(Zeichen 3.692) Briefe an Eugen Apropos Joseph Roth (LXXIX-79)
Hallo Eugen, wieder ein Buch aus dem Antiquariat, das ich Dir empfehlen möchte. Josef Roth. Berliner Saisonbericht. Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920 —39. Herausgeben und mit einem Vorwort von Klaus Westermann. Erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch 1984. Schon seine Biografie hatte mich neugierig gemacht, als ich im Antiquariat Pabel den Klappentext las: „Joseph Roth. 1894-1939 wuchs in Galizien auf und studierte in Lemberg und Wien Germanistik. nahm am 1. Weltkrieg teil. Ab 1918 war er Journalist in Wien. reiste später als ständiger Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung durch Europa. 1933 ging Roth nach Frankreich ins Exil: er starb 1939 in Paris.“
Foto Jens Meyer
Hallo Eugen, ja, Du hast Recht. Natürlich stimmt Deine Vermutung. Joseph Roth war Jude. Und fast bin ich geneigt zu schreiben: Als Reflex beim Lesen des letzten Satzes dieses Textes stellte sich mir unwillkürlich der Halbsatz „eines natürlichen Todes“ in den Weg. Hab ich natürlich nicht gemacht.
Ab Seite 379 berichtet Roth aus Prag und schreibt am 6. September 1933 im »Prager Mittag« auf Seite 380: „Als österreichischer Monarchist, konservativer Mann und unerbitterlicher Feind jeder Regierung, an deren Spitze ein Tapezierer steht, erwidere ich dem Verleger, daß ich darauf verzichte, im »Dritten Reich« derzeit genannt Deutschland, zu erscheinen.“ ( . . .)
Ab Seite 381: „Wir deutschen Schriftsteller jüdischer Abstammung müssen in diesen Tagen, da der Rauch unserer verbrannten Bücher zum Himmel steigt, vor allem erkennen, daß wir besiegt sind. Erfüllen wir, die wir die erste Welle der Soldaten bilden, die unter dem Banner des europäischen Geistes gekämpft haben, die edelste Pflicht der in Ehren besiegten Krieger: erkennen wir unsere Niederlage.“ ( . . .)
Ab Seite 385 schreibt Roth: „Man kann sagen, daß seit etwa 1900 diese »Oberschicht« der deutschen Juden zu einem großen Teil das künstlerische Leben Deutschlands bestimmt, wenn nicht beherrscht hat. Gerechterweise muß man feststellen, daß sie sowohl Qualitäten und Tugenden als auch Fehler hatten. Selbst ihre Irrtümer waren manchmal heilsam. Im ganzen weiten Reich mit einer Bevölkerung von sechzig Millionen Menschen, unter all den vielen Industriellen, gab es, von individuellen Ausnahmen natürlich abgesehen, keine einzige Schicht, die aktives Interesse an Kunst und Geist bekundet hatte. Was die preußischen »Junker« angeht, so weiß die zivilisierte Welt, daß sie gerade schreiben und lesen können; einer ihrer Repräsentanten, der deutsche Reichspräsident Hindenburg, hat öffentlich bekannt, daß er in seinem Leben niemals ein Buch gelesen hat. ( . . .)
Auf Seite 400 unter der Überschrift. DIE VERTRIEBENE DEUTSCHE LITERATUR schreibt Roth: „Ich sage absichtlich: vertriebene deutsche Literatur und nicht deutsche Emigrationsliteratur, weil der Begriff Emigrationsliteratur einen eigenen historischen Beigeschmack besitzt. Aber wenn man es genau nimmt, dann haben wir es heute weniger mit einer Emigrationsliteratur als vielmehr mit einer vertriebenen Literatur zu tun, weil die in der Emigration lebenden deutschen Schriftsteller heute in Wirklichkeit keine Emigranten, sondern eben Vertriebene sind. ( . . . )
Auf Seite 403: „(II) Zwischen der jetzigen vertriebenen Literatur und der Emigrationsliteratur früherer Epochen besteht ein grundsätzlicher Unterschied: Die Bücher der Schriftsteller, die damals in der Fremde leben mußten, wurden in der Heimat herausgegeben, honoriert, gelesen und verbreitet. Vertrieben war nur der Autor — als Person. Seine Werke konnten aber sogar während der dunkelsten Zensur unter Napoleon oder Metternich in der Heimat erscheinen, Sowjetrußland, Mussolini-Italien und Hitlerdeutschland haben die Schriftsteller nicht nur physisch vertrieben, sondern auch geistig. Heine und Börne haben Honorare aus Deutschland erhalten, Chateaubriand, Victor Hugo und George Sand aus Frankreich. Nur das 20. Jahrhundert kann sich rühmen, einen Schriftstellertyp geschaffen zu haben, der in der Welt Gehör findet, aber für seine Heimat gestorben ist. (Die geringe Anzahl von Büchern, die nach Deutschland hineingeschmuggelt wird., spielt praktisch keine Rolle.) ( . . . )
(Aus Nasza Opinja (Lwów), 7. März 1937.
