Waldemarstrasse 81 Berlin 1972/1975/ und 2011

Es geschah am 1. Mai 1975 . . . (und später) in der Fotografie Nummer 7 sieht man das Gesicht eines wichtigen Helfers in dieser Sache: Rainer Graff

wibleibendrin-2walde25022011By-nc-sa_colorIMG_3013WirbleibendrinFotos vom 1. Mai1975 und vom 25. Februar 2011 von Helmut Schönberger,   Jens Meyer und unbekannten Fotografen und Fotografinnen                                              ?  Mariannenolatz25022011Mariannenplatz225022011Wandmalhttps://www.medienberatungev.org/?p=2247werbleibtwodrin0001werbleibtwodrin

Ein Brief an die Malerinnnen 2020 aus der Walde 81 in Berlin Kreuzberg:1. Mai 1975. Das ist lange her. Vermutlich im Zuge von Wärmedämmung und Dachbodenausbau ist: >WIR BLEIBEN DRIN< verschwunden.

Nun gut. Wir hätten, als wir das damals gemalt haben, nicht gedacht, dass das Bild 45 Jahre erhalten bleibt. Immerhin eine lange Zeit: Im INFO BUG Nr. 56 Preis 0,50 DM vom 5. Mai 1975 (eine wöchentliche Zeitung der Spontis, wie wir uns damals nannten, haben wir es beschrieben). Hier eine Abschrift der Seite 2:______________________________________

WER BLEIBT WO DRIN?

Im INFO 43 stands schon mal: Wir, die 20-köpfige-Hausgemeinschaft (15 Erwachsene, 5 Kinder) bleiben drin in Kreuzberg, in unserem Haus Waldemarstraße 81. Das Haus liegt im “Sanierungs“ gebiet Kreuzberg Nord: ob Abriß oder sauteure Modernisierung wissen sie angeblich noch nicht, jedenfalls sollen wir ‚rausgeschmissen‘ werden.Der letzte Termin war der 28. Februar, aber: WIR SIND IMMER NOCH DRIN. Und um für jedermann deutlich zu machen, daß wir auch in Zukunft drin bleiben werden, haben wir uns am Tag der Arbeit an die Arbeit gemacht und einen Maienbaum besonderer Art errichtet (vergleiche Titelblatt). Der Aufwand für die Malaktion war relativ gering: kein Gerüst, die 30 Freunde und Genossen pinseln die Hauswand an, indem alle gleichzeitig aus den Fenstern hängen – angebunden oder an den Beinen festgehalten. Kosten für Material und Farbe ca. 250,- DM. Dauer: 3 – 4 Stunden (bei anschließendem gemütlichen Zusammenhocken, lockeren Gesprächen mit den Nachbarn und Passanten: bis zu 12 Stunden). Das Wichtigste daran war aber, daß alle, die mitmachten, sich mit der Aktion identifizieren konnten; endlich mal wieder ’ne Sache, an der wir uns alle gleichmäßig und gleichzeitig beteiligen, die wir wirklich zusammen machen konnten. Kurz und bündig: Wir hatten sehr viel Spaß dabei. Um Sinn und Zweck der Aktion zu vermitteln, hatten wir Flugblätter in türkischer und deutscher Sprache vorbereitet, die wir schon während der Bemalung an die Leute verteilten, die vom Volksfest auf dem Mariannenplatz herüberkamen, und wir dann später in die Briefkästen im Sanierungsgebiet steckten. Schon zu dem Zeitpunkt war zu spüren, daß die Aktion gut angekommen ist; auch auch jetzt im Moment, wo wir diesen Artikel schreiben, kann man immer wieder ältere Omis in ihren Bart murmeln hören, daß das “aber schön gemalt“ sei; kann man sehen, das der BVG-Bus jedesmal das Tempo drosselt, um allen Fahrgästen einen Blick auf das Haus zu ermöglichen; oder daß außer Polizisten auch normale Bürger aus ihrem Auto steigen, um mal eben ein Foto zu machen. WIR BLEIBEN DRIN, denn wir haben hier Wurzeln geschlagen.“ (Spalte 2) Das Motiv und die Schrift an der Aussenfassade sollen aussagen, daß wir hier in Kreuzberg verwurzelt sind, daß Sanierung nicht ein technisches, nur ein Altbau-/Neubau-Problem ist, sondern daß da sehr viel mehr dranhängt. Neben materiellen Dingen wie billige Mieten , große Wohnungen, Fabriketagen heißt “Kreuzberg“ für uns eben auch soziale Kontakte, Nachbarn, Freunde, Kneipen, Wohngemeinschaften, Kinderläden usw.. Das ist die Basis für unseren Selbstorganisation, die wir uns nicht kaputt machen lassen dürfen, wenn wir überleben wollen. Wenn wir die Räumung verhindern wollen, brauchen wir die anderen Kreuzberger. In dieser direkten – materiellen und ideellen- Betroffenheit liegt aber der Unterschied zur traditionellen Stadtteilarbeit. Diese Betroffenheit läßt es nicht mehr zu, daß wir den anderen Kreuzbergern “gegenüberstehen“ als “Alleswisser“, die den wissenschaftlichen Sozialismus gefressen haben: wir sind nur noch Betroffene wie sie, der Kontakt ist von vornherein solidarischer.

Hier ist eine Anzeige eingeklebt: Warum geht es mir so dreckig?

Mit unseren bisherigen Aktivitäten wie Zeitung, Flugblätter, Hausbesuche, Organisierung von Mieterfesten, oder auch ‚Besuch‘ von Herrn Koennecke, dem Geschäftsführer der senatseignenen Sanierungsgesellschaft BEWOGE mit 25 Leuten, haben wir immerhin erreicht, das wir “bis auf weiteres“ drin bleiben können. Es ist uns aber vollkommen klar, daß dies nur ein kleiner Aufschub ist, und daß die Bedrohung um keinen Deut geringer geworden ist. Um zu überlegen, wie das zu leisten ist, um die nächsten Aktionen vorzubereiten, treffen wir uns:

Jeden Mittwoch. 20.00 Uhr, Waldemarstr. 81

Bartelsstrasse Toxisches Treppenhaus

1. Mai 1975 Auch ohne Gerüst kann gemalt werden
1. Mai 1975

Waldemarsstrasse19756R Waldermarstrass19755RWaldermarstrasse1975 Waldemarstrasse19758 WaldemarstrassePlakatWaldemarstrasse19757By-nc-sa_colornilpferd_tumbIMG_3280IMG_3288

Im Esszimmer neben der Küche:

Walde Tapete gerettet (Text darüber ist leider auf dem Foto nur teilweise sichtbar). Nach meiner Erinnerung lautete das Zitat:
„Im Sozialismus darf es keine Tabus geben. Erich Honecker. 18.12. 1971“. Im Internet Archiv der Zeitung >Die Zeit< (abgerufen am 8. November 2019) findet sich folgende Version: „Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht“, sagte Honecker Ende vergangenen Jahres, „kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben“. Klingt irgend wie glaubwürdig, auch wenn >Die Zeit< nicht schreibt, wo sie das Zitat wann abgeschrieben haben. Wie man auf dem Foto erkennt, wurde von uns damals nicht >Die Zeit<, sondern das >NEUE DEUTSCHLAND<- (Zeitung der SOZIALISTISCHEN EINHEITSPARTEI DEUTSCHLANDS) zitiert, die am 18.12.1971 dieses Zitat gedruckt hatte. Bleibt die Frage, wie der Maler oder die Malerin dieses Bildes zu dieser Information gekommen war?
Einen Käufer oder Abonnenten des >NEUEN DEUTSCHLAND< (einer sehr langweiligen Tageszeitung, wenn ich mich recht erinnere) hat es in der Walde 81 nicht gegeben. Es gab jedoch eine Abonnentin im Haus (leider schon verstorben), die die Zeitung des westberliner Ablegers der SED, der SEW (SOZIALISTISCHE EINHEITSPARTEI WESTBERLIN) >DIE WAHRHEIT< bezog. Wo der Zeichner oder die Zeichnerin die restlichen Jünger versteckt hat? Vielleicht war der Platz nicht da? Jesus sprach zu seinen Jüngern: Wenn Du keine Gabel hast, friss mit den Fingern. Oder etwas vornehmer . . . dann iss mit den Fingern!

*Die Malerei hatte der Zeichner damals direkt auf die Rauhfasertapete gemalt. Als dann neue Rauh-fasertapete geklebt werden sollte, hatten wir ein Problem, das wir gelöst haben (wie man sieht). Jens
Wikipedia: Die Vorlage von Leonardo da Vinci. Da soll er drei Jahre lang von 1495 – 1498 dran gemalt haben, meint Wikipedia. Unser Tapetenbild ist sehr viel schneller gemalt worden. Von wem, das ist leider nicht überliefert.
Foto 1975 (noch ohne Bemalung)
Schon mal hat ein Künstler versucht unser Bild abzumalen.

