traum. Er verdrängt die Wirklichkeit durch das Ideal von einst. In der Weite der Prärie findet er die offene Welt ohne soziale Probleme und Anpassungsschwierigkeiten. Der „goldene Westen“ ist das Gegenbild zum Dasein in der Gesellschaft.

Der Gangster dagegen, der nach langer Jagd durch die Ordnungsmächte der Gemeinschaft irgendwo in einem Mauerwinkel, umstellt von seinen Verfolgern, zusammengeschossen wird, erfüllt seine Funktion auf die umge-kehrte Weise. Er nimmt auch alle die halbbewußten Unwillensregungen seiner Zuschauer über ihr reglementiertes Leben auf, aber er führt sie nicht ins Freie, sondern läßt sie mit seiner Person unbarmherzig vernichten. Wenn er sich zuletzt geschlagen geben muß, kapitulieren mit ihm alle Aggressionsgelüste des Publikums gegen die Gesellschaft, die er vorher angezogen hat. In ihm verkörpert sich der Angsttraum vom Ausgestoßenen, den jede konformistische Gesellschaft für ihre Mitglieder bereithalten muß. Sein Tod ist ein Opfer Ritus.

In seiner reinen archetypischen Form gehört der Gangsterfilm allerdings der Vergangenheit an. Seine besten Beispiele stammen aus den Zwanziger- und den frühen Dreissigerjahren. Heute hat die totale Negation der Gesellschaft und die darauf folgende drastische Bestrafung des Außenseiters keine pädagogischen Chancen mher. Aber der Gangsterfilm hat der Hollywoodindustrie ein Thema hinterlassen, das sich nach wie vor größter Aufmerksamkeit erfreut. Es ist die Erfahrung, daß man plötzlich einsam sein kann. Sie war es, die dem Gangster die Symphatien des Publikums gesichert hatte. Die Zuschauer waren auf der Leinwand mit einem Menschen konfrontiert worden, der allein und ausgestoßen in einer feindlichen Welt stand und durch seine Existenz nachdrücklich den offiziellen amerikanischen Optimismus dementierte, alle Menschen könnten gut Freund miteinander sein. Wahrscheinlich war diese Erfahrung, daß man hoffnungslos alleingelassen sein kann in unserer Welt, mehr als die Rebellion dagegen, die eigentliche Begründung für den Erfolg des Gangsterfilmes.

Er lud zum Selbstmitleid ein. In den Vierzigerjahren, vor allem nach dem Kriege, verschwanden denn auch die aggressiven Elemente immer mehr aus dieser Filmgattung und machten Situationen Platz, in denen der Held eindeutig als unschuldiges Opfer unglücklicher Umstände oder vorsätzlicher Intrigen erschien. Das Generalthema dieser neuen Variation des alten emotionalen Schemas heißt: Unter falschem Verdacht! Die meisten Hitchcockfilme huldigen dieser Dramaturgie. Da wird zum Beispiel ein Mann verdächtigt, seine Frau ermordet zu haben. Alle Indizien sprechen gegen ihn. Seine Freunde ziehen sich von ihm zurück. Seine Nachbarn kennen ihn nicht mehr. Die Polizei terrorisiert ihn, um das Geständnis zu er-pressen. Alle Versuche, Entlastungsmaterial zu finden, schlagen fehl. Das geht solange, bis sein Widerstandswillen völlig gebrochen ist. Erst in diesem Augenblick, wenn der Mann am Ende scheint, kommt eine wunderbare Rettung durch einen Eingriff von außen in gestalt eines unbekannten Zeugen vielleicht, oder einer Frau, die gerührt durch den jämmerlichen Zustand des Helden beschließt, von sich aus Nachforschungen anzustellen. Das Happy-End ist in den Verdachtfilmen gesichert, aber was vorausgeht, ist ein Alptraum.