Hallo Eugen, und jetzt kommst wieder Du. Meine Frage ist nur: Konnte ich Dich neugierig machen? J.
Joseph Roth Abbild im Klappentext des Buches „Berliner Saisonbericht“. Der Fotograf wird dort nicht genannt.
(Zeichen 9.886) Abschrift aus Joseph Roth aus Berliner Saisonbericht (Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920-39 Herausgegeben und mit einem Vorwort von Klaus Westermann)
Feuilletons: Die Generallinie (Seite 356-361) Der Russe S. M. Eisenstein [Sergei Michailowitsch Eisenstein Сергей Михайлович Эйзенштейн Sergej Michajlovič Ėjzenštejn] — ein atavistischer Mechanismus [Fremdwörterbuch: Atavismus = das Wiederauftreten von Merkmalen der Vorfahren, die den unmittelbar vorhergehenden Generationen fehlen (bei Pflanzen, Tieren und Menschen)] zwingt mich manchmal, die Initialen seiner beiden Vornamen für die übliche Abkürzung eines bereits historischen Prädikats zu halten — gilt unter den Sachverständigen des Films als einer der genialsten Regisseure dieser Zeit. Wenn ich in den nachfolgenden Zeilen über seinen letzten Film »Die Generallinie« einiges zu schreiben gedenke, so wage ich damit keineswegs, sein Werk, wie man zu sagen pflegt, vom »sachlichen Standpunkt aus« zu beurteilen und mir die Rechte jener Kenner zu usurpieren, [Fremdwörterbuch: usurpieren = widerrechtlich die (Staats) gewalt an sich reißen] die infolge einer Neigung oder Notwendigkeit in den Zeitungen regelmäßig Filme kritisieren. Ich vertraue den Sachverständigen, die mir versichern, die »Generallinie« sei »filmisch« hervorragend, und traute ich mir selbst ein Urteil zu, ich traute mich kaum, es auch drucken zu lassen. Immerhin erinnere ich mich noch genau der Ergriffenheit, mit der ich zum erstenmal den Eisensteinfilm »Potemkin« abrollen sah, und der leidenschaftlichen Empörung, die in mir einige seiner Bilder — man war versucht, sie »geharnischte Bilder« zu nennen — wachgerufen haben. Andere, von den Kritikern besonders gerühmte Stellen, sogenannte »photographische Meisterleistungen« war ich geneigt, eher als kunstgewerbliche Meisterstücke zu betrachten. Verdienste des Apparats ebenso, wie desjenigen, der ihn dirigierte, Folgen eines Einfalls und eines Spieltriebs, dessen Resultate sehr oft überschätzt werden — im Film wie auf anderen Gebieten. Die sogenannte »künstlerische Wirkung« eines auf ungewöhnliche Weise photographierten Kanonenlaufs beruht zum Teil auf dem psychologisch wichtigen Moment der Überraschung, die der Zuschauer nur selten als gesonderte Empfindung erlebt, die er vielmehr mit Ergriffenheit verwechselt. Die karikierenden und auf eine sehr direkte Wirkung berechneten Stellen, wie jene von dem physisch lächerlichen Marinearzt und den Maden in den Fleischrationen der Matrosen, glaubte ich als künstlerische Billigkeit agnoszieren [Fremdwörterlexikon: 1) anerkennen 2) die Identität feststellen] zu müssen und — künstlerisch betrachtet — vorausgesetzt, daß ich es als Nichtfachmann überhaupt durfte — als fehlerhaft und verlogen. Denn innerhalb dieser durchaus, sogar erschreckend realistischen Welt des meuternden Kriegsschiffes durften die Maden in den Fleischrationen nicht größer erscheinen, als sie wirklich waren, und es war außerdem billig, den Marinearzt in dem Maß winzig erscheinen zu lassen, in dem man die Würmer vergrößerte. Ein so lächerlich kleiner Doktor wirkte schon durch seine Physis aufreizend, besonders, wenn er so große Würmer als gar nicht vorhanden bezeichnete. Und je besser mir der Film im ganzen gefiel, desto sehnlicher wünschte ich, sein trefflicher Regisseur hätte in mir die gleiche Empörung hervorzurufen vermocht, wenn der Doktor mittelgroß und die Maden winzig geblieben wären. Sogenannte Kunstmittel sind selten auch Mittel der Kunst. Und also sah ich den »Potemkin« zum zweitenmal bereits mit wacheren Sinnen und ermüdeter Leidenschaft.