45 Jahre sind genug?

Ein Brief an die Malerinnnen 2020 von den Malerinnen vom 1. Mai 1975 aus der Walde 81 in Berlin Kreuzberg:

1. Mai 1975. Das ist lange her. Vermutlich im Zuge der Wärmedämmung und Ausbau des Dachgeschosses ist: >WIR BLEIBEN DRIN< verschwunden.

Nun gut. Wir hätten, als wir das damals gemalt haben, nicht gedacht, dass das Bild 45 Jahre erhalten bleibt. Immerhin eine lange Zeit. Im INFO BUG Nr. 56 Preis 0,50 DM vom 5. Mai 1975 (eine wöchentliche Zeitung der Spontis, wie wir uns damals nannten), haben wir unsere Malarbeit beschrieben.

Hier eine Abschrift der Seite 2 “WER BLEIBT WO DRIN? Im INFO BUG 43 stands schon mal: Wir, die 20-köpfige-Hausgemeinschaft (15 Erwachsene, 5 Kinder) bleiben drin in Kreuzberg, in unserem Haus Waldemarstraße 81. Das Haus liegt im “Sanierungs“-gebiet Kreuzberg Nord: ob Abriß oder sauteure Modernisierung wissen sie angeblich noch nicht, jedenfalls sollen wir ‚rausgeschmissen‘ werden. Der letzte Termin war der 28. Februar, aber: WIR SIND IMMER NOCH DRIN. Und um für jedermann deutlich zu machen, daß wir auch in Zukunft drin bleiben werden, haben wir uns am Tag der Arbeit an die Arbeit gemacht und einen Maienbaum besonderer Art errichtet (vergleiche Titelblatt). Der Aufwand für die Malaktion war relativ gering: kein Gerüst, die 30 Freunde und Genossen pinseln die Hauswand an, indem alle gleichzeitig aus den Fenstern hängen – angebunden oder an den Beinen festgehalten. Kosten für Material und Farbe ca. 250,- DM Dauer: 3 – 4 Stunden (bei anschließendem gemütlichen Zusammenhocken, lockeren Gesprächen mit den Nachbarn und Passanten: bis zu 12 Stunden) Das Wichtigste daran war aber, daß alle, die mitmachten, sich mit der Aktion identifizieren konnten; endlich mal wieder ’ne Sache, an der wir uns alle gleichmäßig und gleichzeitig beteiligen, die wir wirklich zusammen machen konnten. Kurz und bündig: Wir hatten sehr viel Spaß dabei. Um Sinn und Zweck der Aktion zu vermitteln, hatten wir Flugblätter in türkischer und deutscher Sprache vorbereitet, die wir schon während der Bemalung an die Leute verteilten, die vom Volksfest auf dem Mariannenplatz herüberkamen, und wir dann später in die Briefkästen im Sanierungsgebiet steckten. Schon zu dem Zeitpunkt war zu spüren, daß die Aktion gut angekommen ist; auch auch jetzt im Moment, wo wir diesen Artikel schreiben, kann man immer wie-der ältere Omis in ihren Bart murmeln hören, daß das “aber schön gemalt“ sei; kann man sehen, das der BVG-Bus jedes mal das Tempo drosselt, um allen Fahrgästen einen Blick auf das Haus zu ermöglichen; oder daß außer Polizisten auch normale Bürger aus ihrem Auto steigen, um mal eben ein Foto zu machen. “WIR BLEIBEN DRIN,denn wir haben hier Wurzeln geschlagen.“ (Spalte 2) Das Motiv und die Schrift an der Aussenfassade sollen aussagen, daß wir hier in Kreuzberg verwurzelt sind, daß Sanierung nicht ein technisches, nur ein Altbau-/Neubau-Problem ist, sondern daß da sehr viel mehr dranhängt. Neben materiellen Dingen wie billige Mieten, große Wohnungen, Fabriketagen heißt “Kreuzberg“ für uns eben auch soziale Kontakte, Nachbarn, Freunde, Kneipen, Wohnge-meinschaften, Kinderläden usw.. Das ist die Basis für unseren Selbstorganisation, die wir uns nicht kaputt machen lassen dürfen, wenn wir überleben wollen. Wenn wir die Räumung verhindern wollen, brauchen wir die anderen Kreuzberger. In dieser direkten – materiellen und ideellen- Betroffenheit liegt aber der Unterschied zur traditionellen Stadtteilarbeit. Diese Betroffenheit läßt es nicht mehr zu, daß wir den anderen Kreuzbergern “gegenüber-stehen“ als “Alleswisser“, die den wissenschaftlichen Sozialismus gefressen haben: wir sind nur noch Betroffene wie sie, der Kontakt ist von vornherein solidarischer. Hier ist eine Anzeige eingeklebt:
Warum geht es mir so dreckig? Mit unseren bisherigen Aktivitäten wie Zeitung, Flugblätter, Hausbesuche, Organisierung von Mieterfesten, oder auch ‚Besuch‘ von Herrn Koennecke, dem Geschäftsführer der senatseignenen Sanierungsgesellschaft BEWOGE mit 25 Leuten, haben wir immerhin erreicht, das wir “bis auf weiteres“ drin bleiben können. Es ist uns aber vollkommen klar. daß dies nur ein kleiner Aufschub ist, und daß die Bedrohung um keinen Deut geringer geworden ist. Um zu überlegen, wie das zu leisten ist, um die nächsten Aktionen vorzubereiten, treffen wir uns: Jeden Mittwoch. 20.00 Uhr, Waldemarstr. 81

Abgeschrieben in der Bernhard Nochtstrasse (Parallel Strasse zur: St. Pauli Hafenstrasse). Für ALLE ABSCHREIBER gilt: Man sollte doch darauf achten, das das ABGESCHRIEBENE auch RICHTIG ist. Hier wurde FALSCH abgeschrieben. Die Hafenstrasse meint etwas ANDERES, was auch an dem beigefügten Bild (siehe oben) deutlich wird. Regel Nr. 1 beim ABSCHREIBEN lautet immer: Was man nicht im Kopf hat, sollte man auch nicht aus dem Ärmel schütteln.

Berlin. Mariannenplatz. 1974.
Foto Jens Meyer. Mariannenplatz. Berlin. 1974

Zeise Propeller Fabrik

ZeisePropeller1zeiseverstellpropellerzeisepropellerrohling

 

zeisePropeller2ZeisePropeller3Foto 1/2/3/4 unbekannter Fotograf      Foto 5 Jens Meyer (Zeise nach der Stilllegung), die vier anderen Fotos wurden im Sperrmüll gefunden.By-nc-sa_color

IMG_3013Foto 6 ist aus dem Nachlass des Photographen Werner Hensel (1893 – 1986)

Auf der Suche nach Henschel 15 / 18 Seiten Recherchen 1989 und einen Text von der Stolpersteinverlegung

PDF Fritz Kuhnert UFA Auszug aus Bericht 15 Seiten

PDF Auf der Suche nach Henschel 15 SeitenManuskript

Abschrift:

A U F   D E R   S U C H E   N A C H   H E N S C H E L

Vielleicht ist die Geschichte ganz einfach erklärbar. Vielleicht einfach so: DIE BANKEN KÜNDIGEN DIE KREDITE. Das Unternehmen wird zahlungsunfähig und muss Konkurs anmelden. Ein Konkurrent hatte seine Hand im Spiel, der Markt sollte bereinigt werden. Oder so: Henschel ist Jude und die Nazis ARISIEREN die Firma. Einer mit “deutschem oder artverwandten Blut“ bekommt einen Kredit und erwirbt die Firma fürn “Appel und Ei“. Der Name Henschel verschwindet. Keiner erinnert sich noch heute gerne an die “freundschaftliche Arisierung“, wie der Enteignungsvorgang von den Nazis genannt wurde. Mancher “deutsche“ Bäckermeister, mancher “deutsche“ Schlachtermeister kam auf diese Weise an einen eigenen Betrieb.