In einer sozialpsychologischen Untersuchung, die Martha Wolfenstein und Nathan Leites kurz nach dem Kriege anstellten, kamen sie zu dem Ergebnis, daß dieses Motiv der falschen Beschuldigung offenbar eine Projektion von Selbstvorwürfen ist, die sich die nur mangelhaft angepaßten Mitglieder einer auf perfekten Konformismus bedachten Gesellschaft machen. Viele Amerikaner scheinen das Gefühl zu haben, daß sie der Norm, die ihre Umwelt ihnen setzt, nicht genügend entsprechen. Sie beargwöhnen sich deswegen selbst. Sie befürchten, irgendetwas sei mit ihnen nicht in Ord-nung. Jedenfalls sehen sie, daß es ihnen nicht gelingt, sich ihren Nachbarn und deren Standards so vollkommen anzugleichen, daß sie als die große Familie erscheinen können, als die die amerikanische Nation sich verstanden wissen möchte. Man entdeckt, daß man nicht bei jedermann beliebt sein kann, daß man nicht die ganze Welt zu Freunden haben kann und sucht für die Unsicherheit, die aus dieser Erfahrung entsteht, auf der Leinwand ein Modell, das einen tröstet. Die Geschichte vom falschen Verdacht der anderen gibt diesen Zuschauern die Möglichkeit, sich unverstanden zu fühlen und die Schuld daran den „Nachbarn“ aufzubürden.

Es ist in diesem Zusammenhang recht aufschlußreich, daß in amerikanischen Filmen die Exekutivorgane der Gesellschaft, etwa die Polizei oder die Behörden, wenig Symphatie genießen. Zwar werden sie nicht so eindeutig wie in französischen Filmen zu Handlangern der Unterdrückung, zu Feinden des Individuums erklärt, aber sie genießen bei weitem nicht die untertänige Verehrung, die der deutsche Film ihnen zollt. Wenn in einem ameri-kanischen Film die Polizei auftritt, erweisen sich ihre Anstrengungen in der regel als der Sache, um die es geht, nicht angemessen. Entweder verfolgt sie zu lange falsche Spuren, oder es gelingt ihr nicht, ihren Machtapparat richtig einzusetzen. Die meisten Beamten sind rüde und bedenklich verständnislos – besonders am Anfang der Untersuchungen. Manchmal sind sie selbst gegen Korruption nicht gefeit. In Lustspielen wirken sie begriffsstutzig. Jedenfalls tut der Einzelne gut daran, sich nicht auf sie zu verlassen. Wer seine Haut verteidigen muß, wer einen Angreifer unschädlich machen muß, arbeitet besser auf eigene Faust. Am Schluß werden die Behörden und Gerichte zwar immer auf einer Seite sein, sie werden ihre Irrtümer einsehen und dem Guten zu Siege verhelfen, aber ohne Privatinitiative – das steht fest – würden sie es nicht weit gebracht haben.

Typisch zum Beispiel ist, daß in der „Faust im Nacken“, wo die Verbrechen einer korrupten Gewerkschaft angeklagt werden, am Ende, wenn die Tatbestände gerichtsnotorisch geworden sind, nicht – wie in jedem Rechtsstaat selbstverständlich wäre – die Justiz eingreift und den Gangstern den Prozeß macht, sondern Marlon Brando seine Feinde im Faustkampf vernichten muß. Das ist filmwirksamer und entspricht mehr der amerikanischen Ideologie des „hilf dir selbst“! Im grunde glaubt der amerikanische Film nicht an die Verläßlichkeit der staatlichen Ordnung. In entscheidenden Krisensituationen erscheint ihm selbst die Demokratie als haltlos.

Man erinnere sich an „High Noon“, an jene Szenen, in denen Gary Cooper die Bürger einer Stadt zum Widerstand gegen die Gangster aufruft und nur ab-weisende Mienen und verschlossene Türen findet. Wenn nicht er sich aufge-rufen fühlte – ganz allein gelassen nur mit einer Pistole in der Hand – dem Unheil entgegenzutreten, würde sich niemand finden, die Freiheit, von der man so gerne profitiert, auch zu verteidigen. „High Noon“ entstand während des Koreakrieges.