Immerhin: der »Potemkin« war ein Riesenerfolg, und die »Generallinie« mußte nach einigen Tagen abgesetzt und aus einem großen Kino in ein kleineres verbannt werden. Nun ist für mich, einen ziemlich erfolglosen Schriftsteller, der Erfolg zwar keineswegs ein Kriterium, und die Zahl imponiert mir so wenig, daß sie mich sogar mißtrauisch zu machen imstande wäre. Allein, den Sowjets imponiert die Zahl, imponiert auch der Erfolg. Wer eine Massenwirkung zu erzielen bestrebt ist, wer sogar Konzessionen macht, wer diese Konzessionen, sein Talent und die Kunst überhaupt mit seiner Weltanschauung erklärt, ja, wer die Kunst und sein Talent und sein Werk nur entschuldbar findet, wenn sie in den Dienst seiner sogenannten Weltanschauung getreten sind — der ist allerdings verpflichtet, aus der Erfolglosigkeit seines Werkes Konsequenzen zu ziehen. Er gestatte mir für einen Augenblick, es für ihn zu tun — und ich will versuchen, den Erfolg des »Potemkin« und die Erfolglosigeit der »Generallinie« aus dem Thematischen zu erklären: im ersten Film Eisensteins handelt es sich um eine Anklage gegen das zaristische Rußland. Dieses war, jedenfalls nach westeuropäischen Begriffen, eine verdammenswürdige Angelegenheit. Man mag vor Westeuropa so wenig Respekt haben, wie zum Beispiel ich selbst: Kosakenstiefel und Nagajkas [Fremdwörterbuch aus Lederstreifen geflochtene Peitsche der Kosaken u. Tataren] waren ihm immer ebenso peinlich gewesen, wie ihm heute die Weltrevolution peinlich sein mag. Diese direkte Tyrannenmethode, diese osteuropäische Nagajkatradition hätte das sogenannte »westeuropäische Gewissen« (vor dem Kriege scheint es eine Art Verantwortung für europäische Kultur im Westen gegeben zu haben) auf jeden Fall gegen Rußland revolutionieren können. Der Potemkinfilm fand also eine allgemeine Anerkennung, weil er die (angeblichen oder wirklichen) Abscheulichkeiten des zaristischen Rußlands anklagte. Die »Generallinie« findet keinen Beifall, weil sie die Vorzüge Sowjetrußlands verherrlicht.
Worum handelt es sich bei der »Generallinie«? Um die Segnungen der Zivilisation. Maschinen kommen in ein Dorf. Das Dorf ist mißtrauisch gegen Maschinen. Allmählich aber überwinden es, überzeugen es die Maschinen. Die Maschinen erobern das Dorf. Und wo die Sense mähte, arbeitet der Traktor. Und wo der Traktor arbeitet, fließt der Segen. Und der Sinn der »Generallinie« ist der: die Zivilisation ist eine herrliche Sache. Die sturen Bauern gehn hinter dem blöden Pflug. Sie bebauen ihre Felder höchst mangelhaft. Sie haben also wenig Getreide. Das ganze Dorf hat wenig zu essen. Da aber das Dorf ein Teil der Sowjetunion ist, hat die Sowjetunion weniger zu essen. Wenn die Sowjetunion weniger zu essen hat, leidet dass Weltproletariat Mangel. Das Proletariat aber soll keinen Mangel leiden, denn es muß siegen. Also muß das Dorf Maschinen haben. Das ist natürlich nicht der Inhalt des Films, wohl aber seine Tendenz und besonders der Sinn seines Titels. Dieser Titel will heißen: dies ist die Generallinie, auf der Sowjetrußland zu marschieren hat, die Stalin uns vorzeichnet. Weg mit den Pflügen! Traktoren her! Gesteigerte Produktion! Alle Räder gehen laut. Rußland wieder aufgebaut! Der Film ist, er gesteht es selbst, ein Propagandaplakat für die Industrialsierung des russischen flachen Landes.
