ich hoffe, dass du gut da oben angekommen bist – wie sieht es denn da auf deiner Wolke so aus? Bist du ein wenig glücklich, diesem hier unten waltenden Irrsinn endlich entkommen zu sein? Deine Bea, deine Schauspieler und ich müssen hier noch etwas ausharren. Na gut, wir können hier Sekt, Bier und Wein trinken, um unsere Trauer seit deinem Verschwinden von diesem Kampfplaneten durchzustehen.
Du weißt ja, ich habe viele Jahre nicht weit von Berchtesgaden gelebt. Wenn ich da mal so einen wie dich getroffen hätte, wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass du ein echter Bayer bist. Denn der wirklich echte Bayer ist klein, ja gedrungen, dunkelhaarig und zuweilen dick, na gut, weil er viel Schweinefleisch isst und viel gutes Bier zu trinken vermag. Du warst rothaarig. Und die Rothaarigen sind ja immer etwas den schwarz-, blond-, braunhaarigen und Glatzen stets ein paar Schritte voraus.
Auch
Du! So lange ich noch nicht ganz dement bin, versuche ich mal ein
paar Geschichten aus unserer gemeinsamen Vergangenheit zu erzählen.
Kannst du mich hören und verstehen? Wenn nicht, bringe ich dir
diesen Brief mal später da nach oben mit. Also, kennen gelernt haben
wir uns um 1971. Du kamst, wenn ich nicht irre, mit Rainer März in
meine WG in der Schöneberger Bülowstr. 29. Rainer kannte ich aus
der Kreuzberger Stadtteilgruppe, und wir wohnten ein halbes Jahr etwa
in einer WG von einem Psychiater in der Kreuzberger Görlitzer
Straße. Egal.
Jedenfalls
hast du dich bei uns mit meinen Mitbewohnern Wanda, Cornelius,
Rainer, Ilse, Konrad und dem Luxemburger René schnell eingelebt. Und
noch bis vor ein paar Wochen hast du mir immer wieder, sobald das
Wort Bülowstraße erklang, von deinem selbstlosen Arbeitseinsatz bei
mir erzählt. Du hattest auf meine Bitte hin, Fotos aus
Spiegelheften, Konkret’s, Stern’s usw. ausgeschnitten und in
einen Leitzordner fein säuberlich eingeordnet. Diese Akten habe ich
noch immer. Es handelte sich da meist um politische Motive,
Vietnamkrieg usw. Diese Bilder brauchten wir zuweilen für unsere
Kreuzberger Stadtteilzeitung.
Und da
fällt mir noch etwas sehr Lustiges ein. In diesen linken
Konkret-Heften, die damals in den siebziger Jahren ein Klaus Rainer
Röhl, der damalige Ehemann von Ulrike Meinhof, herausbrachte, wurden
neben politischen Themen immer häufiger auch Nacktfotos
veröffentlicht. Und beim Ausschneiden kam dir eines Nachts, wann
auch sonst, der Gedanke ein gutes Geschäft mit der Produktion von
Pornopuzzles zu machen. Du hast dann einfach diese Sexbilder nebenher
auch ausgeschnitten, dann auf Pappe geklebt und mit der Schere
wahllos zerschnitten.
Dann hast
du, ich weiß nicht mehr in welchem Presseorgan, eine Anzeige mit dem
Text: „Pornopuzzles zu verkaufen, DM 9,99“ aufgegeben, dann
folgte Adresse und Postscheckkontonummer. Und du hast dich über die
ersten Bestellungen sehr gefreut, ja was macht man nicht alles, um in
einer Großstadt wie Berlin zu überleben. Du hast es immer wieder
geschafft. Dann verschwandest du plötzlich mit Rainer nach England.
Clemens Kuby hatte da wohl eine Connection zu einer
britisch-revolutionären Filmcrew mit dem Namen „cinema action“.
Dort in
London sollst du dich nach Aussage von Rainer März in eine hübsche
Brasilianerin verknallt haben. Okay, warum auch nicht, aber du kamst
wieder in die Frontstadt zurück und bewarbst dich an der Film-und
Fernsehakademie am Theodor-Heuss-Platz. Und sie haben dich ohne
Abitur und Studium dort aufgenommen. Diese Akademie stand unter
starken Druck der linken Studenten, und diese bevorzugten Menschen
aus proletarischen Verhältnissen.
Deine
Eltern waren ja, nach deinen Schilderungen, nicht unbedingt Proleten.
Beide Elternteile arbeiteten in der Gastronomie und in der Verwaltung
von Altersheimen. Warum Dein Vater mit dir nicht klarkam, habe ich
erst verstanden als ich von dir hörte, dass du in Berchtesgaden mit
verrückten Kumpels über Autodächern gelaufen bist. Und dann
irgendwann seid ihr betrunken nach dem Besuch in einer Disko gegen
einen Baum gefahren. Du warst der Einzige von vier Mitfahrern, der
dieses Unglück überlebte. Dieses Erlebnis hat lange Jahre bei dir
in der Weise nachgewirkt, dass du eigentlich keine richtige Angst
mehr vor dem Tod hattest. Aber auch vergessen konntest du nie, dass
dein Vater als Strafmaßnahme oft ein Jahr nicht mehr mit dir
gesprochen hat oder er dich oftmals zwang, gemeinsam mit eurem Berner
Sennenhund zu speisen.
Okay,
vergessen wir diese Psychoerziehung deiner Eltern. Nach einer Lehre
als Physiklaborant zog es dich aus der Enge Berchtesgadens nach
Berlin. Dort angekommen musstest du erst einmal deine Brötchen als
Tagelöhner verdienen, hast in zehn Meter Höhe mit einer verrosteten
Motorsäge Bäume von Reichen in Zehlendorf beschnitten und vieles
andere mehr, aber das Medium Film hat dich irgendwie immer
fasziniert. Ich habe um diese Zeit herum in Kreuzberg auf dem
Bethaniengelände mein Medienzentrum aufgebaut, und so hatten wir
auch beruflich eine freundschaftliche Nähe.
Weißt du
noch, 1971 wurde damals ein Schwesternwohnheim, das Martha Maria
Haus, auf diesem Gelände von Trebern und Jugendlichen aus dem
Kreuzberger Kiez besetzt. Es wurde in Georg-von-Rauch-Haus umbenannt,
und bis heute seit 1870 steht auf seinem Eingang der Spruch „Eins
tut not “. Du hast auf der Film-und Fernsehakademie eine Suzanne
Beyeler kennen gelernt, eine Schweizerin, und mit ihr und deinen
alten Kumpel Rainer März, der es ein Jahr später mit deiner Hilfe
auch auf dieser Filmschule geschafft hat, starteten ihr Drei einen
Dokufilm über genau dieses besetzte Haus.