Der amerikanische Film treibt mit der Tat des Einzelnen seinen größten Kult. Das ist von der liberalistischen Gesellschaftstheorie her gut verständlich. Die bildhaften Modelle dafür, die der Film braucht, sind jedoch vor-industriell. Sie stammen aus der Zeit der Kolonisation. Hollywoods Drehbuchautoren und ihr Publikum leben mit einem beachtlichen Teil ihrer Leitbilder immer noch in der Zeit, da die Wagen der Siedler von den atlantischen Neu-Englandstaaten aus nach Westen rollten, um einen unabsehbaren Kontinent in Besitz zu nehmen. Damals, als es keine Grenzen zu geben schien, vor denen man hätte halt machen müsen, entstand das Lebensgefühl, das der amerikanische Film auch heute noch, in einer ganz an-deren Situation reproduziert. Die große Landnahme selbst dient immer wieder als Filmthema. Ihre Dramaturgie besteht aus der Häufung von Situationen, die dem Zuschauer das erregende Gefühl permanenter Grenzüberschreitung vermitteln. Da ist zum Beispiel ein Fluß, der den Vordringenden den Weg versperrt, bis sie ihn in einem grandiosen Übersetzmanöver bezwingen. Da ist immer wieder ein Berg, den die Reiter mühsam erklimmen müssen, bis sie dann oben stehen und eine neue Ebene sich vor ihnen ausbreitet. Aber da ist auch heute der Düsenjägerpilot, der die Schallmauer durchbricht, der Weltraumflieger, der zu anderen Planeten startet und überhaupt der Held der Technik, der der Erfahrung neue Welten erschließt. In solchen Bildern und Figuren bestätigt der Film seinen Besuchern jedesmal aufs neue, daß nichts sie einengt und alle Hindernisse überwunden werden können.

Solange es nur um die einsamen Helden der Prärie oder die technischen Übermenschen der Science fiction geht, solange nur im wilden Westen Verhandlungen verachtet und und einsame Beschlüsse gefeiert werden, mag man die gesellschaftlichen Konsequenzen dieses Leitbildes noch für relativ unbedeutend halten. Die Hollywoodproduktion muß ihren Zuschauern je-doch den Glauben vermitteln, daß die omnipotenten Idealfiguren der Ver-gangenheit und der Utopie auch in der Wirklichkeit Lebensberechtigung haben. Davon lebt das amerikanische Selbstbewußtsein. Das Leitbild vom harten Kämpfer „on the frontier“ findet sich deshalb im sozialkritischen Reißer wieder und wird vor allem gerne auf Kriegsfilme übertragen. Das führt dazu, daß ein großer Teil der Filme über den zweiten Weltkrieg oder Korea offen Partei ergreift für radikale Militärs, die die gemäßigten Wei-sungen ihrer Kommandostellen in Washington oder überhaupt im Hinterland, wo nach Meinung dieser Filme allzu viele Leute sitzen, die von der rauhen Wirklichkeit „Draußen“ keine Ahnung haben, mit Erfolg zu über-spielen versuchen. Zur Zeit des Koreakrieges, als Präsident Truman den General Mc Arthur absetzte, weil er China mit Atombomben in die Knie zwingen wollte, waren fast alle Kriegsfilme aus Hollywood auf Seiten des Generals. Das ist heute bei Themen des kalten Krieges gegen die Sowjetunion nicht anders. Selbst Filme, die sich kritisch mit der amerikanischen Armee auseinandersetzen – typische Beispiele dafür: „Verdammt in alle Ewigkeit“ oder „Die Meuterei auf der Caine“ – erweisen sich am Ende als Loblieder auf die harten Kämpfer. Gewisse Bedenken der Zivilisten und der Intellektuellen mögen berechtigt sein, sagen diese Filme, aber letzten Endes sind sie bedeutungslos. Der Mann an der Front, mag er nun Sheriff in einem kleinen Prärienest sein oder Düsenjägerpilot in Korea, hat immer mehr recht als der Kritiker. Leute mit Bedenken sind unzuverlässig.