Nun — was dIe Industrialisierung betrifft, so sind wir im Westen die geborenen Fachleute. Die Maschinen haben wir erfunden, und die Segnungen der Zivilisation sind eine von den Schmonzes, an denen unser westliches Vokabular so reich ist und die in Sowjetrußland ein »Programm« werden. Wir wissen beinahe nicht mehr, wie ein Pflug aussieht, vor lauter Traktoren, Melkmaschinen und landwirtschaftlichen Geräten. Unsere Milch schmeckt nach Elektrizität, unsere Butter nach Pappendeckel, seit Jahrzehnten haben wir kein Brathuhn gegessen, das eine richtige Henne ausgebrütet hättet, unsere Dörfer stinken nicht nach Dünger, sondern nach Asphalt, unsere Bauern haben Telephon und Normaluhren und fahren mit Aktentaschen im Auto auf die Felder, wie Bankbeamte ins Büro. Wenn bei uns zu Lande irgendwo ein Hahn kräht, fragen wir uns, ob’s nicht ein Tierstimmenimitator im Radio ist, und es fehlt nicht viel, so geben die strotzenden Euter unserer Kühe keine flüssige Milch mehr, sondern Konservenbüchsen aus Blech. Mit Maschinen also imponiert man uns nicht. So weit wären wir bereits industrialisiert und aufgebaut. Ja, allmählich beginnt unser Widerwille gegen Konserven so stark zu werden, wie es unser Abscheu vor Kosakenstiefeln war.
Man gestatte mir an dieser Stelle ein kleines privates Geständnis, damit sachliche Mißverständnisse vermieden werden. Mein Mangel an Begeisterung für landwirtschaftliche Maschinen, elektrisch erzeugtes Brot und chemische Eierspeisen resultiert nicht etwa aus einer Veranlagung zum Schollendichter oder aus einer Vorliebe zur Landschaft. Niemals habe ich auch nur in zehn Zeilen bukolische [Fremdwörterbuch: Bukolik = Hirten oder Schäferdichtung] oder romantische Talente verraten, niemals öffentlich eine der beliebten Jahreszeiten besprochen, ja, selbst einen kurzfristigen Sommeraufenthalt vermeide ich gern, fließendes Wasser, warm und kalt, im Zimmer, scheint mir eines der wichtigsten Erfordernisse der Existenz. Dennoch ist ein Hahnenschrei meinem Ohr angenehmer als eine Autohupe, eine Kuhglocke freundlicher als eine Telephonklingel, und der Gesang der Sensen sympathischer als das Gedröhn eines Traktors. Ich begreife selbstverständlich, daß die Autohupen, die Telephonklingeln und die Traktoren die Hähne, die Kühe und die Sensen allmählich zum Schweigen bringen werden, und ich mache mir wenig aus einer so selbstvertändlichen, [selbstverständlichen?] wenn auch peinlichen Entwicklung der Welt. Aber lächerlich wie die Bukoliker erscheint mir der Romantiker der Technik, der den Traktor imposant findet und dem die Konservenmilch besser schmeckt, der sich an Chemikalien delektiert und auf den Motor stolz ist. Und die »Generallinie«, die Stalin dem russischen Volk und dem Weltproletariat vorzeichnet und die Eisenstein uns vorfilmt, propagiert nicht nur den Traktor, sondern auch den naiven Stolz auf den Traktor. Sie preist nicht nur die Resultate des Fortschritts, sondern auch den Fortschritt. Sie wünscht nicht nur die Zivilisation, sie betet auch zu ihr. Sie macht in der Tat aus der Zivilisation die neue Religion, kein Opium für das Volk mehr, kein Schlafmittel, sondern Wachmittel, ein Putz- und Nutzmittel vielleicht auch. Stehe ich aber vor der Wahl, ein übermächtiges Walten zu erkennen: im Brutofen oder in der brütenden Henne, so ziehe ich die Henne vor, und obwohl ich mich noch an das Gedröhn der russischen Kirchenglocken sehr wohl als eine Störung meiner privaten Ruhe erinnern kann, fällt es mir schwer, das nützliche Wunder einer Telephonklingel als eine Art Garantie für eine segensreiche Gegenwart anzuhören oder als eine frohe Botschaft für die Zukunft.Und da nach der offiziellen Kunsttheorie der Sowjets der Inhalt und die Tendenz eines Kunstwerks seinen Wert allein bestimmen, Eisenstein selbst dieser Meinung sein dürfte, bin ich, ein Nichtkenner der Filmgesetze, ausnahmsweise einmal in der Lage, frank sagen zu können: die Generallinie ist ein schlechter Film. Und Eisenstein muß mir recht geben. Der Mißerfolg des Films zeugt gegen ihn (fast ebenso, wie zum Beispiel meine materiellen Mißerfolge für mich zeugen).