„Allein
machen sie dich ein“, nach einem Rio Reiser Text, habt ihr euren
ersten Schwarz-Weiß-16mm-Film benannt. Ein
paar Jahre später hast du mit einen deiner Mitstudenten, Johannes
Flütsch, einen sehr witzigen Film über einen Automatenspieler
gedreht. Dieser Spieler mit Namen Diethard Wendtland konnte mit
seiner speziellen Begabung Spielautomaten der Marke „Monarch“ in
kurzer Zeit total leerfegen. Für diesen Film, produziert von Regina
Ziegler, hast du mit Johannes einen Bundesfilmpreis erhalten.
Waren
eigentlich bei dieser Preisverleihung deine Eltern nach Berlin
gekommen? Ich glaube eher nicht. Dabei war es doch für dich ganz
wichtig, deinen Eltern in Bad Aibling zu zeigen, dass du kein Looser
mehr bist. Du hast mir erst vor ein paar Wochen erzählt, dass du
richtig Geld erst nach deinem 40. Geburtstag verdient hast. Du
wurdest am 22. September 1944 im Bombenhagel von Augsburg geboren,
und demnach hast du erst in den Jahren 1984/85 so viel verdient, dass
du auch mal in den Urlaub fahren konntest.
1985
haben wir zwei an zwei Projekten gearbeitet, einmal ein Film über
ehemalige Rauchhausbewohner mit Rolf Zacher als Karl Marx und
Marianne Enzensberger als seine Jenny, Musik Rio Reiser, und einen
zweiten Dokufilm über eine Miss Germany, die mit einem Polizisten
verheiratet war. Dieses Eheverhältnis hat dich sehr interessiert,
und Harun Farocki hat das Exposé verfasst. Es war eine
ZDF-Produktion. Und bei diesen Dreharbeiten, du Regie, Kamera David
Slama und Ton ich, haben wir im Grunde jeden Abend nach Drehschluss
nur noch gelacht, weißt du noch, als in Luxemburg dieser
Miss-Germany-Preis verliehen wurde und ein Gunter Sachs im Hotel
erschien und total überschminkt die Kandidatinnen abzutätscheln
versuchte, und die haben sich das auch noch gefallen lassen.
Diese
Preisverleihung wurde vom RTL aufgezeichnet, und wir durften deshalb
für das ZDF nur ganz wenige Bilder nach Deutschland mitnehmen.
Lustig war auch, dass du vor Drehbeginn einen alten Ford für unsere
Dreharbeiten erworben hast. Mit diesem klapprigen Gefährt sind wir
bis Paris gefahren, um eine alternde Miss Germany zu interviewen. Auf
den Weg dahin blieb unser Oldtimer ständig stehen, und unsere
Altmiss hatte im Hinterhof ein kleine Werkstatt, die spezielle
Spionagegeräte herstellte und in Paris an diverse Agenten verkaufte,
abschließend lud sie uns zum Essen ein, sie im Porsche und wir
ständig anschiebend in unserem Freakford als Abgesandte des ZDF’s,
und in dem teuren Restaurant winkte sie ständig dort speisenden
Agenten zu.
Denn das
hier war ihr Vertriebsnetz, wir wollten dann auch nicht mehr wissen,
wie so ehemalige Miss heute ihr Leben finanzieren. Mein
Waterloo-Erlebnis mit dir hatte ich Ende 1989, weißt du noch, ich
wohnte mal für zwei Jahre in Oldenburg. Und irgendwie hatte die
Berliner Delta-Filmproduktion die Idee, einen Kinofilm zum Thema Stau
in Fahrt zu bringen. Du solltest mit mir das Drehbuch entwickeln und
kamst nach Ostfriesland, und wir mieteten dort auf so einem komischen
Freizeitgelände ein kleines Häuschen an und begannen sofort mit der
Arbeit.
Kurz und gut, ich hatte unter anderem die Idee, dass unter anderen Urlaubern auch ein Finne mit einem Holzauto in diesen Superstau in Bayern fährt. Du fandest diese Idee auch sehr charmant und lustig. Aber dann kam der Produzent Richard Claus nach Oldenburg, und als er das mit dem finnischen Holzauto las, fuhr er schnurstracks wieder nach Berlin zurück. Keine Diskussion, Thema verfehlt – setzen, Möbius!
Du hast ja
dann später noch mal sehr komödiantisch abgemildert mit Gerd Weiss
dann doch noch diesen „Superstau“ unter reichlich viel Stress
abgedreht. Aber schon 1990 kamen wir wieder zusammen, und ich
bastelte dann an ein Drehbuch von einem DDR-Autor herum. Der Film
hieß später „Grüß Gott Genosse“. Deine NDR Produzentin Doris
Heinze war ja mit deiner Arbeit immer sehr einverstanden, und so
bekamen wir auch den Auftrag, eine neue Polizeirufserie 110 zu
entwerfen. Es sollte in diesen Filmen kein Mord geschehen. Wir beide
haben uns daran gehalten, aber andere ARD-Sender in ihren Polizeiruf
110-Filmen nicht.
Du hast
dich dann richtig ins Zeug gelegt und einen Polizeiruf nach dem
anderen abgedreht. Und alle diese Filme mit Uwe Steimle und Kurt Böwe
unter deiner Regie waren originell und voller Humor. Ich freue mich
noch heute, dass ich Dir als Drehbuchautor oft bei diesen Streifen
helfen durfte. Ich musste immer wieder über dich staunen, mit
welcher kreativen und gleichzeitig produktivnaiven Art du Szenen und
Bilder in unseren Drehvorlagen gesetzt hast.
Ich kam mir häufig wie ein konservativer Bildungsbürger vor, der sich noch immer nicht von der Dramaturgie eines Shakespeare oder Schiller zu lösen vermochte oder traute. Aber so „trauen“ hatte ja für dich seit deinem Autounfall in Berchtesgaden nur noch wenig Relevanz. Und du hattest ja auch nur sehr wenig Respekt vor diesen Fernsehgewaltigen wie Redakteuren und Produzenten.
Ich
erinnere mich noch über ein Bild aus den neunziger Jahren, als du zu
mir mit einer sehr sehr kurzer Sturmfrisur kamst, auf mein Erstaunen
hin, sagtest du nur: „Ich fahre morgen nach Mainz, und da brauche
ich diese Kampffrisur.“ Humor, ich habe mich immer wieder gefragt,
und ich frage mich noch heute, wo du den immer wieder hergenommen
hast – deine Kind- und Jugendzeit war doch nun wirklich mehr eine
Schauergeschichte als ein Komödienstadel – stimmt’s?