Intellektuelle sind überhaupt unbeliebt in den meisten amerikanischen Filmen. Sie können nur nützlich sein, wenn sie brav im Hintergrund bleiben und sich in die wichtigen Fragen nicht einmischen. Man sieht sie als Manager eines großen Boxers, als Presseagent eines Volkshelden oder Unternehmers, als Anwalt eines unschuldig Angeklagten, als Ordonanz oder Pfarrer. Auf solchen Posten sind sie für manche Arbeiten brauchbar. Die moderne Gesellschaft ist leider so kompliziert, daß die Helden sich nicht mehr allein zurechtfinden. Aber gut ist das nicht. Besser wäre, man brauchte die Schriftgelehrten nicht. Sie machen bestimmt Fehler. An den empfindsamen Höhepunkten der Filme begreifen sie ihren Helden (und Arbeitgeber) nicht. Beschämt stehen sie dann später da, wenn sich herausstellt – was mit Sicherheit geschieht! – daß sie zu kleingläubig waren.

Nur in Lustspielen dürfen Intellektuelle rundweg symphatisch sein – freilich ein bißchen so wie Kinder! Man kann sie ja nicht ganz ernst nehmen. Doch man findet sie nett. Sie sind so weltfremd; ganz das rechte Objekt dafür, daß eine Frau kommt und sie um den Finger wickelt! Intellektuelle (und natürlich auch Künstler) sind in diesen Filmen ein Sonderfall der allgemeinen Spezies „Mann“. Und die wirkt, wenn sie keine heroischen Kostüme trägt, leicht lächerlich.

In amerikanischen Unterhaltungsfilmen herrscht das Matriachat. Die Welt des Mannes ist die Prärie und der Krieg, die Unterwelt und das Abenteuer außerhalb der Grenzen des Alltags. Aber wenn er nach Hause kommt, regiert die Frau. Nur beim ersten Kennenlernen des Mädchens, das er später heiraten wird, erlaubt der amerikanische Film dem Manne noch eine gewisse Initiative – obwohl es auch eine ganze Reihe Filme gibt, in denen die Frau den Kontakt herstellt. Sobald jedoch die ersten Blicke getauscht sind und die erste Verabredung hergestellt worden ist, diktiert behutsam aber nachdrücklich die Frau die weiteren Spielregeln. Sie gibt die Stichworte, auf die der Mann einen Reim zu finden versucht. Dabei tut er sich am Anfang meistens schwer. Er schätzt die Situation falsch ein. Daraus ergeben sich die Verwicklungen, die das Spiel reizvoll machen. Dann kommt der Augenblick, in dem die Frau einen Moment lang die Übersicht verliert und ihrerseits Fehler macht. Aber inzwischen hat der Mann etwas gelernt – die Männer im amerikanischen Film lernen sehr gut! – und am Ende fühlt er sich als Sieger, doch der Zuschauer amüsiert sich, weil er weiß, wer in Wahrheit die Fäden gezogen hat. Der Mann erscheint im amerikanischen Unterhaltungsfilmen als ein in Sachen Liebe und Ehe unselbstständiges Wesen, das der Anleitung bedarf. In Extremfällen muß sogar der Psychoanalytiker nachhelfen.

Einige Beobachter haben nach dem Kriege gemeint, dieses Schema sei eigentlich überholt; es werde sich wahrscheinlich unter dem Einfluß europäischer Leitbilder, die zu studieren die amerikanischen Soldaten Gelegenheit hatten, auflösen. Doch das Gegenteil ist eingetreten. In neueren Filmen läßt sich sogar eine Ausweitung des Herrschaftsbereiches der Frau feststellen. Während der Zwanziger- und Dreißigerjahren wenigstens der berufliche Bereich eine Domäne des Mannes blieb, in der er beweisen konnte, daß er tatkräftig und erfolgreich war, häufen sich in den letzten Jahren Filme, in denen der Mann vor erheblichen Schwierigkeiten im Büro und in der Öffentlichkeit steht, die er nur durch entschlossene Eingriffe seiner Frau zu überwinden vermag. Ein bekanntes Beispiel dafür ist „Der Mann im grauen Flanell“.