Oder so: Das Unternehmen musste mit der Einführung des Tonfilmes so große Mengen Geldes in die neuen Tonfilmgeräte stecken, dass die Firma Tobis oder die Firma Siemens Klangfilm die Großtheater übernommen haben, als die fälligen Raten nicht rechtzeitig bezahlt wurden. Oder so: Die Firma zeigte zu viele “antideutsche Filme“, die noch von den den Nazis “unabhängigen“ Filmverleihe wurden gezwungen, das Unternehmen Henschel nicht mehr zu beliefern. Begonnen hat alles mit einem anderen Konzern, der heute die Kinostruktur weitgehend beherrscht. Ein vertikaler Konzern, sagen die Filmwissenschaftler. Von diesem Konzern weiß keiner so recht, welche Ziele denn außer Geldverdienen noch verfolgt werden. Und über den es keine Öffentlichkeit gibt. Und das aus verschiedenen Gründen: Das Publikum ist an den Besitzverhältnissen der Abspielstellen nicht interessiert, der Konzernbesitzer hat die Printmedien im festen Griff über die Anzeigenabteilungen. Keine Zeile gegen die großen Anzeigenkunden. Geld ist eben immer noch die beste Waffe. Auch die Bank der deutschen Filmwirtschaft, genannt Filmförderungsanstalt will sich seinem Zugriff nicht entziehen. Mit den Zinssätzen kann keine andere Bank in Konkurrenz treten. Das vollzieht sich nach Recht und Gesetz, soll der Hebung der Filmkultur auf breiter Grundlage dienen und arbeitet doch nur nach dem alten Bibelspruch: “Wer hat, dem wird gegeben…“. Doch gibt es auch Widersprüche. Nicht immer lassen sich Redakteure ihre Texte von der Anzeigenabteilung diktieren. Manchmal bringen sie noch schnell 90 Zeilen irgendwo unter, weil sie doch in Wut geraten sind. Und das will etwas bedeuten. Schließlich setzen sie einen gut bezahlten Arbeitsplatz aufs Spiel. Am nächsten Tag ist das Geschrei jedenfalls groß über die veröffentlichte Wahrheit. In der Folgezeit interessieren sich dann nur noch die Juristen mit ihrer Gebührenordnung, die sich nach dem Streitwert richtet, für die 90 Zeilen über den Konzern. Bei der Finanzstärke des Kinokonzerns bleibt ein solcher Prozess eben nicht aus. Dann geht es durch 2 Instanzen, Streitwert 1.5 Millionen (DM). Würde dieser Betrag pro Druckzeile umgelegt, dann würde das pro Zeile 17.000,00 DM geben. Kein schlechtes Zeilenhonorar. Nach dem Prozess sind dann alle schlauer, insbesondere die, die für ein viel geringeres Zeilenhonorar arbeiten. Für den fehlenden Mut, sich mit den Großen anzulegen gibt es allerlei Rationalisierungen. Ausrutscher passieren in Zukunft nicht mehr, es wird jeden Monat neu lamentiert und an der Oberfläche gekratzt. Grundsätzliches wird besser nicht erörtert und das Publikum interessiert sich sowieso nicht für die Zusammenhänge. Die schamlose Ausbeutung des Filmpublikums ist im “mutigen“ Zeitungsdeutschland keine Zeile wert. Das verweist auf die Geschichte und die Zusammenhänge. Auch damals “im Dritten“ konnte nur gewählt werden zwischen “Keine Veröffentlichung – kein Auskommen“ und “Kopf an der Garderobe abgeben – aber dafür gut leben“. Auch hier wieder die Rationalisierungen für den fehlenden Mut. Die Geschichte vom Mc. Donalds für die Augen.

Der Schirmherr des deutschen Films (Foto in Agfacolor) legt fest, was ein deutscher Film ist: “Deutsche Filme sollen künftig nur von Deutschen hergestellt werden. Deutsch aber ist, wer deutscher Abstammung, deutschen oder artverwandten Blutes ist. Seitdem können allein Filme als deutsche Filme anerkannt werden, die von einer d e u t s c h e n Gesellschaft in d e u t s c h e n Ateliers mit d e u t s c h e r Idee, d e u t s c h e m Autor, d e u t s c h e n Komponisten und d e u t s c h e n Filmschaffenden hergestellt sind. Durch jene Begriffsbestimmung des deutschen Films wird es möglich, in verhältnismäßig kurzer Zeit die jüdischen Einflüsse in der Produktion, dem Verleihgeschäft wie dem Filmtheaterwesen auszumerzen.“ J.G.

Kein Deutscher mehr

Am 28. Januar 1935 wird im Reichsanzeiger veröffentlicht, daß Ernst Lubitsch die deutsche Staatsbürgerschaft verloren hat.

IST HENSCHEL AUSGEMERZT WORDEN?

Wenn ich noch heute Hautreizungen bei dem Wort “deutscher Film“ bekomme, wen wundert das eigentlich?

Doch Abschaffung des Kinos durch Filmtheaterkonzerne? Durch Mc. Donalds für die Augen? Seit wie vielen Jahren ? Die Zusammenarbeit von Phantasie und Kapital hat “Sein oder Nichtsein“ hervorgebracht. Widersprüche. Was wenn Henschel sein Geld aus den Filmtheatern abgezogen hat, weil er im Waffengeschäft höhere Rendite erwartete und schließlich auch belohnt wurde mit dem zweiten Weltkrieg? Weitsichtiger Mann vielleicht? Der schon ahnte, dass 1943 durch Fliegerbomben 90 % seiner Kinos zerstört werden würden? Fakten sind gefragt. Der Vater: Im Dezember 1905 eröffnet James Henschel das “Helios Theater“ in der Großen Bergstr. 11-15 in Altona (Preussen). Das Theater hat 500 Sitzplätze. Henschel “kam von der Konfektion“ (wie Lubitsch). 1918 verkauft er seine Häuser und seine Firma Monopol Film Verleih an die neugegründete UFA (und andere Kinobesitzer) und “zieht sich ins Privatleben“ zurück. 1919 ist das Sturmjahr der Kommunalisierungsbewegung der Filmtheater. Im Badischen Landtag ebenso wie in Frankfurt a. M., Halle, München und anderen Orten fordert man staatlicher- oder städtischerseits die Kommunalisierung der Kinobetriebe. In München kam es dabei im September bis Dezember 1919 zu einem Kinostreik, denn der Stadtmagistrat forderte bis zur Durchführung der Kommunalisierung eine hundertprozentige Lustbarkeitssteuer. Am 11. November 1919 geht von der UFA eine ausführliche wohlbegründete Stellungnahme in der Angelegenheit an das Reichswirtschaftsministerium. Sie schließt mit dem nachdrücklichen Hinweis, dass bei einer Kommunalisierung der Theater schwere Gefahren für den Fortbestand unserer Gesellschaft und damit eine Gefährdung der Reichsbeteiligung bei unserer Gesellschaft drohen. Am 15. April 1920 stellt die Unabhängige Sozialdemokratie einen Antrag auf Kommunalisierung der Lichtspielhäuser. Er wird vom Reichstag abgelehnt. Ein Antrag der Linken auf Sozialisierung der Filmbetriebe wurde 1919 vom Reichstag als nicht zulässig an die Länder verwiesen.“

Henschels Schwiegersöhne Hermann Urich Saß und Hugo Streit beginnen 1919 mit dem Neuaufbau eines norddeutschen Kino Konzerns. (Henschel Film- und Theater Konzern OHG). Das “APOLLO THEATER“ in Hamburg Hammerbrook, Süderstrasse 56 mit 456 Sitzplätzen, das “CITY THEATER“ Steindamm 9 mit 550 Sitzplätzen, die “SCHAUBURG AM HAUPTBAHNHOF“, Mönckebergstr. 8, mit 883 Sitzplätzen, die “SCHAUBURG UHLENHORST“, Winterhuder Weg 106, mit 680 Sitzplätzen werden von ihnen gepachtet. 1926 (noch vor Beginn der Tonfilmzeit) beginnen sie mit dem Neubau riesiger Lichtspielpaläste. Im Februar 1927 wird die “SCHAUBURG AM MILLERNTOR“, Reeperbahn 1 / Ecke Circusweg mit 1156 Sitzplätzen eröffnet. Architekt ist Carl Winand. Ein Restaurant für 500 Gäste wird ebenfalls errichtet. Bauzeit 4 Monate. Baukosten etwa 500.000,– RM. “Ein geräumiger Vorraum führt zur Empfangshalle. Von hier aus ist der Zuschauerraum zu betreten. Breit angelegte Treppen führen zum Ranggeschoß. Notausgänge in genügender Anzahl nach dem Cirkusweg. Zu beiden Seiten der Bühnenwand ist eine Oskalyd Orgel mit Fernwerk von der Firma Furtwängler & Hammer aus Hannover eingebaut. Die Bühnenwand zeigt vor der Bildfläche einen Raum für Vorspiele.“