Oder war
sie doch im Umkehrsinn gerade deshalb so inspirierend, weil in deiner
miesen Lage sich dein Humor wie ein Schutzschild um dich bildete?
Aber Manni, du hattest, Gott sei Dank, auch viele tolle und mutige
Mitstreiter. Und einige von diesen sind sogar zum Gedenken an dich
hier in dieser Kapelle. Viele von ihnen haben dir auch durch ihr
hinzufügen ihres „Mutterhumors“ bei deinen Inszenierungen
geholfen, ich sage nur die „Münsterkrimis“. Ich nenne mal ein
paar von vielen hunderten von Mitarbeitern beim Namen;
Deine
genialen Kameraleute wie Michael Wiesweg, David Slama, Jörg Jeshel
und Frido Feindt. Wunderbare Schauspielerinnen und Schauspieler wie
Tilo Prückner, Jan Joseph Liefers, Detlev Buck, Armin Rhode, Pierre
Besson, Günter Maria Halmer, Axel Prahl, Alexander Scheer, Laura
Tonke, Senta Berger, Götz George, Katharina Thalbach, Florian Lukas,
Elke Sommer, Karl Kranzkowski, Sigi Zimmerschied, Nadeshda Brennicke,
Inga Busch und viele, viele mehr. Und nicht zu vergessen, deine
langjährige Regieassistentin Susanne Petersen.
Lieber
Manni, du warst in deinem Leben auf dieser Erde stets ein sehr
bescheidener Mensch, ich habe dich auch nie in einer Talkshow
gesehen, du wolltest immer nur deine Arbeit so professionell wie nur
möglich machen. Das Ergebnis – fast 100 tolle Filme! Aber du
würdest heute ruhig zugeben, dass sich deine Energie auch aus dem
Bedürfnis speiste, deiner Mutter zu beweisen, dass du kein Versager
bist.
Den Beweis
konntest du ihr in einer Form geben, die jeder sofort versteht –
Geld und Gold. Du hast oft größere Summe nach Bad Aibling, dem
Wohnort deiner Mutter geschickt. Und sie hat ein Teil dann großzügig
an nahe und ferne Verwandte weitergeleitet, aber stets mit dem
Hinweis versehen, dass diese schönen Scheinchen von ihrem sehr
erfolgreichen Sohn aus Berlin kamen. Die einen brauchten ein aktuell
neues Hörgerät oder Gebiss, andere arbeitslose Neffen ein neues
Auto oder auch nur einen neuen Satz Autoreifen.
Da
stand ich mal mit deiner Mutter mit einem Produzenten am Filmset, und
auf die Frage des Produzenten, was du denn eigentlich studiert hast,
kam von ihr die prompte Antwort: „Mein Sohn, mein Manfred hat
Physiklaborant studiert“, und dann von ihr die Gegenfrage: „Werden
sie meinen Sohn auch weiterhin beschäftigen?“.
Ja, so einfühlsam und ehrlich können Mütter sein. Nun noch zum Schluss: du hast ja bis in den März und April hinein noch immer gearbeitet, mit mir hast du an einem Treatment für einen Rio Reiser Spielfilm gearbeitet, und dann an einer 8-teilige Kurzserie mit Tilo Prückner, die man sehr bald unter dem Titel „Die Bank“ im Fernsehen sehen wird. Ich hatte irgendwie bei meinen Besuchen bei dir immer das Gefühl, dass du uns noch gar nicht verlassen willst, jeden Sonnenstrahl aus unserem zurzeit unglaublich stahlblauen Himmel hast du noch genossen.
Aber deine
ständigen Schmerzen raubten dir dann doch leider deine letzten
Kräfte. Liebe Bea, seit 1984 war Manni dein Weggefährte und deine
Liebe, Sylvester 1996 habt ihr euch in Las Vergas das Ja-Wort
gegeben. Dein selbstloser professioneller Einsatz, um Mannis letzten
fünf Jahre andauerndes Leiden zu mildern, war ein sehr, sehr großer
Liebesbeweis.
Alle
hier danken dir dafür und fühlen mit ganzem Herzen mit dir und
deiner tiefen Trauer. Auch dir, Alexander Richter, sei hier für
deine gute Beratung und Hilfe sehr gedankt. Lieber Manni, wir werden
dich und dein künstlerisches Werk, das du uns hinterlassen hast, nie
vergessen. Du bist nicht tot, du lebst in deinen Filmen weiter, und
ich freue mich, in Zukunft viele deiner schönen Filme noch einmal
ansehen zu dürfen. Deine gesellschaftlich kritische und
komödiantische Sichtweise auf diese unsere Weltenkugel wird mich in
meiner noch verbleibenden Lebenszeit für immer begleiten. Ich hoffe,
wir sehen uns eines Tages wieder!
Dein Gert
Statt einer Biografie die Rede zur Bestattung von Manfred, die sein Freund Gert Möbius gehalten hat. (Gert Möbius war Manager der Rockband „Ton Steine Scherben“ und Mitbegründer des Berliner Tempodroms). Nach dem Tod seines Bruders Ralf, mit Künstlername Rio Reiser, gründete er das Rio-Reiser-Archiv. Heute wirkt er als Drehbuchautor und Filmproduzent.
Mariannenplatz, Berlin 36
Von links nach rechts: Manfred Stelzer, Marlis Kallweit im Jugenzentrum Hemmoor (Elbabwärts, kurz vor Cuxhaven. Backbord). Rundreise mit dem Film: Allein machen sie dich ein (Georg von Rauch Haus, Berlin) dffb
Vor 50 Jahren: Die wirklich, wirklich, wahre Geschichte der Walde 81
Ich hatte nicht viel Zeit. An jenem Freitag im Februar. Februar 2020. Ein kurzes Foto und schnell wieder zurück. Zu Hause habe ich mir dann die Sache genauer angesehen. Erst war ich erschrocken. Dann erbost. Und dann habe gedacht: Sie haben es nicht verstanden. Sie dachten, sie haben die Fassade restauriert. Aber sie haben das Bild nur zerstört. Nach 45 Jahren. Nur ein Missverständnis? Wie kann das sein? Woher kommt es? Vielleicht kennen sie nur die Kurzversion: Ein besetztes Haus? Vielleicht verstehen sie mehr, wenn sie sich die Zeit nehmen für die lange Version? Wenn sie das Besondere verstehen. Das, was uns unterscheidet von ihnen heute. Und das alles nur, weil mich einer, der am Anfang nicht dabei war, einer aus dritten Walde Generation, gefragt hat, ob die erste Generation nicht was zum 50. Geburtstag der Walde 81 machen will. Der 50. Geburtstag wäre dann irgendwann im Sommer 2022.