Der Potemkinfilm fand eine günstige Bereitschaft: das humane Gewissen Europas, das immer ein Feind des Zarismus gewesen war. Die »Generallinie« findet überhaupt keine Bereitschaft: erstens, weil unsere Maschinenmüdigkeit zu groß ist; zweitens, weil uns Stalins (und selbst Lenins) Programm zu banal ist. Wir haben ganz andere, viel kompliziertere Sorgen. Und allerdings auch noch einen Rest von romantischer Zuneigung zum »rätselhaften Osten«, der sich so lächerlich krampfhaft bemüht, alle seine Rätsel zu erklären, nach der Methode der beliebten Ecke in der Zeitung: Auflösung folgt in der nächsten Nummer . . . (Aus Joseph Roth, Der Scheinwerfer (Essen), März 1930 (Abgeschrieben aus dem Buch Joseph Roth, Berliner Saisonberichte, Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920-39, herausgegeben und mit einem Vorwort von Klaus Westermann, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1984) Aus dem Klappentext: „Joseph Roth (1894-1939) wuchs in Galizien auf. studierte in Lemberg und Wien Germanistik. nahm am 1. Weltkrieg teil. Ab 1918 war er Journalist in Wien. reiste später als ständiger Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung durch Europa. 1933 ging Roth nach Frankreich ins Exil: er starb 1939 in Paris. (ISBN 3 462 01660 1)
Cahiers du Cinema Januar 1990
Zeichnung Helga Bachmann
v.l.n.r. Grigorij Alexandrow, Sergej Michailowitsch Eisenstein, Walt Disney, Edvard Tissé (Kameramann) in den USA
Hallo Eugen, jetzt kaufst Du keine Thueringer Wurst mehr? Wegen dem Wahlergebnis von gestern? Na ich weiß ja nicht. Ob das die richtige Strategie ist? Die Mauer, der antifaschistische Schutzwall, war ja auch keine so gute Idee, letztlich. Und nur wegen eines Wahlergebnisses gleich zum Vegetarier werden? Das hat schon Lubitsch herausgefunden, das das nicht funktioniert. Schließlich hat er den Hitler Schauspieler Bronski vor dem Schlachterladen von Maslowski in Prag fotografiert. Aber dieses Prag war natuerlich in Hollywood. Eine Drehgenehmigung fuer Prag haette die Besatzungsmacht, also wir, sicherlich nicht erteilt.
Hallo Eugen, Maslowskis Wurstladen war gar nicht in Prag? War in Warschau? Und aus dem off ertoent die Stimme »Wir sind hier offensichtlich in Polen?«. Magst Recht haben. Aber die Kulissen waren in Hollywood. Und nun kommst wieder Du, J.
Lothar Danner und der Hamburger Aufstand.
Hallo Eugen, das mit den Thueringer Wuersten, die man nicht mehr kaufen soll, wegen des verheerenden Wahlergebnisses am Sonnntag in Thueringen, hat mir keine Ruhe gelassen. Und deswegen meine Recherche bei der Firma Salzbrenner in der Lagerstraße. Thueringer Wuerste werden hier schon lange nicht mehr verkauft, sagt Frau Trovo, die Verkaeuferin. Krakauer schon. Aber die sind nicht nach dem beruehmten Autor des Buches von »Caligari bis Hitler« sondern nach der Stadt benannt, in der das Rezept fuer diese Wuerste erfunden wurde. Un nun kommst wieder duu, J.
Hallo Eugen, vermutlich wurde in Thueringen nix erfunden und deswegen wird auch der Name nicht mehr benutzt. Die heißen jetzt nur noch »Grillbratwuerste«. Die Recherchekosten (siehe Anlage) betragen 35,01 € (inkl. Steuer). Wie man an dem Beleg erkennt, heißen die anderen Wuerste auch nicht mehr »Wiener«. Obwohl, den Namen gibt es noch. Dafuer muß aber erst eine weitere Recherche erfolgen und finanziert werden, J.
Hallo Eugen, die Zeugin meiner Aussage ist, wie Du dem Beleg entnehmen kannst, die Frau Trovo, mit Vornamen P., die ist schon in dem Laden seit mindestens 30 Jahren, als ich dort zum ersten Mal Wuerstchen, damals auch noch Thueringer Wuerste, gekauft habe, J.
(Zeichen 8.046) Kurt Tucholsky DIE HOCHTRABENDEN FREMDWÖRTER
In der Redaktionspost lag neulich ein Brief. «Liebe Weltbühne! Wenn ich diese Zeilen an dich richte, so bitte ich in Betracht zu ziehen, daß ich nicht ein Zehntel so viel Bildung besitze wie deine Mitarbeiter. Ich gehöre vielleicht zu den primitivsten Anfängern deiner Zeitschrift und bin achtzehn Jahre alt. Dieses schreibe ich dir aber nur, damit du dich über meine folgenden Zeilen nicht allzu lustig machst.