Und eine Korrektur aus der Festschrift die “im Februar 1927 unseren Besuchern überreicht wird“ der Herr heißt nicht Hermann Ulrich Saß, sondern Hermann Urich Saß. Ist deswegen sein späteres Verschwinden nicht bemerkt worden? Die Schwiegersöhne müssen mit Geld gut ein(ge)deckt sein, denn von nun an geht es Schlag auf Schlag: Im September 1928 kommt die “SCHAUBURG HAMMERBROOK“, Süderstrasse 73, mit 1450 Plätzen dazu. Architekt Georg Koyen. “1924 wurde auf dem Platz Süderstrasse von privater Seite eine Markthalle errichte, die aber nicht bestehen konnte. Am 16. September 1928 wird das Kino nach gründlichem Umbau eröffnet.“ Es folgen 1928 die “SCHAUBURG BARMBECK“, Denhaide 91-95 mit 1100 Sitzplätzen, 1929 die “SCHAUBURG WANDSBEK“, Hamburger Strasse 7, mit 1100 Sitzplätzen. Weitere Theaterneubauten 1929 sind: die “SCHAUBURG NORD“, Fuhlsbüttler Str. 165, mit 975 Plätzen und die “SCHAUBURG HAMM“, Hammer Landstr. 6-8, mit 1520 Sitzplätzen. Der “HENSCHEL FILM UND THEATERKONZERN“ wie er jetzt genannt wird, mit Sitz in Hamburg 36, Dammtorstr. 27 (direkt zwischen OBERSCHULBEHÖRDE UND STADTTHEATER-heute “Staatsoper“) pachtet bis Ende 1929 weitere Theater: das “BURG THEATER“ in Hamburg Rothenburgsort, Billhörner Röhrendamm 79-83 mit 410 Sitzplätzen und 1930 übernimmt Firma Henschel aus das ehemalige “Gründungs Kino“ des James Henschel “HELIOS THEATER“ in der Großen Bergstrasse 11-15 und wandelt es in die “SCHAUBURG ALTONA“ mit 500 Sitzplätzen um.  Damit verfügt das Unternehmen Henschel 1930 über 12 Filmtheater mit insgesamt 10.731 Sitzplätzen. Auch hier drängen sich Vergleiche zur Gegenwart auf. 1988 also 58 Jahre später hat der “Ramschladen“ Kino Besitzer (Hanseatisches Oberlandesgericht 6. Mai 1982) ebenso viele Sitzplätze in Hamburger Kinos. Henschel spielte in seinen Kinos die unabhängige Ware: Die neuen Filme von Chaplin, die “Russenfilme“ von Eisenstein, Vertov, Dowschenko (“ARSENAL“-nebenbei nach diesem Film von Dowschenko sind auch in Hamburg zwei Kinos benannt, aber noch nie dort gezeigt worden). Doch sicher auch die gängige Durchschnittsware. Doch andere Filme als in der Firma des “Geheimen Finanzrates Hugenberg“ der UFA. Dieser Konzern eröffnet sein neues Großkino im “DEUTSCHLANDHAUS“ Valentinskamp / Ecke Dammtorstrasse (Architekten Block und Hochfeld) mit 2600 Plätzen am 21.12.1929 mit dem deutschen Film von Leni Riefenstahl und Arnold Fank: “DIE WEISSE HÖLLE VOM PIZ PALÜ“ einem Film eben jener Dame die bei dem “Schirmherr des deutschen Films Josef Goebbels“ mit dem “Triumph des Willens“ (1934) so große Erfolge erringen konnte. Zur Eröffnung waren die 2600 Plätze des “UFA PALAST“ mit Vertretern des Senats, der Bürgerschaft und der Behörden besetzt. Unter der Regie von Hugenberg und Klitzsch (der gleichzeitig Vorsitzender der SPIO war) hielt die UFA die vermeintliche “deutsche“ Tradition hoch.“ Ähnliche Gründe bestimmen die UFA, keine Werbefilme linksgerichteter Zeitungen in den UFA Theatern zuzulassen, und 1929 lehnt man ab, für den amerikanischen Film “IM WESTEN NICHTS NEUES“ Atelierraum zur Synchronisation oder gar Theater zur Vorführung zu Verfügung zu stellen . . . Aus der gleichen Haltung heraus fasst man den Entschluss,  dass die UFA künftig keine sowjetrussischen Filme mehr für ihre Theater mietet . . . man wahrte unbedingte Zurückhaltung, wenn ausländische Bestrebungen sich gegen das d e u t s c h e Ansehen wandte oder von weltanschaulich untragbar erscheinenden Tendenzen geleitet wurden.“ Stattdessen wird dist“. er Reinertrag des Filmes “DER WELTKRIEG“ (1927) . . .der Erstaufführung zum Besten der Hindenburg Spende überwiesen“. Auch hier drängen sich Vergleiche auf. 1937 übernehmen die Nazis die Aktienmehrheit der UFA und gründen zur “Verwirklichung nationalsozialistischer Ziele“ den UFI Konzern. Nach der Kapitulation des Dritten Reiches werden beide Unternehmen von der Besatzungsmacht erneut zusammengefasst. Kurz darauf wird die UFA “Reprivatisiert“ und die UFI kraft Gesetzes aufgelöst. Die UFA (privat) entsteht neu in Gestalt zweier Teilgesellschaften der “UNIVERSUM FILM AG“ und der “UFA THEATER AG“. 1964 übernimmt die “Bertelsmann-Gruppe“. 1971 wird der Verkauf an Riech vorbereitet. Am 1. Januar 1972 übernimmt Riech die zum Verkauf gestellten Aktien mit einem Nominalbetrag von 12,5 Millionen DM. Über den Verkaufspreis liegen keine exakten Zahlen vor. Die Fachpresse spricht von 30-40 Millionen DM. Kurz gefasst die Geschichte der UFA: General Ludendorf – Hugenberg – Goebbels – Bertelsmann – Riech. Eine Kette von Namen. Die Firma Henschel ist nicht dabei. Bleibt Fakt: Die Firma „Henschel Film- und Theaterkonzern KG“ hat ein Kapital von 300.000,– RM. 1933 im Jahre der Machtübergabe wird eine Gesellschaft mit 20.000,– RM gegründet. Die Firma trägt den Namen: “SCHAUBURG LICHTSPIELBETRIEBSGESELLSCHAFT mit beschränkter Haftung“: Geschäftsführer Paul Romahn, Hamburg Bergedorf, Karolinenstr. 10 und Gustav Schümann, Oberaltenallee 22. P1040974MöllersKamp10kleinWohnhaus von Paul Romahn (1933) in Bergedorf, Karolinenstrasse 10 (Heute Möllers Kamp 10)

Foto Mai 2018 Foto Jens Meyer By-nc-sa_colorNilpferdeinauge

Prokurist: Robert Stauffenberg, Dannerallee 22, Bank: Commpribank. Diese Gesellschaft übernimmt 1934 mit 20.000.– RM (Kapital) 11 von 12 Filmtheatern der Firma „Henschel Film- und Theaterkonzern KG“. In den Adressverzeichnissen der Filmwirtschaft wird die Firma Henschel von nun an (1934) als „Henschel Film- und Theaterkonzern KG“ mit der neuen Anschrift: Spitaler Str. 12 geführt. Drei Jahre später (1937) taucht in eben den gleichen Adressverzeichnissen eine “J. HENSCHEL GMBH“ in Hamburg 36 mit einem Kapital von 300.000,– RM auf. Geschäftsführer der GmbH: Paul Lehmann, Alexander Grau, Max Stüdemann, Rudolf Schmidt. Als Bank wird angegeben: DEDIBANK. Welche Geschäfte da noch geführt werden? Wo doch alle Kinos verkauft oder verpachtet sind? Doch der Eintrag im Filmtheateradressbuch taucht auch 1939 noch auf: Ein Jahr später (1940) wird die Bank der J.Henschel GmbH gewechselt. Von nun an ist es die “DEUTSCHE BANK“. Auch die andere Gesellschaft, die “SCHAUBURG LICHTSPIELTHEATER GMBH ROMAHN UND SCHÜMANN“, wie sie sich 1941 nennt, wechselt zur Commerzbank. Eine neue zusätzliche Prokuristin wird eingestellt: Gretel Dubbert, Roßberg 5. Der eine Geschäftsführer Gustav Schümann zieht in die Goßlerstr. 84 in Wandsbek. 5 Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkriegs (1950) gibt es im Adressverzeichnis keine J.HENSCHEL GMBH mehr. Die “Lichtspieltheatergesellschaft Romahn und Schümann hat (1950) eine neue Anschrift: Hamburg 21, Adolphstr. 22. (Heute 2018 Herbert Weichmann Strasse 22)P1050011HerbertWeichmannstrassekleinWohnhaus von Paul Romahn und Gustav Schümann in der Adolphstrasse 22 (1951) (Heute: Herbert Weichmannstrasse 22)By-nc-sa_colorNilpferdzweiaugen