Aus der Walde: Ein tragbares Bierfass (10 Liter), umgearbeitet zu einem Papierkorb. Gefunden im Juli 1972 im Haus Hotel Stadt Görlitz in der Waldemarstrasse 81 in SO 36, Berlin Kreuzberg. Als der Behälter noch als tragbares Bier Fass benutzt wurde, hatte die Waldemarstrasse eine andere Nummerierung. Hotel Stadt Görlitz, Waldemarstrasse 20, Telefon 66 65 11. Als Inhaber wird Otto Sauer genannt, was Sinn macht.
Korrektur 2022.Nein, eine andere Nummerierung hat es nicht gegeben: Waldemarstr. 20 war Waldemarstr. 20. Und Nummer 81 war Nummer 81.
Dieser Link hat uns den Weg zur Waldemarstr. 20 gezeigt: http://www.zwangsarbeit-forschung.de/Lagerstandorte/Kreuzberg/kreuzberg.html
Wenn man diesem Link Glauben schenkt, dann ist der gefundene Biereimer tatsächlich aus dem Hotel Stadt Görlitz, Waldemarstr. 20. Inhaber (1942-45): Otto Sauer. Damals genannt: Ausländerheim Hotel Stadt Görlitz, von AEG-AT gemietetes Hotel frühester Beleg 1.1.1942 bei einem Luftangriff am 14. April 1945 zerstört.
Dieser Otto Sauer hat vermutlich das Haus in der Waldemarstrasse 81 gekauft oder gemietet und hatte seine Habe u. a. auch den Biertransportbehälter mitgenommen.
Aber gibt es nach diesem offensichtlichen Missverständnis: Wir bleiben drin und wir bleiben alle, noch einen Grund sich zu treffen? Gibt es wirklich irgendwas zu Feiern? Vielleicht haben sie mit ihrer angeblichen >Restaurierung< alles verbockt? Vielleicht haben wir es auch verbockt, weil nicht alles in die Gegenwart gekommen ist, von dem, was damals so passiert ist. Vielleicht hilft ihnen die wirklich wahre Geschichte der Walde 81 weiter. Ihnen und letztlich auch uns. Damit wir einen Grund zum Feiern finden! Wie einfach wäre das Leben gewesen, wenn es so gewesen wäre, wie es übermittelt wurde. Einmal besetzen und fertig. Nein, so ist es nicht gewesen. So leicht hatten wir es nicht. Vielleicht wird es klarer, wenn wir die Mühen ausführlich schildern, die wir bei der Umsetzung hatten. Vielleicht macht es denen Mut, die heute vor einer ähnlichen Mühe stehen und sie noch scheuen.
Also kommt jetzt die wirklich wahre Geschichte der Walde 81. Ein Haus. Gemietet. Nicht besetzt. Ein Mietvertrag, der nach zwei Jahren endet, ausläuft. Ein Untermietvertrag. Ein Untermietvertrag, den man, mit dem Hauptvermieter gerne verlängern würde. Der aber nicht will. Der keine Mieter will. Der nur ein leeres Haus will. Ein Haus, dass man schnell abreißen kann. Ein Vermieter, der sich weigert zu vermieten. Sich weigert, weil hier mit dem Abriss das große Geld zu machen ist. Jeder Abriss, der ein paar Tage dauert, spült 300 TDM in die Kassen des Hauptvermieters. Einem Vermieter, dem man einen großen Brief auf die Hauswand schreibt, nachdem man schon so viele Briefe geschrieben hat, die nicht oder nur mit Nein beantwortet wurden. Ein Brief, damit es alle sehen können. Mit der einzigen Botschaft, die man hat: WIR BLEIBEN DRIN. Und jetzt heute. 2020. Fünfundvierzig Jahre später stellt sich die Frage: Wieso ist das damals gelungen? Das mit dem DRIN BLEIBEN?
Block 100 haben sie es genannt. Und den Block weg gehauen. Die Herren der Kugelbagger und der Wasserspritzen. Mit Kugelbagger und Wasserspritzen haben sie sich die Freiflächen vergoldet. Jede Lücke ist bares GELD für sie, so hatten sie und wir später auch, herausgefunden. Wieso konnte es dennoch gelingen, das Haus in der Walde 81 den Abrisskugeln zu entreißen?
Oft hatte der Gegner doch schon gezeigt, wie übermächtig er war! Damals in Kreuzberg. Mit Prämien wurden die Mieter ins Märkische Viertel gelockt: Weg von der Toilette, eine halbe Treppe tiefer. Weg von der Ofenheizung, mit den Briketts und Eierkohlen im Keller oder auf dem Dachboden.
Dann die >Zwischenmieter< ohne Rechte. Die Mieter zum Kaputtwohnen der Häuser: Studenten und Migranten. Die selten zueinander fanden. Und es manchmal dann doch gelang, dass gemeinsam an einem Strang gezogen wurde. Und auch noch in die gleiche Richtung. Nicht einfach so was. Nur mit Pinseln allein nicht zu schaffen.
Der Gegner, der Nicht-Vermieter, der sich über die wahren Machtverhältnisse von uns täuschen liess, die vor Ort herrschten. Hätten sie auch nur geahnt, wie kurz unsere Arme doch waren. Unsere Plakate kamen gut an. Ein einziges, gut gemachtes, hatte eine große Wirkung. Täuschend ähnlich den offiziellen Plakaten. Nur in wenigen Exemplaren fanden sie aufmerksame Beobachter. Und immer wieder gab es Richtigstellungen der Gegner. Nein, so sei es nicht. Es wäre so und so. Hätten sie geahnt, wie wenig aktive Menschen diese Plakat Fälschungen in die Öffentlichkeit gebracht haben. Sie wären mit ihren Gegendarstellungen nicht darauf eingegangen. Und erst diese Gegendarstellungen machten unsere Forderungen tatsächlich populär. Hätten sie gewußt, das da nur kleiner Haufen aktiv war, dann wären unsere Drohungen glatt verpufft. Und es waren ja auch keine ernsten Drohungen.
In Wahrheit hatten wir gar nichts zum Drohen, wenn wir am Telefon behaupteten, es würde etwas passieren, wenn nicht in 15 Minuten das Wasser in dem Haus gegenüber wieder angestellt wird, das sie im Auftrage gerade hatte abstellen lassen. Wir hatten nichts zum Drohen. Sie wußten nur, die Leute mögen uns und sie nicht. Aber die, bei denen das Wasser dann nach 15 Minuten wieder aus dem Hahn lief, die wurden unsere Freunde. Oder wenn sie mal wieder heimlich den Strom abgestellt hatten und die Mieter plötzlich im Dunkeln saßen und der entsprechende Anruf bei Ihnen ankam. Wenn nicht . . . dann. Ich kann es nur wiederholen. Eigentlich hatten wir nichts zum Drohen. Aber die Leute, denen wir auf diese Weise geholfen haben, zeigen sich dankbar.