Aus deinen Aufsätzen habe ich ersehen, daß du trotz aller Erhabenheit über die politischen Parteien doch mit den Linksradikalen am meisten sympathisierst.
Schreibst du auch für einen Proleten, der sich in einem Blatt orientieren will, daß er objektiv urteilt? Für den aber ist es, was für den Fuchs die Weintrauben. Also: much to high.
Ich selbst bin auch nur ein Autodidakt und muß öfter das Lexikon zur Hand nehmen, wenn ich die Artikel verfolge. Wenn du darauf Wert legst, die Sympathie und das Interesse der revolutionären Jugend und der einfachen Arbeiterschaft zu erwerben, so sei gelegentlich sparsamer mit deinen hochtrabenden Fremdwörtern und deinen manchesmal unverdaulichen philosophischen Betrachtungen.
Hochachtungsvoll Erna G.»
Hm. Hör mal zu – die Sache ist so:
Etwa die gute Hälfte aller Fremdwörter kann man vermeiden; man solls auch tun – und daß du keine «Puristin» bist, keine Sprachreinigerin, keine von denen, die so lange an der Sprache herumreinigen, bis keine Flecke mehr, sondern bloß noch Löcher da sind, das weiß ich schon. Ich weiß auch, daß es wirklich so etwas wie «hochtrabende» Fremdwörter gibt; wenn einer in Deutschland «phänomenologisches Problem» schreibt, dann hat er es ganz gern, wenn das nicht alle verstehn. So wie sich ja auch manche Schriftsteller mit der katholischen Kirche einlassen, nur damit man bewundre, welch feinen Geistes sie seien . . . Soweit hast du ganz recht. Aber nun sieh auch einmal die andre Seite.
Es gibt heute in Deutschland einen Snobismus der schwieligen Faust, das Fremdwort «Snobismus» wollen wir gleich heraus haben. Es gibt da also Leute, die, aus Unfähigkeit, aus Faulheit, aus Wichtigtuerei, sich plötzlich, weil sie glauben, da sei etwas zu holen, den Arbeitern zugesellen, Leute, die selber niemals mit ihrer Hände Arbeit Geld verdient haben, verkrachte Intellektuelle, entlaufene Volksschullehrer, Leute, die haltlos zwischen dem Proletariat der Arme und dem des Kopfes, zwischen Werkstatt und Büro hin- und herschwanken – und denen nun plötzlich nichts volkstümlich genug ist. Maskenball der Kleinbürger; Kostüm: Monteurjacke. Nein, du gehörst nicht dazu – ich erzähle dir nur davon. Und da hat nun eine Welle von «Arbeiterfreundlichkeit» eingesetzt, die verlogen ist bis ins Mark.
Man muß scharf unterscheiden:
Schreibt einer für die Arbeiter, für eine Leserschaft von Proletariern, so schreibe er allgemeinverständlich. Das ist viel schwerer als dunkel und gelehrt zu schreiben – aber man kann vom Schriftsteller verlangen, daß er gefälligst für die schreibe, die sein Werk lesen sollen. Der Proletarier, der abends müde aus dem Betrieb nach Hause kommt, kann zunächst mit so einem Satz nichts anfangen:
«Die vier größten Banken besitzen nicht ein relatives sondern ein absolutes Monopol bei der Emission von Wertpapieren.»
Dieser Satz aber ist von Lenin («Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus»), und der Satz ist, bei aller Klarheit des Gedankens, nicht für die Straßenpropaganda geschrieben. Denn hier läuft die Grenzlinie:
Die einen betreiben den Klassenkampf, indem sie ihre Schriften verteilen lassen, sie wirken unmittelbar, sie wenden sich an jedermann – also müssen sie auch die Sprache sprechen, die jedermann versteht. Die andern arbeiten für den Klassenkampf, indem sie mit dem wissenschaftlichen Rüstzeug der Philosophie, der Geschichte, der Wirtschaft zunächst theoretisch abhandeln, wie es mit der Sache steht. Lenin hat beides getan; der Fall ist selten.
Die zweite Art Schriftstellerei kann nun nicht umhin, sich der Wörter und Ausdrücke zu bedienen, die bereits vorhanden sind. Ich habe mich stets über die Liebhaber der Fachausdrücke lustig gemacht, jene Affen des Worts, die da herumgehen und glauben, wer weiß was getan zu haben, wenn sie «Akkumulation des Finanzkapitals» sagen, und denen das Maul schäumt, wenn sie von «Präponderanz der innern Sekretion» sprechen. Über die wollen wir nur lachen.