Foto (Mai 2018) Jens Meyer

Zurzeit keine weiteren Spuren aufzufinden. Bei meinen Recherchen gerate ich an den alten Judenfriedhof in Altona. Heute liegt er verlassen zwischen Königsstrasse und Nobistor unweit des ehemaligen “HELIOS FILMTHEATERS“ des James Henschel. Die meisten “SCHAUBURGEN“ wurden von amerikanischen und englischen Bomberpiloten beseitigt. Nur eine Schauburg ist noch übrig: Die “SCHAUBURG UHLENHORST“ im feineren Stadtviertel gelegen. Alle anderen 11 Kinos in Barmbek, Hamm, Hammerbrook, Altona, St. Pauli und Wandsbek sind zerstört. Auch die Schauburg gegenüber des Judenfriedhofes existiert nicht mehr. Eine Mauer aus Klinkerstein und ein verschlossenes Gartentor. Kein Hinweis, keine Tafel, kein Name weist darauf hin, was sich hinter dieser Mauer befindet. Aber zwischen vielen Bäumen, die wohl erst nach dem Krieg gepflanzt wurden, stehen Grabsteine in jüdischer Manier. Einige Grabplatten sind dicht nebeneinander in die Erde eingelegt. Auch im Falk Plan kein Hinweis auf den Judenfriedhof, wo doch jedes öffentliche Klo, jede Post und jede noch so kleine Pup-Firma “lagerichtig“ eingetragen sind. Dagegen ein Stadtplan von 1914. Zwischen Großer Bergstrasse (dieser Teil der Großen Bergstrasse heißt heute Nobistor) und Königstrasse ein Isrealitischer Friedhof mit einer Teilung. Auf der Seite der Großen Bergstrasse die deutschen Juden, auf der kleinen Ecke zwischen Blücherstrasse und Königstrasse der Teil des Friedhofs für die portugiesischen Juden. Dort liegen die großen Steine nebeneinander in der Erde. Portugiesische Juden? Warum die Heimlichkeit? Wem gehört das Grundstück? Ein “wertvolles“ wie sich Altonaer Bezirkspolitiker gerne ausdrücken. Ein gleich großen Grundstück wie das auf dem bis 1943 eine Garnison und ein Lazarett standen, das 55 Jahre brach lag und nun doch so schnell bebaut werden soll, als käme es bei 55 Jahren auf ein paar Monate an. Und das nach Auskunft der FDP Altona doch zu wertvoll für einen Park oder einen Spielplatz ist. Da muss schon richtig Geld verdient werden. Doch selbst wenn sich auf diesem jüdische Friedhof ein Zugang finden liesse: Die meisten Juden, denen die Deutschen und Artverwandten das Eigentum und das Leben nahmen, sind sicher nicht auf Friedhöfen beerdigt worden. Die “Gnade der späten Geburt“. Es gibt in der Branche noch einige, die von früher berichten könnten. Der Theaterleiter des Streits Herr Franke (Einfügung 2017: Oswald Franke geb. 10. November 1914), zwar Angestellter des Riech Konzerns hilft weiter: Der Gustav Schümann hat ja lange bei dem Henschel Konzern gearbeitet. Er hat einen Sohn, den Tim Schümann, seine Firma Schümann und Haberland hat auch lange die Barke in der Mönckebergstrasse betrieben, vielleicht weiß der was. “Ich war solange im Krieg und als ich wieder kam war ja alles zerstört“. Doch kann ich ihn offen fragen, wie der Vater zu der Kinokette des Henschel Konzerns mit 20.000,– RM Kapital gekommen ist? Und wenn ich frage, wird er eine ehrliche Antwort geben? Ich rufe an. Doch auch er weiß am Telefon wenig über den Verbleib des Henschel Konzerns zu sagen. Ein Zweig der Familie lebt in Brasilien, ein anderer in Mexiko. Das ist die einzige Ausbeute am Telefon. Soll ich den Sohn des mutmaßlichen Arisierers genauer fragen, ohne dass ich selbst aus anderer Quelle genauere Informationen besitze? Vor der Reise nach Brasilien müssen doch auch hier Informationsquelllen sein, die noch nicht verschüttet sind. Vielleicht wurde Wiedergutmachung beantragt und gewährt. Und wenn nicht? In Altona gibt es noch einen alten Kinobesitzer Herrn Timmermann (Hugo Timmermann), er betrieb ein Kino in der Thedestraße 68 (bis 1945 Bürgerstraße). In den 50iger wurde die gesamte Häuserzeile abgerissen, damit eine “Asbesthalle“ (die Aula der Gesamtschule Bruno Tesch) entstehen konnte. (Anmerkung 2017: Die Bruno Tesch Gesamtschule wurde inzwischen auch abgerissen. An gleicher Stelle wurde eine neue Gesamtschule gebaut, die auch einen anderen Namen erhielt. Statt eines Kommunisten wurde die Schule nach einer in Hamburg unbekannten SPD Genossin benannt: Louise Schröder). Herr Timmermann ist jetzt 83 Jahre alt und bekommt schon alles durcheinander. Er will jetzt auch nicht mehr über die Vergangenheit sprechen, aber früher soll er ein gebildeter Mann gewesen sein. Doch was soll ich jetzt mit seinen Informationen, auf die man sich nicht mehr verlassen kann. Auch Meta Schultrich vom “OLYMPIA PALAST“ in der Bachstraße “die mit den Erdbebenfilmen“ ist verstorben. Und die Jüngeren wie Robert Naht haben erst nach dem Kriege in der Branche als Vorführer angefangen. Doch von Riech Kinos hält er nichts.“Was dieser Mann mit den Kinos gemacht hat, ist wirklich eine Schweinerei“. Die Kinder der Bruno Tesch Gesamtschule wären ganz glücklich, wenn statt der Aula mit Asbest noch das alte Kino stehen würde. Aber auch ihnen hat niemand etwas über das Grundstück der Schule und das Kino erzählt. Die Einsicht ins Handelsregister erscheint als möglicher Weg. Doch die normale Unternehmensform für Filmtheaterbetriebe ist in der Regel nicht die eintragungspflichtige Kapitalgesellschaft. Und die Rechtsform des Henschel Konzerns zum Gründungszeitzpunkt durch Hermann Urich-Saß und Hugo Streit ist unklar.DER DEUTSCHE FILM“ Mitteilungsblatt der 1933 gegründeten Reichsfilmkammer, herausgegeben von Dr. Fritz Hippler, der heute noch zufrieden von seiner guten Pension lebt, liegt in der Bücherei der Landesbildstelle Hamburg in seiner vollständigen Ausgabe zwischen 1933 und 1941 vor. Es ist nicht einfach festzustellen, ob die Monatszeitschrift aus Berlin später nicht mehr erschienen ist oder nur nicht mehr bezogen wurde. Die vorliegenden Ausgaben enttäuschen mich. Sie entsprechen nicht dem Bild der Reichsfilmkammer, das ich mir gemacht habe. Ausgesprochen modern und relativ neutral. Kaum Angriffe gegen Juden oder jüdische Firmen. Jedenfalls keine Hinweise auf “Arisierung von Filmtheaterbetrieben“ wie die Enteignung von den Nazis damals genannt wurde. Wie viele “deutsche“ Bäckermeister sind damals auflegale“ Weise in den Besitz einer Bäckerei gekommen? In der Geschichte findet sich nur das ganz “Große“: Die Enteignung der Kaufhäuser, der Fabriken, der Reedereien. Auch die Alliierten untersuchen in den OMGUS Berichten nur die großen Geldschiebereien. Vom Henschel Konzern auch hier keine Spur. Mir fällt die Demonstration durch das ehemalige „Judenviertel“ in Hamburg Harvestehude wieder ein und die Nachdenklichkeit, die mich damals beim Gang durchs Villenviertel beschlichen hat. Die großen Häuser, die teuren Grundstücke und wie leicht es den Nazis gewesen sein muss, die Juden als die “Blutsauger“ des Volkes hinzustellen, mit deren Ausrottung alle sozialen Ungerechtigkeiten zu beseitigen wären. Und auch der Gedanke, dass die hier lebenden Juden wahrscheinlich gar nicht in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten gelandet sind, sondern in Nord- und Südamerika. Vernichtet wurden doch wohl die armen Juden. Wie der Bombenhagel, der auf Hammerbrook und Altona aber nicht auf Harvestehude und Blankenese niedergegangen ist. Das “Kellerloch am Hauptbahnhof“ sein Besitzer hat es “Kino Center am Hauptbahnhof“ genannt, sieht heute noch genauso aus, wie es Wolf Donner es 1975 in seinem 90 Zeilen Wutausbruch (in der Zeit) beschrieben hat. Die Zuschauer lassen es sich gefallen, dass Bilder nur halb zu sehen sind, dass Versorgungsleitungen die Sicht behindern, dass in der einen Schachtel der Ton von der anderen Schachtel zu hören ist. Sie sind wie der Feuerwehrmann, der diese Räume abgenommen hat. Warum er überall beide Augen zugedrückt hat, waren überall Blaue (100 Mark Scheine) verteilt? Wer will im Falle eines Brandes verantworten, wenn aus dem Kellerloch nur noch wenige lebend herauskommen? Dem Publikum ist es scheints egal, wie und auf welche Weise ihnen die Ware geboten wird. Auch die Besitzverhältnisse interessieren niemand, wo die Kohle hingeht, die sie an der Kasse abdrücken müssen. Die Fassade des “UFA-PALASTES“ (vom ursprünglichen “LESSING THEATER“ keine Spur) wird renoviert. “Nun warten wir doch erst einmal ab, was der Riech das vorhat. Wir haben schon genug auf ihm herumgehauen“. sagt der Szene Filmredakteur, der niemanden etwas zuleide tun will.