Sie kommen und gewinnen Vertrauen. Zeigen Verständnis, Sympathie und was man ihnen zur Unterschrift vorgelegt hat. Oft, ohne jede gesetzliche Grundlage. Das solche Texte in die Öffentlichkeit gelangen, das wollen sie auf jeden Fall verhindern. Und weil ein seriöses Auftreten die halbe Miete ist, werden auch die ungesetzlichen Texte in den Mietverträgen immer seltener. So merken die Herren von der städtischen Gesellschaft BEWOGE, auf der anderen Seite wird ihr Handeln genau beobachtet. Beachten plötzlich Gesetze, von denen sie früher behauptet hatten, es gäbe sie gar nicht. Ersatzwohnraum muß nicht nachgewiesen werden. Solche Sätze werden jetzt vermieden.
Als sich das bei den Verantwortlichen herumgesprochen hatte, wurden unsere Anrufe oft sofort bis nach oben durchgestellt. Zu den Herren an der Spitze. Zwingelberg und Könnecke und wie sie alle hiessen, die sich da eine goldene Nase, natürlich nicht für sie selbst, verdient haben.
Und sieht man sich heute ihre >Hinterlassenschaften< an, ihre verfallenen Neubauten und vergleicht sie mit der unseren, so schneidet >unser Haus<, die Walde 81, nicht schlecht ab.
Unser Vertrag war im November 1974 ausgelaufen. Es gab einen Menschen in der Baubehörde, der fand unsere Gemeinschaft glaubwürdig. Und unterstützte uns. Er ist zwischenzeitlich verstorben und soll deshalb hier auch namentlich genannt werden: Hermann Hucke, Mitarbeiter in mittlerer Ebene der Wohnungsverwaltung. (Wir hatten ihm viel zu verdanken). Im Februar 1975 der vertragslose Zustand. Wir blieben drin. Nun war das Haus tatsächlich besetzt. Das Haus war verkauft worden. An wen, das wußten wir nicht. Und wir bekamen Unterstützung. Von vielen und einem, der sich mit den geltenden Gesetzen gut aus kannte.
Auch er, schon verstorben: Rainer Graff. Architekturstudent. Er und einige andere haben den Baum, der dann am 1. Mai 1975 auf die Hauswand gepinselt wurde, entworfen und sich auch darüber Gedanken gemacht, wie man die Bemalung ohne teures Gerüst hinbekommen kann. Mit Kreide wurden die Umrisse der Zeichnung auf die Fassade gebracht. 250,00 DM kosteten die Farben (gelb, grün, weiss) und einige Stunden bis das Bild fertig war und 45 Jahre seine Propagandawirkung verbreitete. Dreissig Leute aus dem Haus und der Nachbarschaft waren beteiligt.
Ich war befreit wegen Höhenangst und durfte mit der Kamera Aufnahmen machen. Es ist natürlich nur meine Wahrheit, die in diesem Text untergebracht ist. Aber vielleicht auch unsere Wahrheit. Das werde ich wissen, sobald ich diesen Text unter denen verbreitet habe, die damals dabei waren. Wer alt ist und rückwärts schaut, so wie wir, ahnt noch, das der Weg, der jetzt so klar hinter uns liegt, kein gerader Weg war. Als gerader Weg wäre er sicher nicht möglich gewesen. Er war ein Weg voller Zweifel. Mit Schrecken, die wir noch nicht ahnten. Doch auch mit viel Glück, für das wir nichts konnten. Das zwar erhofft war, aber dann doch mit Wucht auf uns nieder prallte. Im Ergebnis meist, rückwärts schauend, viel Bestätigung und Zuneigung.
Nein, ich hätte es nicht anders machen wollen und dahinter auch der Zweifel, dass der Weg anders nicht so steinig gewesen wäre, das manche, die den Versuch vorzeitig abgebrochen haben, besser daran gewesen sind. Einen Versuch der Klärung ist es allemal wert. Schon damit künftige Generationen, die Nutzen von unseren damaligen Tätigkeiten haben, nicht denken, dass dieser Weg ohne Mühe war. Dass man sich einfach davon lügen kann. Und bequem auf den Erfolg warten. Auf das Schlaraffenland. Oder gar, das das bequeme Leben auch die Kraft hat, anderen zum einem bequemen Leben zu verhelfen. Etwas zu tun für die, die einem Leid tun.
So wie die, die jetzt nach 50 Jahren in einer Genossenschaft wohnen, für die sie nichts können und sich deshalb in falscher Weise äußern über die, die ihnen diese Bequemlichkeit ermöglicht haben und deshalb zu der Ansicht gelangen, dass sie nichts zerstört, sondern nur etwas restauriert haben. Da müssen wir jetzt widersprechen. Nein sagen. Das haben wir nicht gemeint. Wir sprachen von uns. Und wir wollten anderen zeigen: Es geht. Es geht, wenn man etwas für sich selber tut. Das gibt auch anderen den Mut, etwas für sich selber zu tun. Eben trotzig zu behaupten: WIR BLEIBEN DRIN und nicht scheinheilig für andere zu behaupten WIR BLEIBEN ALLE. Eine Parole, die abgemalt ist und abgemalt klingt. Abgemalt in der Hafenstrasse in Hamburg.
Eine Parole, die vermutlich die Flüchtlinge meint, für die man etwas tun muss, damit sie nicht alle ertrinken. Nein, das war die Walde 81 nicht. Und das ist vermutlich auch der Grund, warum die Parole: WIR BLEIBEN DRIN dort 45 Jahre gestanden hat. Bevor der Text unter WIR BLEIBEN ALLE verschwunden ist. Fünfundvierzig Jahre sind eine lange Zeit. Und darauf sind viele von uns, die damals dabei waren, stolz.
Auch auf die Gefahr hin, das jemand äußert: Die sind ja nicht drin geblieben. Die sind ja alle ausgezogen. Die durchschnittliche Wohnverweildauer in der Walde 81 ist niemals berechnet worden. Vielleicht sechs Jahre? Für viele war diese Zeit prägend. Manche erinnern sich gerne, so wie ich. Manche erinnern sich mit Schrecken und würden es gerne ungeschehen machen und die ganze Sache vergessen. Die erste Besatzung der Walde 81 waren Menschen, die im Stadtteil Charlottenburg gemeinsam einen Laden gemietet hatten (In der Neuen Kantstrasse 31), in dem sie ihre Kinder gemeinsam betreuen wollten.