Vergiß aber nicht, daß Wörter Abkürzungen für alte Denkvorgänge sind; sie rufen Gedankenverbindungen hervor, die bereits in den Menschen gleicher Klasse und gleicher Vorbildung schlummern und auf Anruf anmarschiert kommen – daher sich denn auch Juristen oder Kleriker oder Kommunisten untereinander viel leichter und schneller verständigen können als Angehörige verschiedener Gruppen untereinander.
Es ist nun für einen Schriftsteller einfach unmöglich, alles, aber auch alles, was er schreibt, auf eine Formel zu bringen, die jedem, ohne Bildung oder mit nur wenig Bildung, verständlich ist. Man kann das tun.
Dann aber sinkt das Durchschnittsmaß des Geschriebenen tief herunter; es erinnert das an den Stand der amerikanischen Tagesliteratur, die ihren Ehrgeiz daran setzt, auch in Bürgerfamilien gelesen werden zu können, bei denen kein Anstoß erregt werden darf.
Und so sieht diese Literatur ja auch aus. Will man aber verwickelte Gedanken, die auf bereits vorhandenen fußen, weil keiner von uns ganz von vorn anfangen kann, darstellen, so muß man sich, wenn nicht zwingende Gründe der Propaganda vorliegen, der Fachsprache bedienen. Keiner kommt darum herum.
Auch Lenin hat es so gehalten. Oder glaubst du, daß seine Schrift «Materialismus und Empiriokritizismus» (*) für jeden Proletarier ohne weiteres verständlich sei? Das ist sie nicht. Wer über Kirchengeschichte des zweiten Jahrhunderts schreibt, kommt ohne die lateinischen Ausdrücke der damaligen Zeit nicht aus.
Soll er eine Übersetzung beigeben? Schopenhauer platzte vor Wut bei dem Gedanken, solches zu tun; er wurzelte aber – bei aller Größe – in dem Ideal der humanistischen Bildung seiner Zeit und seiner Klasse; er hatte recht und unrecht.
Es gibt heute bereits eine Menge Schriftsteller und Zeitschriften, die jedem fremdsprachigen Zitat die Übersetzung folgen lassen; es ist Geschmackssache.
Ich tue es selten; ich zitiere entweder gleich auf deutsch oder manchmal, wenns gar nicht anders geht, lasse ich die fremdsprachigen Sätze stehn – dann nämlich, wenn ich das, was in den fremden Wörtern schlummert, nicht übertragen kann.
Man kann alles übersetzen – man kann nicht alles übertragen. Es gibt zum Beispiel gewisse französische Satzwendungen, Wörter . . . die sind so durchtränkt von Französisch, daß sie auf dem Wege der Übersetzung grade das verlieren, worauf es ankommt: Klang, Melodie und Geist.
Nun kenne ich das Gefühl sehr wohl, das einen beseelt, der solches liest und der nicht oder nicht genügend Französisch kann. Man kommt sich so ausgeschlossen vor. Man fühlt die eigne Schwäche; man wird böse, wütend . . . und man wälzt diese Wut, die eige
ntlich der eignen Unkenntnis (verschuldet oder nicht) gilt, auf den andern ab.
Ich spreche zum Beispiel miserabel Englisch und verstehe es kaum, und es hat jahrelang gedauert, bis ich mit dem Verstande dieses dumpfe Wutgefühl aus mir herausbekommen habe. Lese oder höre ich heute Englisch, so schmerzt es mich, es nicht gut zu verstehen – aber ich bin auf den Schreibenden oder Sprechenden nicht mehr böse. Er kann doch nichts dafür, daß ich es so schlecht gelernt habe.
Siehst du, so ist das.
Es ist kein Verdienst der Söhne, wenn ihre Väter so viel Geld hatten, daß sie die Söhne aufs Gymnasium schicken konnten, gewiß nicht und was in den meisten Fällen dabei herauskommt, wissen wir ja auch. Aber unterscheide gut, Erna, zwischen den beiden Gattungen, die da Fremdwörter gebrauchen: den Bildungsprotzen, die sich damit dicke tun wollen, und den Schriftstellern, die zwischen «induktiv» und «deduktiv» unterscheiden wollen und diesen Denkvorgang mit Worten bezeichnen, die geschichtlich stets dieser Bezeichnung gedient haben. Die Intellektuellen eines Volkes sollen nicht auf dem Niveau von schnapsdumpfen Gutsknechten stehn – sondern der Arbeiter soll in Stand gesetzt werden, die intellektuellen Leistungen der Gemeinschaft zu verfolgen. Nicht: reinlich gewaschene Körper sind ein Abzeichen von Verrat am Klassenkampf – sondern: alle sollen in die Lage gesetzt werden, sich zu pflegen. Den Körper, Erna, und den Geist.