NOSTALGIE

Die Filmgeschichte besteht aus Produktionsfirmen, aus Regisseuren, aus Schauspielern, Kameraleuten, Filmarchitekten, Drehbuchschreibern und großen Verleihfirmen. Für die Händler, die die Ware an das Publikum bringen interessiert sich die Filmgeschichte nicht. Und wenn Filme über Kinobesitzer entstanden sind, dann haben sie mit der Realität wenig zu tun: Interessant sind nur abseitige oder nostalgische Personen und Geschichten: Die Dorfkinobesitzerin, die nach dem verlorenen Kriege das Kino wieder renoviert hat, selbst Kohlen klauen gegangen ist, damits im Kino warm wurde, das gibt einen Film. Die anderen sind keine Zeile und kein Bild wert. Doch sie sind der eigentliche Motor des Geschehens. Sie bestimmen letztendlich, ob sich ein Film realisieren kann. Und dies geschieht erst, wenn der Film gezeigt wird, egal wo. Und diese Struktur der Besitzverhältnisse bestimmt letztlich auch, welche Filme an die Öffentlichkeit gelangen und welche nicht. 1930 jedenfalls ist die Zeit des Gemüsehändlers, der seinen Laden zum Kino umbaut, längst vorbei. Mit der Einführung des Tonfilmes kommen Banken und Elektrokapital im Kino zum Zuge. Sie können die hohen Investitionen bezahlen, die durch Einführung des Siemens Klangfilmsystems notwendig geworden sind. Sollte es das sein, was den Henschel Konzern 1934 verschwinden lässt? Ein anderer Kino Konzern, der auch Produktionsfirmen hatte: der “EMELKA KONZERN“ verschwinden 1932 auf diese Weise, geht pleite und wird in der BAVARIA FILM mit Unterbrechungen bis heute fortgeführt. Aber Henschel? Heinz Riech wird 1922 in Ostpreußen geboren. (Am 5. Juli 1922 in Adlig Kermuschienen in Ostpreussen, gest. am 11. Januar 1992). Dort soll er Großhandelskaufmann und landwirtschaftlicher Inspektor gelernt haben. Nach der Flucht vor der Roten Armee eröffnet er 1945 in Hiltrup im Münsterland sein erstes Kino. Rührende Geschichten werden von der Ehefrau erzählt, die noch in der Nacht vor der Eröffnung mit der Nähmaschine an dem Vorhang näht. 1952 hat er bereits drei weitere Kinos: Die “FILMBÜHNE ALBERSLOH“, in der Trensteinfurther Str., die “FILMBÜHNEWOLBECK“, in der Bahnhofstr. 227, die “RÖMERLICHTSPIELE“ in Gemmendorf, Albersloher Weg. Gewiß ein Kinounternehmer der ersten Stunde. Mit dreissig Jahren bereits vier Kinos. Heute mit 66 Jahren (andere wären da längst im Vorruhestand) besitzt er knapp vierhundert Kinos und verfügt durch seine Stellung in den Großstädten über weitere 200 Kinos, die von ihm abhängig sind. Die kleinen Kinobesitzer hören es nicht gern, denn “abhängig“ hört sich nicht gut an. Hamburg und Frankfurt gehören ihm ganz, hier kann er entscheiden, welcher Film in welchem Kino wie lange laufen soll. In Berlin teilt er sich den Kuchen mit einem anderen, ob immer freundschaftlich   – Geschäft ist eben Geschäft – bleibt zu fragen. Auch scheinbar unsinnige Anmietungen wie das “Studio am Pferdemarkt“ in der Bernstorffstr. in Altona, oder das “Cinema“ in der Bundesallee in Berlin machen unter dem Gesichtspunkt der Marktbeherrschung einen Sinn. Und auch wenn der Szene Redakteur Schröder (Nicolaus Schröder) nur Rachefeldzüge zwischen Riech und dem neuen Konkurrenten Flebbe erkennen kann, dahinter verbirgt sich doch das geschäftliche Kalkül. Der neue – Hans Joachim Flebbe aus Hannover – muß sich jedenfalls beeilen, will er denn genauso groß werden wie Riech, hat er doch erst knapp 90 Kinos. Doch hinter diesen Kämpfen um Marktanteile scheint es ein Gesetz zu geben das so ähnlich funktioniert wie beim Kampf der Lebensmittelketten. Zunächst ist es so: DIE GROSSEN FILMVERLEIHER BELIEFERN NUR DIE GROSSEN FILMTHEATERBESITZER MIT ATTRAKTIVEN SPRICH “KASSENSTARKEN“ FILMEN. Alle anderen Kinobesitzer kommen erst dran, wenn die Ware von den Großen schon völlig “ausgelutscht“ ist. Gemäß dem Brecht Zitat: “Wenn du nicht untergehen willst, musst du dich wehren, das wirst du doch verstehen.“ – wehrt sich der kleine Kinobesitzer auf Marktwirtschaftart – die einzige, die ihm zur Verfügung steht. Er muss versuchen, anderen Filmtheaterbetrieben lukrative Filme abzujagen, und so schnell wie möglich das Imperium mit anderen Kinos zu vergrößern. Je mehr Kinos, desto mächtiger ist der Kinobesitzer gegenüber den Verleihen. Desto größer der Umsatz, desto leichter ist die Übernahme weiterer Kinos. Und damit weitere Auswahlvielfalt. Was zunächst ein Ziel mit auch kulturellem Inhalt ist, wird ab einer bestimmten Betriebsgröße nebensächlich. Dann geht es nur noch um die Einspielergebnisse. Inzwischen hat er selbst für die Umstellung des Publikums gesorgt: Es sind die KIDS zwischen 12 und 19 Jahren. Eine Umstellung bei der jetzigen Betriebsgröße auf eine andere Besuchergruppe, denen das Kino schon lange abgewöhnt wurde, kostet viel Geld. Also lässt er es. Schließlich kommt es zur nächsten Phase: Der Konzern wird unübersichtlich. Fehlinvestitionen bleiben nicht aus. Der Konzern geht pleite und wird von dem nächsten Neueinsteiger mit neuen Ideen übernommen. Dafür gibt es im Nachkriegsdeutschland eine Reihe von Beispielen in Verleih – und Filmtheaterbereich: Die Firma Atlas des Jungunternehmers Eckelkamp, er investierte aufgrund guter Geschäftsergebnisse (z.B. Bergmann “Das Schweigen“) in die Produktionen, die eine große Summe Geldes für lange Zeit banden (z.B. Tati: “Traffic“ und Kawalerovicz “Pharao“) und der ehrgeizige Aufbau eines 16 mm Verleihs für nichtgewerbliche Zwecke. Das Unternehmen muß Konkurs anmelden und die Auswertung der Filme wurde von verschiedenen Auffanggesellschaften übernommen. Auch die “NEUE FILMKUNST WALTER KIRCHNER“ hat in den 60iger Jahren Unsummen in den Aufkauf und Ausbau der “Lupe Kinos“ gesteckt. Wohl auch in der Erwartung, dass die Geschäftslage des eigenen Filmverleihs mit gleicher “Filmkunststaffel“ immer so weiter geführt werden könne. Die Neuanschaffung von Filmen wurde aus Kostengründen zurückgestellt. Kaum setzte die “Filmkunstflaute“ ein, konnten die aufgenommenen Kredite nicht mehr zurückgezahlt werden. Das Unternehmen meldete Konkurs an, musste eine Reihe von Lupe Kinos (bis auf 2 Kinos in München und Köln) verkaufen und konnte die Lizenzen von gut gehenden Titeln wie z. B. “Sein oder Nichtsein“ von Ernst Lubitsch nicht mehr verlängern. (Flebbe mit Impuls Film griff zu). Auch hier wieder eine Auffanggesellschaft: Die Lupe GmbH. Und der Henschel Konzern? Wird der Film darauf eine Antwort finden? Das weiß ich heute noch nicht. Ich habe das Gefühl, ich stehe erst am Anfang der Recherche und der Zuschauer wird alles Mögliche erfahren aber nicht unbedingt über das Schicksal des Henschel Konzerns der Schwiegersöhne des James Henschel aus der Textilbranche. Vielleicht ist die Geschichte ganz einfach erklärbar. Vielleicht einfach so: DIE BANKEN KÜNDIGEN DIE KREDITE. Das Unternehmen wird zahlungsunfähig und muß Konkurs anmelden. Ein Konkurrent hatte seine Hand im Spiel, der Markt sollte bereinigt werden. Oder so: Henschel ist Jude und die Nazis ARISIEREN die Firma. Einer mit “deutschem oder artverwandten Blut“ bekommt einen Kredit und erwirbt die Firma fürn Appel und n Ei. Der Name Henschel verschwindet: Keiner erinnert sich heute noch gerne an die “freundschaftliche Arisierung“, wie der Enteignungsvorgang von den Nazis genannt wurde. Mancher “deutsche“ Bäckermeister, mancher “deutsche“ Schlachtermeister kam auf diese Weise zu einem eigenen Betrieb. Warum nicht auch ein Filmtheaterbesitzer?