Natürlich ruft die Initiative der Frauen, die zum Chef gehen, um ihm die Qualitäten ihrer Männer klarzumachen, oder die selbst in die Branche ein-steigen und ihren Mann aus der Patsche ziehen, männlichen Widerstand hervor. Es kommt zu familiären Szenen, die Männer fühlen sich gedemütigt. Am Ende zeigt sich jedesmal, daß die Frauen es ja gut gemeint haben und das ihr Eingreifen die einzige Möglichkeit war, den Mann zu neuen Taten zu provozieren. Das Berufsleben, sagen diese Filme, ist komplizierter geworden. Die Anpassungsschwierigkeiten nehmen zu. Ein Mann allein verrennt sich da sehr leicht. Oder er wird träge und läßt sich gehen. Da ist es gut, wenn er eine Frau hat, die ihm auch außerhalb des Hauses zur Seite steht. Sie soll ja nur seine männliche Halsstarrigkeit ein bißchen korrigieren oder ihm wieder auf die Sprünge helfen.

Das Gesellschaftsbild des amerikanischen Films wird von einem Zwiespalt zerrissen. Hollywoods Drehbuchautoren stehen vor der Aufgabe, ihrem Publikum einerseits den Glauben zu erhalten, die Welt sei offen und die Menschen ehrlich, für einen richtigen Mann gebe es keine ernsthaften Hindernisse, jeder seines eigenen Glückes Schmied. Andrerseits jedoch müssen sie Erklärungen für die Mißerfolge ihrer Kunden finden. Sie müssen mit der Tatsache fertig werden, daß ihre Zuschauer Enttäuschungen erleben, daß sie, wenn sie aus dem Kino kommen, keine Pferde besteigen und in die Weite reiten können, sondern sich in den Straßenverkehr eingliedern, nett zu ihren Nachbarn sein und sich hüten müssen, ihre Vorgesetzten zu brüskieren. Einerseits muß der Film zeigen, daß der american way of life unwiderstehlich ist, andrerseits kann er nicht darüber hinwegtäuschen, daß viele Leute in der Welt das nicht einsehen wollen und in allem ernst meinen, sie hätten bessere Vorstellungen vom richtigen Leben. Die Leitbilder des amerikanischen Films spiegeln dieses Dilemma. Sie tendieren immer mehr auf die Formel zu: den Kuchen essen und ihn gleichzeitig behalten. Das ist ihre Lösung! Martha Wolfenstein und Nathan Leites haben diesen Trend bereits an erotischen Wunschvorstellungen des amerikanischen Kinos im einzelnen analysiert. Sie stellten fest, daß die weiblichen Hauptfiguren in beinahe allen Hollywoodfilmen nach dem Schema „Gut und Böse in einer Person“ konstruiert sind. Der Hollywoodstar soll erotisch attraktiv sein. Das kann er nur, wenn seine Weiblichkeit zu Schau gestellt werden darf, wenn gezeigt wird, daß er Erfolg bei Männern hat, wenn er in zweideutigen Situationen erscheint. Gleichzeitig soll die Frau im Film jedoch unberührt und treu sein, nur einen, den Helden, wahrhaft lieben. Damit diese Rechnung aufgeht, müssen alle Kniffe der Dramaturgie angewandt werden. Die wichtigste Leistung des Drehbuchautors besteht darin, zunächst den Anschein der Unmoral zu erwecken und dann doch einen Weg zu finden, damit strahlend sich die Reinheit der Heldin enthüllen kann.