Zuerst erschienen in WB (Die Weltbühne), 16/573 ―15.04.30, III/418 Abgeschrieben im Dritten Band der Gesamtausgabe (Dünndruck, Seite 418 – 421)
Leider hatte ich bei meinen Sonderzeichen nicht das verwandte Zeichen in dem Buchdruck. Deswegen habe ich diese Zeichen genommen: « ―»
Hier die Wiederholung:„Soll er eine Übersetzung beigeben? Schopenhauer platzte vor Wut bei dem Gedanken, solches zu tun; er wurzelte aber – bei aller Größe – in dem Ideal der humanistischen Bildung seiner Zeit und seiner Klasse; er hatte recht und unrecht:“
Rowohlt Verlag
Damit man es nicht suchen muß: (*)Empiriokritizismus= (Duden Fremdwörterbuch) Seite 265 = erfahrungskritische Erkenntnistheorie, die sich unter Ablehnung der Metaphysik allein auf die kritische Erfahrung beruft. Präponderanz= Duden Fremdwörterlexikon Seite 799 = Übergewicht (z.B. eines Staates)Sekretion= (Duden Fremdwörterbuch) Seite 901- 1.) (Med.) = Vorgang der Produktion und Absonderung von Sekreten durch Drüsen 2.) (Geol.) = das Ausfüllen von Hohlräumen im Gestein durch Minerallösungen. induktiv= Seite 433 (Duden Fremdwörterbuch) 1.) Vom Einzelnen zum Allgemeinen hinführend. 2) Durch Induktion wirkend. deduktiv= Seite 199 (Duden Fremdwörterbuch)= Den Einzelfall aus dem Allgemeinen ableitend.
Zur Zeit wird etwas reichlich auf Rußland herumgehackt; es vergeht wohl keine Morgen- und keine Abendausgabe der bürgerlichen Provinzpresse, in der nicht diesem wenig inserierenden Lande eins ausgewischt wird. Zum Beispiel – im nürnberger <8-Uhr-Blatt> – so: «Stalin von seinen Kollegen verprügelt. Es wurden Rufe wie <Verräter! Betrüger>usw. laut: Stalin sprach nun die Unzufriedenen an, die auf ihn dann mit den Fäusten losgingen und ihn verprügelten. Nur ein intimer Freund und Landsmann. Stalins, Ordshonikidse, rettete ihn vor Schlimmerem. Dieser bat, sich an das Schicksal eines Robespierre und Termidore zu erinnern, der Skandal und die Unzufriedenheit innerhalb der Parteileitung dürfe nicht in die Außenwelt dringen.» Genau so. Wahr ist vielmehr: «Am 9. Danton, dem bekannten Revolutionsmonat, hat Stalin, der übrigens in Wahrheit an Lenins Stelle in Moskau einbalsamiert worden ist, die Sozialisierung aller russischen Frauen verfügt.
Davon sind insbesondere die katholischen Priester schwer betroffen worden; Trotzki, der Erfinder der Guillotine, hat seine Stellung als bayerischer Gesandter in Peking daraufhin niedergelegt. Alle Kinder in Rußland sind verhungert, der Rest wurde in Uniformen eingekleidet und muß Militärdienst tun. Kulak, der Führer der aufständischen Kulaken, hat mit Bolschew ein Bündnis geschlossen: Stalin wurde von den blutgierigen Agenten der U. A. W. G. (der russischen Geheimpolizei) verurteilt, allabendlich das nürnberger <8-Uhr-Blatt> zu lesen. An seinem Aufkommen wird gezweifelt. Die Lage in Rußland ist trostlos; es ist dort fünf Minuten vor acht.» Der Wunsch ist der Vater der Telegramme. Und es ist ein Doppelwunsch: es soll Rußland schlecht gehen, damit es den heimischen Arbeitern nicht zu gut gehe. Erstveröffentlicht unter dem Namen Ignaz Wrobel, in Die Weltbühne, vom 27. Mai 1930, Nr. 22, S. 810. Zitiert nach Gesammelte Werke, Kurt Tucholsky. Dünndruckausgabe in drei Bänden, Band III, 1929 -1932, Seite 458. Deutscher Bücherbund, Stuttgart, Hamburg.