Hamburg, d. 16. April 1989 Otto Meyer

Ps: Eltern machen das manchmal, dass sie ihren Kindern mehrere Vornamen verpassen. Vermutlich damit das Kind überhaupt irgend was erbt, wenn sie nicht mehr sind. Mir haben sie drei gegeben. Und die müssen ja für irgend was gut sein.

(Folgt eine Kalkulation für einen Film auf U-Matic High Band). Bei der Durchsicht und Abschrift dieses Textes aus dem Jahr 1989 fällt mir auf, dass sich wenig sachliche Fehler in meinen Recherchen und Vermutungen befinden, die in diesem Text verarbeitet sind. Immerhin ist der Text jetzt schon 28 Jahre alt und fast alle Vermutungen haben sich bestätigt. Insbesondere die Beraubung und Ausplünderung der Hamburger Jüdischen Kinobesitzer. Insbesondere die, die damals Kinder und Jugendliche waren und von mir befragt wurden, als ich knapp 40 und sie 76 Jahre alt waren. Meist hatten sie als Kinder keine Kenntnis davon, dass sie Juden waren, weil sie sehr freiheitlich erzogen wurden. Die Religion kam ganz zuletzt. Überraschend ist, dass sich alle Deutschen bereichert haben, egal ob sie mit den Ansichten der Nazis übereinstimmten oder nicht. Auch das Waterloo Theater und das Thalia Kino wurde jüdischen Kinobesitzern „weggenommen“. Hamburg, d. 6. November 2017  Jens Meyer

Foto vom Thalia Kino Grindelallee 116 in Hamburg von Marc Lissauer. Das  Foto ist nach dem 17. Oktober 1928 entstanden. Das erkennt man an dem angezeigten Film mit Ossi Oswalda „Das Haus ohne Männer“, dessen Start war am 17. Oktober 1928. Mark (Hermann) Lissauer ist zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt. (geb. am 18. März 1923. Seine Mutter Pauline (Paula) Lissauer flieht zusammen mit ihrem Sohn am 18. März 1937 aus Deutschland nach Rotterdam. Hermann ist gerade 14 Jahre alt geworden. Pauline stirbt 1989. Mark Lissauer stirbt am 28. Februar 2016 in Elwood in Australien. Frida und Jeremias Henschel waren seine „dritten Großeltern“. In einer Mail schreibt Mark Lisssauer aus Australien: „Frida sass an der Kino Kasse und fuhr abends zusammen mit James Henschel und der Waschbalje voll mit 10 Pfennigstücken per Droschke nach Hause. Vor dem Belle Kino gab es auch eine elektrische Strassenbahn, die sie manchmal benutzten.“ThaliaKino1

By-nc-sa_colornilpferd_tumbBelleAllianceBallsaal1908Anmerkung 2018: Die Bildunterschrift ist eine Falschmeldung (um 1908). Bereits am 1. Januar 1906 war hier das Unternehmen: VORFÜHRUNG LEBENDER PHOTOGRAPHIEN“ in den ehemaligen Ballsaal eingebaut. Das Buch mit diesem Bild und diesem Text erschien im Christians Verlag.

Stolpersteine Reeperbahn 1 Ecke Zirkusweg

Text vom 24. Oktober 2017

Hier werden heute zwei Stolpersteine für den jüdischen Kinounternehmer Hermann Urich Sass verlegt.

Hermann Urich Sass hat sich am 27. Januar 1933 das Leben genommen. Er wurde am 30. Januar 1933 auf dem jüdischen Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf beerdigt. Der Selbstmord wurde lange Zeit verschwiegen.

Während meiner Studienzeit von 1970 bis 1974 an der dffb hielt ich mich auch oft in der Bibliothek der Film- und Fernsehakademie auf. Dort gab es die »Reichskinoadressbücher«, sauber geordnet nach Jahren, Städten und Verleihbezirken. Im Bezirk Hamburg/Norddeutschland fiel mir ein Unternehmen auf, das sich »Henschel Film- und Theaterkonzern« nannte und im Laufe der Jahre 1934 bis 1938 erst den Besitzer und dann auch noch den Namen wechselte. Weitergehende Literatur über den »Henschel Film- und Theaterkonzern« fand ich nicht. Verwundert war ich über die Bautätigkeit dieses Konzerns und die Größe der Kinos. Sie waren im Krieg alle zerstört worden. Dann hab ich die Sache vergessen.

Erst 1987 habe ich den Faden wieder aufgenommen. Es muss doch herauszubekommen sein, warum so viele Kinos zwischen 1933 und 1938 den Besitzer gewechselt haben, dachte ich, und machte mich über die Mikrofilme her, von denen ich wusste, dass sie in der Bibliothek der dffb zu finden waren. Es sollten Recherchen für einen Dokumentarfilm werden. Vielleicht verbarg sich hinter dem Verschwinden eine spannende Geschichte, die bisher niemand beachtet hatte.

Ich weiß nicht, ob jemand schon mal längere Zeit vor einem Mikrofilm-Lesegerät verbracht hat. Es ist langweilig, mühselig und in der Sache ermüdend. Besonders dann, wenn man eigentlich nicht weiß, was man sucht. So ging es mir auch, und ich wollte die Sache schon aufgeben. Aus der systematischen Suche von Januar bis Dezember wechselte ich in den Modus der unsystematischen Suche nach bestimmten Tagen in bestimmten Jahren. Also machte ich mich auf die Suche nach den Tagen, die man uns im Geschichtsunterricht als wichtig beigebracht hatte: die Ermordung des Thronfolgers, Kriegserklärung, erster Weltkrieg, Kapitulation, Flucht des Kaisers nach Belgien, Aufstand der Matrosen, schwarzer Freitag, Inflation, Hamburger Aufstand und der Tag der „Machtergreifung“, wie ich diesen Tag damals ebenfalls nannte. (Der Hamburger Aufstand wurde im Unterricht meist vergessen).

In der Lichtbild-Bühne (LBB) fand ich dann die Meldung:

Am 27. Januar 1933 verstarb in Hamburg der Kinounternehmer Hermann Urich Sass und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Hamburg Ohlsdorf am 30. Januar 1933 um 15.00 Uhr beerdigt.“

Das Grab in Ohlsdorf war mit Hilfe des Friedhofswärters schnell gefunden. Anders als andere Religionen, die nur 25 Jahre ihre Steine stehen lassen, sollen die Gräber der Juden dort bis zum jüngsten Tag stehen. Der Friedhofswärter bemerkte die goldene Schrift auf dem Stein und kommentierte trocken: „Da hat er ja die ganze Scheiße nicht mehr miterleben müssen.“ Dem konnte ich zustimmen und war noch neugieriger als vorher. Ich dachte bei mir: Ein klug gewähltes Todesdatum. Ohne dieses Datum hätte ich weder das Eine noch das Andere erfahren. Der Grabstein war gut erhalten, und es sah so aus, als wenn jemand für diese Grabpflege bezahlen würde. Die erste Spur auf der Suche nach glaubwürdigen Zeugen.

Auf 15 Schreibmaschinenseiten notierte ich meine Recherchen und meine Vermutungen über den „Henschel Film- und Theaterkonzern“ und gab dieses Manuskript bei der Friedhofsverwaltung des Jüdischen Friedhofes Ohlsdorf ab mit der Bitte, dieses Manuskript an diejenigen weiterzureichen, die für die Grabpflege bezahlten. Und habe gewartet. Nach drei Wochen erhielt ich Antwort. Aus Belo Horizonte in Brasilien. Aus Beverly Hills in den USA. Aus Mexico City. In den Briefen schrieben der Sohn von Hermann Urich Sass – Horst Urich Sass – und die Söhne von Hugo Streit – Rolf Arno Streit und Carl Heinz Streit.

Der Henschel Film- und Theaterkonzern war eine Firma, die ihren Vätern Hermann Urich Sass und Hugo Streit gehört hatte. Auch ihre Großeltern waren schon Kinobesitzer gewesen. Jeremias Henschel und seine Frau Frida haben das Gewerbe angefangen.

In der Zwischenzeit war es mir gelungen, das Filmbüro Hamburg auf meine Entdeckung aufmerksam zu machen. Für ein Filmprojekt stellten sie 80.000 DM zur Verfügung. Eingetroffen in Belo Horizonte und Beverly Hills war die erste Frage der Emigranten: „Warum dauert das so lange, dass mal einer aus Deutschland kommt und fragt, wo die Kinobesitzer von damals geblieben sind?“ Ich hatte keine Antwort. Selbst kannte ich nur unglaubwürdige Zeugen zu Hauf.