Kinderladen wurde das genannt. Ein leerstehender Laden wurde gemietet. Davon gab es damals viele. Umgebaut. Eine Zentralheizung wurde von uns eingebaut. Wer wollte schon jeden morgen im kalten Kinderladen im Winter den Kachelofen anmachen? Das waren Paare. Verheiratet oder nicht. Und Kinder in dem Alter zwischen 8 und 12 Monaten, die gerade laufen lernten. Dort lagen viele Hoffnungen. Nicht mehr zwangsweise auf dem Topf sich stubenrein sitzen müssen. Nicht rosa oder blau. Nicht nur Betreuung durch Frauen, sondern auch durch Männer, die den Kindern etwas beibringen sollen. Um dabei selbst auch gleich etwas zu lernen. Wissen, das vorher nur einem Geschlecht zugänglich war. Wir nannten das Ganze: Sozialpsychologischer Arbeitskreis Charlottenburg e. V.. Fortbildung, einmal in der Woche.
Zum Beispiel: Die Reinlichkeitserziehung. Als frühes Unterdrückungsinstrument des Bürger- und Kleinbürgertums. Die Rolle der Frau in der Beziehung der Geschlechter. Die Rolle des Mannes in der Beziehung der Geschlechter. Ehegefängnisse vermeiden. Wir wollten alles. Und das sofort. Aber erst mal musste die Heizung im Kinderladen finanziert und selbst gebaut werden. Einige Eltern aus diesem Kinderladen wollten, nachdem der in Schwung gekommen war, auch ihre persönlichen Wohnverhältnisse ändern und suchten ein entsprechendes Haus für ein solches Projekt. Ehegefängnisse an der Spitze der Bewegung. Erste Besatzung. Im Sommer 1972 war es dann so weit. Der Kinderladen lief einwandfrei. Wir hatten eine Erzieherin eingestellt und jede Woche einmal hatte jeder einmal in der Woche Kinderdienst.
Für mich war die Sache einfach, weil ich durch meinen Studienplatz an der dffb vieles möglich machen konnte. Für meine damalige Frau war die Sache schon schwieriger, weil sie eine Festanstellung hatte, wo man nicht ohne weiteres Kurzarbeit machen konnte. Doch für Studenten war die Sache einfach. Jedoch nicht für alle Studentinnen. Da gab es die Sorte Hausfrau, Mutter und Mann auf Arbeit. Aber auch: Nur Hausfrauen, die kaum Probleme damit hatten. Wir waren bunt gemischt. Sogar Menschen, die keine eigenen Kinder hatten, wurde der Zugang zum Kinderladen nicht versperrt. Sie kümmerten sich vorwiegend um die Vermittlung der Theorie.
Einer arbeitete als Bronzegießer in einer Kunstgießerei (Bildgiesserei Hermann Noack). Bronze und andere Buntmetalle. Die Firma gibt es heute noch. Aber er ist schon vor längerer Zeit verstorben. Keine besonders gesunde Arbeit. Wir fanden für Jeden, der mitmachen wollte, Lösungen. Lösungen, die alle zufrieden stellen sollten. In einem wöchentlichen Arbeitskreis holten wir fehlendes Wissen über die frühkindliche Erziehung nach und erarbeiteten zusammen Modelle, wie wir unsere Kinder anders erziehen wollten. Kinder, die demnächst fünfzig Jahre alt werden. Anders als in der herkömmlichen Erziehung. So, wie sie immer und überall praktiziert wurde und vermutlich auch noch wird. Jungs weinen nicht. Mädchen bekommen rosa Kleidung. Jungs blaue. Gib das schöne Händchen.
Auch die Beziehungen sollten sich ändern. Wir planten eine große Wohngemeinschaft. Bis eines Tages unser Kunstgießer aus Kohlhasenbrück mit einer Sonntagsausgabe der Berliner Morgenpost ankam. Oder war es die BZ? Seine Frau hatte die Anzeige von dem Hotel gefunden, das dort angeboten wurde. Von mir wurden damals beide Zeitungen, weil Springer, bestreikt. Bestreikt ist natürlich falsch. Nicht wahrgenommen. Nicht gekauft. Ich wurde der Freund des INFO BUG, später der Freund des ID für unterbliebene Nachrichten. Und Leser, das will ich gar nicht verstecken, der Frankfurter Rundschau und in der Walde auch Leser der täglich erscheinenden Wahrheit (Zeitung der SEW, was der Ableger der SED in Westberlin (in dieser Schreibweise) war). Was man vielleicht den Jüngeren erklären muss.
Die verschiedenen Parteien (links von der SPD) hatten 1972 eigene Parteizeitungen. Ein Fan des “Vorwärts“ (die Parteizeitung der SPD) hat es, meiner Erinnerung nach, in der Walde nicht gegeben. Auch die Zeitungen der studentischen (angeblich) kommunistischen Zeitungen hatten es in der Walde nicht leicht. (Gegenüber am Mariannenplatz dagegen, in dem Haus, in dem damals eine Apotheke war, gab es mehrere, studentische Wohngemeinschaften, die Anhängerinnen des KBW waren und die Linien, die der KBW so zog, auch mitzogen, was zu einer gewissen Unglaubwürdigkeit führte). Später hat der KBW dann ein Haus in der Oranienstrasse gekauft. Aber das ist eine andere Geschichte.
Der KB (aus Hamburg) dagegen hatte hier in SO 36 nicht viele Anhänger und fand daher auch keine Verbreitung. Während das INFO BUG (die Zeitung der Spontis) aus der Stephanstrasse, das jede Woche erschien und für 0,50 Pfennig käuflich zu erwerben war, von mir gerne gelesen wurde. Besonders die Kleinanzeigen auf der letzten Seite. Auch unsere Anzeigen. Wenn ein Zimmer frei geworden war, oder auch, wenn ein Kind geboren war. Loretto, so war sein Spitzname, richtig hiess er Bernhard Koch, brachte uns jedenfalls diese Sonntagsausgabe der Berliner Morgenpost mit der Anzeige: Leeres Hotel in Kreuzberg zu verpachten. Den genauen Text der Anzeige weiß ich leider nicht mehr.
Aber irgend wie funkte die Sache. Das war zwar nicht unser Bezirk, aber unsere Geldbeutelgröße. Ein Hotel, was seit einiger Zeit leer stand, weil ungünstig gelegen. Am Rande der Stand. Dicht bei der Mauer. Im Sanierungsgebiet. Sanieren, so lernte ich, heißt >gesund machen<. (Wer sich dort wie gesund machte, das konnte man vor Ort hautnah erleben). Die Zimmer wurden billig an Fremdarbeiter vermietet, die sich nur zeitweise in der Stadt aufhielten. Ein Hotel mit 23 Zimmern (je nachdem, wie man zählt), einer Gemeinschafts Küche, einer Kneipe mit Zapfhahn, einem großen Esszimmer, mit einem Tisch, der zwanzig Leuten Platz bot, einem Badezimmer mit einer Badewanne, in einem Anbau Platz für die Waschmaschine und Wäscheschleuder und einem Keller, in den sogar eine Tischtennisplatte passte. Variabel ein Kinderzimmer im ersten Stock, wo der gemeinsame Mittagsschlaf der Kleinen organisiert werden konnte und sollte. (Später stellte sich heraus, die Kleinen wollten dort keinen Mittagsschlaf halten. Sie wollten mittags nicht schlafen, oder lieber bei ihrer Mama schlafen oder sein).