Nach dem selben Modell wird im Hollywoodfilm die Gesellschaft porträtiert. Es werden zunächst anscheinend unlösbare Konflike, Verbrechen sogar, Korruption und fragwürdige politische Machenschaften vor dem erschreckten Publikum ausgebreitet, das seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt meint. Dann aber kommt die Wendung. Es zeigt sich, daß alles halb so schlimm ist. Unter denen, die Böses tun, ist bestimmt immer einer, der gar nicht weiß, was geschieht. Ihm fallen plötzlich die Schuppen von den Augen, worauf er mit ungebrochener Energie, wie sie nur dem wahren Helden eigen ist, die Ordnung wiederherstellt. An dieses Schema glaubt der amerikanische Film. Es ist ein Mechanismus höherer Art, gleichsam eine nur noch theologisch zu erklärende Verheißung. Ohne diesen Glauben, daß das Übel nie ein endgültiges Übel sein kann, ist ein Film kein amerikanischer Film.

Wilfried Berghahn im März 1962. Abgedruckt in der Filmkritik.

Hans Helmut Prinzler schrieb am : 03. Mai 2017 über das Buch von Michael Wedel Wilfried Berghahn Filmkritiker erschien:

Als er starb, im September 1964, war er 34 Jahre alt. Wilfried Berghahn galt damals als ein Hoffnungsträger für die Zukunft der Filmkritik. Er gab, zusammen mit Enno Patalas, die Zeitschrift Filmkritik heraus, hatte 1956 mit einer Dissertation über Robert Musil promoviert, war von 1957 bis 1960 Redakteur beim Fernsehen des Südwestfunks, plante dann interessante Buchprojekte und besuchte, meist im Zusammenhang mit Fernseh-sendungen, die großen Regisseure jener Zeit: Aleksandr Ford und Andrzej Wajda, Michelangelo Antonioni, Federico Fellini, Vittorio De Sica, Francesco Rosi und Luchino Visconti, Satyajit Ray, Kon Ichikawa und Susumi Hani, Luis Buñuel und Leopoldo Torre Nilsson. Die Nachrufe auf Wilfried Berghahn im Novemberheft 1964 der Filmkritik lesen sich noch heute bewegend. Der Band 20 der Reihe „Film & Schrift“, herausgegeben von Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen, erinnert an ihn. Der Essay von Michael Wedel über Berghahn ist eine beeindruckende Würdigung der Person und des Pub-lizisten, der ja nicht nur im Bereich des Films, sondern auch der Literatur und des Theaters tätig war. In Wedels Text gibt es eine interessante Passage über Berghahns Kritik in den Frankfurter Heften an dem Buch „Der Film. Wesen und Gestalt“ von Walter Hagemann, der damals Publizistik-Professor in Münster war; zu seinen Studenten gehörten Enno Patalas und Theodor Kotulla. Die Kontroverse verrät viel über die damalige Situation der Publizistik- und Filmwissenschaft und die souveräne Position von Berghahn. Der Band dokumentiert 79 Texte von Wilfried Berghahn: 15 Essays, fünf Porträts und Gespräche, acht Berichte und Kommentare, 51 Kritiken. Die Lektüre macht noch einmal klar, was für einen großen Autoren wir damals verloren haben.

„Einer der Besten …“ Mit diesen Worten war eine Sammlung von Auszügen aus Nachrufen auf Wilfried Berghahn (1930-1964) überschrieben, die im November 1964 in der „Filmkritik“ erschien. Der promovierte Literaturwissenschaftler und anerkannte Musil-Spezialist galt zum Zeitpunkt seines frühen Todes als das intellektuelle Gravitationszentrum der fortschrittlichen deutschsprachigen Filmkritik, deren wichtigstes publizistisches Forum – die Zeitschrift „Filmkritik“ – er als Chefredakteur gemeinsam mit Enno Patalas leitete. Dort erschienen auch die meisten seiner Texte über Film, andere wurden in Kulturzeitschriften wie den „Frankfurter Heften“ oder dem „Merkur“ veröffentlicht. Kollegen verglichen die Qualität seines filmpublizistischen Wirkens mit der des ebenfalls früh verstorbenen André Bazin in Frankreich. Im Gegensatz zu dessen breit rezipierten Schriften bleiben Berghahns Essays, Kritiken und Porträts in der vorliegenden Edition noch zu entdecken.