Der Ordnung halber habe ich bestimmte Schubladen in meinem Kopf für ihre Abfälle bereitgestellt. Einen hatten wir mal vor dem Mikrofon, vor das er gar nicht wollte. Doch während wir sein Fotoalbum filmten, das er von seinem Vater geschenkt bekommen hatte mit der Widmung “Zur Erinnerung an die alten guten Zeiten“, hatten wir doch glatt vergessen, das eingebaute Mikrofon an der Kamera abzustellen. So konnten wir seinen Lügen von damals auch noch Jahrzehnte später lauschen.

Die Darstellung der Geschichte der deutschen Kinobesitzer, die erst 1933 zu solchen wurden, ist fast immer gleich. Da wird davon geschwafelt, der Vater, der Großvater habe das Kino einem Menschen abgekauft und habe es dann seinem Sohn oder seiner Tochter vererbt. Diese Geschichte wird immer wiederholt und ist ebenso falsch wie verlogen.

Einer hatte während der Nazizeit auch andere, amerikanische Filme gezeigt. Nach dem Krieg war er der einzige Kinobesitzer in Hamburg, der nicht Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen gewesen war. Lange nach seinem Tod fand ich dann heraus: Auch er hatte “sein Kino” einem Juden weggenommen. Dieser hatte überlebt und forderte nach dem Krieg sein Eigentum zurück. Aber die deutsche Justiz war nicht auf Seiten der beraubten Juden. Ein “Obernazi”, der in Hamburg maßgeblich die Enteignung der jüdischen Kinobesitzer vorangetrieben hatte, trat gar als Zeuge der “Beklagten” auf und wurde nicht direkt im Gerichtssaal verhaftet, was eigentlich hätte passieren müssen. Am Ende haben sie Manfred Hirschel ein Almosen für sein Waterloo-Kino gegeben

(5.000,00 DM). Sie haben es „Vergleich“ genannt.

Billy Wilder hat 1942 den Film „Der Major und das Mädchen“ gemacht. Er kam am 16. September 1942 in die amerikanischen Kinos. Bei uns kam er nicht in die Kinos. Man konnte ihn zum ersten Mal am 7. Januar 1972 im deutschen Fernsehen bewundern. Der Film spielt im New York von 1942. In einem Vorspanntitel ist zu lesen: “Im Jahr 1626 kauften die Holländer den Indianern New York ab. Im Jahr 1942 war kein Indianer mehr da, der dies bedauern konnte.“

Dieser Satz passt auch auf die Situation in Deutschland im Jahre 1945.

Als Billy Wilder als Offizier der amerikanischen Armee nach Deutschland zurückkehrte, war seine erste Tätigkeit, einen Dokumentarfilm aus den Aufnahmen zu machen, die amerikanische Kameramänner in den deutschen Konzentrationslagern gemacht hatten. Den Film „Todesmühlen“ wollte keiner sehen. Nicht zu vergleichen mit den Zuschauerzahlen, die Veit Harlans Film „Jud Süß“ ein paar Jahre zuvor erzielt hatte. Ein Bestseller, obwohl es dieses Wort damals noch nicht gab.

Befragt, ob man in Oberammergau 1947 die Passionsspiele aufführen dürfe, äußerte sich Billy Wilder so:

Wir hatten nur ein bißchen recherchiert. Da war eins ganz klar geworden: Das Ensemble, ob Römer, ob Juden oder Jünger hatte natürlich so gut wie ausschließlich aus Nazis bestanden. Und am schlimmsten war derjenige, der den Jesus spielen sollte: Anton Lang war in der Waffen-SS gewesen. Durfte er den Jesus spielen? Ich habe meinem Kollegen damals die folgende Antwort diktiert: Sie dürfen spielen, aber nur unter einer Bedingung: dass Sie richtige Nägel benutzen.”

Vielleicht wäre es mit Hilfe solcher Drohungen schneller gelungen, die Täter dingfest zu machen und zu bestrafen. Und der Prozess der Aufarbeitung wäre nicht so unvollständig geblieben. Selbst heute, vierundachtzig Jahre später, suchen wir immer noch nach den Tätern. Nur damit so etwas hergestellt werden kann, das man Gerechtigkeit nennen könnte.

Vor knapp dreißig Jahren habe ich dem Sohn von Hermann Urich, Horst Urich Sass, versprochen, dass ich über den Selbstmord seines Vaters so lange schweige, bis er selber und seine Gattin Ciedra Urich Sass verstorben sind. Ciedra Urich Sass ist 2016 in Beverly Hills gestorben.

Aus den umfangreichen Unterlagen des späteren Staatskonzerns UFA kann man die Beweggründe des Selbstmordes von Hermann Urich Sass genau herauslesen.

Die Herren der UFA wussten bei den Verhandlungen von 1930 bis 1933 mit dem Henschel Film- und Theaterkonzern genau, das die Zeit für sie arbeitete und sie nur ein wenig Geduld haben müssten, bis ihnen der Henschel-Konzern in die Hände fallen würde. Das Material, das uns heute von der UFA vorliegt, belegt dies. Damals waren diese internen Berichte der UFA den Verhandlungspartnern aus Hamburg sicher nicht bekannt. Ich vermute, es gehört eine besondere Gabe dazu, bestimmte Entwicklungen in der Gesellschaft vorauszusehen. Hermann Urich Sass verfügte offenbar über diese besondere Gabe.

Wer die Geschichte von Jeremias und seiner Frau Frida Henschel untersucht, wird zu ähnlichen Erkenntnissen kommen. Selbst die Enkelkinder, denen es nicht komisch war, dass sie drei oder mehr Omas und Opas hatten, verfügten offensichtlich über die Gabe, bestimmte Entwicklungen zu erahnen. Oft haben sie ihre Omas, die in den Kinos an der Kasse saßen, besucht, um selbst von den Bildern zu naschen, die dort präsentiert wurden. Und manchmal sind sie mit ihnen nach dem Kino nach Hause gefahren. An die Waschbalje voller Münzen und an die Straßenbahnen haben sie noch Erinnerungen. Alles ist schon mehr als siebzig Jahre her. Auch an die heimlichen Besuche der Tanzlokale, die ihren Eltern gehörten und die man doch erst im Alter von achtzehn Jahren betreten durfte, haben sie noch Erinnerungen. »Faun« am Gänsemarkt war so ein Tanzlokal, im Haus des Kinos Lessing-Theater.

Einer von ihnen ist letztes Jahr verstorben. (Am 28. Februar 2016). In Australien. Geboren in Hamburg als Hermann Lissauer. In Australien nahm er einen neuen Vornamen an. Von nun an hieß er Mark. Von ihm stammt das Foto vom Thalia Kino, das ihn auf dem Balkon im vierten Stock in der Grindelallee 116 zeigt. Unten war das Kino seiner Oma, die Ranette Salfeld hieß und der das Thalia Kino gehörte – auch ein Haus mit einem Kino, das einer deutschen Jüdin weggenommen wurde.

Jens Meyer

Hamburg, 24. Mai 2018

Fundstück: Fritz Kuhnert  (21. November 2020)

In dem Buch von Jürgen Spiker: Film und Kapital – Der Weg der deutschen Filmwirtschaft zum nationalsozialistischen Einheitskonzern, (Verlag Volker Spiess 1975, Berlin: ISBN 3-920889-045) gibt es auf Seite 296 einen Hinweis auf Fritz Kuhnert (Vorstandsmitglied der UFA):

KUHNERT, Fritz (geb. 24.5. 18901 – 3.3. 1951) (12).

Seit 28.4.1919 bei der UFA, ab 1928 Leitung der Revisionsabteilung. Ab November1932 stellvertretendes, ab 1.11.1937 ordentliches Vorstandsmitglied mit Zuständigkeit für Finanzen, Buchhaltung, Steuern usw.. Nebenher in der Geschäftsführung zahlreicher Tochtergesellschaften der UFA AG.

Zeichnung Helga Bachmann

Friderike, Bianca und Jeremias Henschel am 18. Oktober 1930 in Baden Baden

Friderike, Jeremias und Bianca Henschel 18. Oktober 1930 Horst Urich Sass (der Enkel)
Friderike, Jeremias und Bianca Henschel am 18. Oktober 1930 vor dem Hotel Europäischer Hof in Baden Baden in Deutschland.

Talmud Tora Abschlussklasse von 1879. Der Photograph ist Elias Wohlgemuth (Foto von 1879). Sein Atelier befand sich in der 2. Jacobstrasse Nr. 11 in Hamburg, im IV. Stock. Leider ist keine Namensliste dieser 22 Schüler auffindbar. Es gibt die Vermutung, dass sich unter den abgebildeten Personen befinden: Der spätere Architekt Semmy Engel und der spätere Kinopionier Jeremias Henschel, die vermutlich beide 1870 in die Talmud Tora Schule Kohlhöfen 19/20 eingeschult wurden.