Die Fremdarbeiter waren jedenfalls irgendwie ausgeblieben. Es lohnte sich nicht mehr, das Geschäft mit den Fremdarbeitern. Im letzten Winter hatte man das Haus nicht mehr beheizt und dann vergessen, das Wasser der Zentralheizung abzulassen. (Damals gab es noch richtige Winter, mit Frost und so). Also fror das Wasser in der Heizung ein. Wasser kann viel Kraft haben. Besonders, wenn es einfriert. Das Haus mit dreißig Räumen hatte rund sechzig Heizkörper, die, aus Gusseisen, dem Frost nicht widerstehen konnten und geplatzt waren. Besonderheit dieses Platzens war es, dass erst das Tauwetter, die Heizkörper, die sonst recht stabil sind, platzen ließ, als die Temperaturen im Frühling wieder anstiegen. Man glaubt gar nicht, wie viel Wasser sich in so einer solchen Heizungsanlage mit halb Zoll Rohren befindet (Sechs Stockwerke inkl. Dachgeschoss und Keller) und so folgte den geplatzten Heizkörpern jede Menge Wasser mit den üblichen Wasserschäden.
Die Heizkörper waren im Sommer durch neue Stahlradiatoren von der Pächterin ersetzt worden. Die Pächterin, die noch einen zweijährigen Mietvertrag mit einer städtischen Gesellschaft hatte, behauptete uns gegenüber, die Schäden seien nun alle behoben, die Leckagen beseitigt, was wir jedoch nicht glauben konnten, weil die Anlage vorsichtshalber nicht wieder mit Wasser aufgefüllt worden war. Was tut man, wenn man 25 Jahre alt ist, Maschinenschlosser gelernt hat und sein Leben verändern möchte? Richtig. Man gründet einen weiteren Verein. Den Sozialpsychologischen Arbeitskreis Kreuzberg e. V., wählt einen Vorstand und lässt diesen einen Mietvertrag unterschreiben. Ein befristeten Mietvertrag, der am 1. Oktober 1972 beginnt und 30. September 1974 endet. Zwei Jahre sind eine lange Zeit, denkt man. Aber dann doch nicht.
Monatliche Kaltmiete für die Untermieterin (also uns) 1.250,00 DM pro Monat. Heizkosten, Wasser, Strom und Gas für die Gasherde in der Küche kommen noch dazu. Man kündigt im Einvernehmen die Wohnung, (bzw. hinterlässt sie einem Studienkollegen der Filmakademie) im Horstweg Nummer 6, im Hinterhaus. Drei Zimmer mit Ofenheizung, Kachelöfen, die mit Brikett geheizt werden. In Charlottenburg, dicht am Theodor Heuss Platz, wo zu dieser Zeit die Filmakademie beheimatet war, wo man 1970 das Studium begonnen hat. Der Beschluss lautet: Nun wird sich alles ändern.
Das erste, was sich änderte, waren die Temperaturen. Wir sind noch nicht eingezogen und es gibt im Oktober einen ersten Kälteeinbruch. Wir befüllen die Heizungsanlage, deren Kessel sich unter einer Garage im Nebenhaus befindet, mit Wasser. Und stellen fest, Leckagen überall. Schweißarbeiten sind nötig. Kein Problem. Zwei Personen bringen entsprechende Fähigkeiten mit. Dennoch wird die Sache aufwendig, weil nach jeder Leckage erst mal wieder das Wasser wieder raus muss, bevor die Reparaturarbeiten fortgesetzt werden können. Wir arbeiten uns vor, von unten nach oben. Im dritten Stock angekommen, wird eine Pause eingelegt. Im ersten Stock ist eine Frau aus unserer Gruppe dabei, mit Hilfe eines Zollstockes den Raum in der Mitte auszumessen, obwohl wir die Räume noch gar nicht verteilt haben. Klar ist nur das Erdgeschoss, das Gemeinschaftsraum werden soll.
Ich bin empört. Aber nur innerlich. Ein paar Monate später zieht sie wieder aus. Aus dem Zollstockzimmer. Mann und Kind nimmt sie mit. So schnell kanns gehen. In der Küche bauen wir über den Herd noch einen großen Lüfter ein und dann bringen unsere Möbel in die Walde 81. Geheizt wird mit Koks, den wir später mit gemeinsamen Blutspenden bezahlen. Und jeden Tag gibt es ein Abendessen. 50,00 Mark kommt jeden Tag in die Essenskasse. Frühstück und Abendessen (warm). Zwei Personen kaufen ein und kochen. Dort kommen auch die berühmten Mehlbeutel zu Einsatz. Und die gebratenen Heringe, die sauer eingelegt werden. Manchmal gibt es Napfkuchen mit Rosinen am Sonntag. Einige nennen es Gugelhupf.
Und immer wieder Plenum und Neuaufnahmen, wenn Personen das Weite gesucht hatten und Zimmer neu zu besetzen waren (Das erste Mal nach gefühlten drei Monaten). Die Kinder werden am Morgen mit einem Fahrzeug in den Kinderladen nach Charlottenburg in die Neue Kantstrasse gebracht. Später mit einem gemeinsamen VW Bus. (Ein Lottogewinn, dem mühsam ein neuer Unterboden eingeschweißt wird, wegen durchrosten).
Damit dieses Wissen von damals nicht verschwindet, ist es an der Zeit, 48 Jahre nach dem Beginn, endlich aufzuschreiben, wie das alles anfing. Das hier ist der ist nur ein Teil, der den ersten Mai 1975 mit einschließt. Bis zu meinem/unserem Auszug 1978. Eben die Verweildauer von sechs Jahren. Der Auszug hatte bei uns nichts mit der Waldemarstrasse 81, sondern eher mit der Stadt Berlin zu tun. Überall nur Opas, Omas und Studenten. Kein richtiges Leben. Wir ziehen in anderer Formation aus, als wir eingezogen sind. Seither trinke ich morgens meinen Kaffee immer nur aus großen Bechern.
Hamburg, d. 20. März 2020/ 15. Mai 2022 Jens Meyer
Verlag
Detlev Auvermann KG Glashütten im Taunus 1972
Abschrift
des Lebenslaufes von Wilhelm Münzenberg
Die Eltern
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Das Recht der ersten Nacht ist in Deutschland nach dem Gesetz schon seit langem aufgehoben. Praktisch freilich wird es heute mindest so oft als früher ausgeübt. Nur wartet man nicht bis zur Hochzeitsnacht der Magd und beschränkt sich auch nicht auf nur eine Nacht. Es war deshalb kein besonderer Zufall oder ein ausgezeichnetes Wunder, als sich Baron von M. vergass, sein aldiges und edles Blut mit demjenigen seines Zimmermädchens zu mischen. Das Kind erbte den Standesdünkel, den Jähzorn, die Brutalität und Roheit, die Liebe zu Wein, Weib, Weib und Spiel, kurz alle Tugenden seines Vaters, ohne dessen Vermögen. Der Alte benahm sich immerhin noch anständiger als andere seines Standes und in seiner Lage. Er anerkannte das Kind, gab ihm seinen Namen und bestritt die Kosten seiner besseren Schulbildung. Aber die junkerlichen Triebe in dem Jungen waren zu stark, um einen grösseren Lerneifer aufkommen zu lassen. Als Knabe war er der Anführer aller losen und verwegenen Streiche und als Jüngling mehr im Wirtshaus und hinter den jungen Schönen des Dorfes her als beim Studium. Ermahnungen und Drohungen des Alten fruchteten nichts. Da sagte sich dieser von dem Jungen los, kaufte für 300 Taler seinen Namen zurück und jagte ihn zum Teufel. Da brach der Krieg zwischen Preussen & Oesterreich aus (1866) und der hoffnungsvolle Sprössling des preusssischen Junkers und seiner Magd, der nichts gelernt und nichts zu verlieren hatte, meldete sich freiwillig. Er wurde angenommen und folgte als Feldgendarm dem siegreichen preussischen Heer. Das Leben unter den Soldaten gefiel ihm und er beschloss zu bleiben. Als Ordonanzreiter machte er einige Jahre später den deutsch-französischen Krieg mit, nahm 1873 den Abschied und wurde als Telegraphist angestellt. Das blieb er er aber nicht lange. Ein frischer Unternehmungsgeist trieb ihn, sich selbst zu versuchen und wurde in wechselreicher Reihenfolge Agent, Förster, Güterspekulant, Gastwirt, Coiffeur, Geflügelhändler etc., ohne aber mit irgend einem Fach dauernd Fuss fassen zu können. Das Soldatenleben und die Teilnahme an zwei Kriegen hatte alle seine Leidenschaften und Neigungen mächtig gefördert. Zu gute kam ihm nur der dabei gewonnene frische Unternehmungsgeist und eine gewisse Weltgewandtheit, die sich später zu einem guten und sicheren Geschäftssinn entwickelte. Im Vergleich zu der Vermehrung und der Steigerung der schlimmen Eigenschaften herzlich wenig. Der Standesdünkel war durch militärische Chargen und Orden kräftig gehoben worden. Und fehlte ihm auch der Name und das Vermögen, in seiner Einbildung und durch seine Abstammung fühlte er er sich als ein Mitglied der herrschenden, besseren Klasse, als schneidiger preussischer Junker und schaute mit Verachtung auf das gewöhnliche Volk. Die Liebe für ein flottes Leben, für Wein, Weib und Spiel war um die teurere Passion, für die Jagd, reicher geworden. Kein Wunder, wenn das schnell und leicht erworbene Geld ebenso schnell und rasch wieder zerfloss. Wenn ihm heute eine glückliche Güterspekulation Tausende in den Schoss warf, so verschlang morgen eine Jagdpartie zehntausende. Besonders die Leidenschaft für den Wein war durch den Krieg und nicht zuletzt durch die eroberten Weinkeller der französischen Bauern zu einer unbezwinglichen Trunksucht geworden. Und da der Wein in der Heimat ziemlich teuer war, so trat an dessen Stelle der Schnabs, der Gocnak und ein „guter Korn“. Und das täglich genossene Quantum stieg von Jahr zu Jahr und die Tage ohne Rausch wurden im selben Masse seltener. Hand in Hand mit der Vergrösserung der Trunksucht ging die Steigerung des Jähzorns, der Brutalität und Roheit. Die geringste ihm missfallende Handlung, ja, schon ein einziges Wort konnte ihn in einen Taumel sinnloser Wut versetzen. Als es anlässlich eines Kartenspiels zwischen ihm und einem Mitspielenden zu Differenzen kam, verliess er in höchster Erregung das Zimmer, um einige Minuten mit dem geladenen Gewehr zurückzukehren. Nur mit Mühe konnte dem Tobenden das Gewehr entwunden werden. Ueberhaupt wurde das Schiessen je länger je mehr zu einer direkten Manie des Unglücklichen. Einige Gewehre hingen stets geladen über dem Bett. Er begnügte sich nicht mit der Jagd auf die gewöhnlichen Jagdtiere, sondern schoss Stare, Raben, Störche, Katzen, Hunde, kurzum, was ihm vor das Rohr kam. Zu Hause droht er er täglich, sich zu erschiessen, die Frau, die Kinder, die „ganze Bande zu erschiessen“. Und mehr wie einmal rettete nur die schleunige Flucht die Unglücklichen vor dem Tod. Alles wurde aber übertroffen durch seine Roheit und Brutalität gegen die Familie. Jedes, auch nur das geringste und kleinste gefühlvolle Verständnis für ein Familienleben fehlte ihm vollständig und Liebe für Frau und Kinder war ihm so weltfremd, wie die Pflicht, für sie zu sorgen. Während er in lockerer und feuchtfröhlicher Gesellschaft tausende verprasste, fehlte der Familie das zum Leben notwendige Brot! Um die Erziehung der Kinder bekümmerte er sich nur insofern, als er ab und zu, und das nicht selten, alle auf das grausamste schlug. Mit der Frau wurde begonnen und mit dem Jüngsten geendet. Dabei fand alles Verwendung , was ihm in die Hand kam Stöcke, Peitschen, Ketten, Eisenstücke, Geschirr. Narben auf allen Körperteilen der Kinder zeugen heute noch von den erlittenen Misshandlungen. Als eines Tages der damals zweijährige älteste Sohn weinte, ergriff ihn der darob erboste Vater und warf ihn wie ein Ball oder ein Stein die Treppe hinunter. Nur dass die Mutter das Kind auffing und so den Sturz milderte, rettete dem Kind das Leben. Natürlich schrie der Kleine noch kläglicher als zuvor. Das machte den Vater so wütend, dass er Mutter und Kind in die Jauchegrube warf. Die Jauchegrube befindet sich in den thüringischen Bauernhäusern in der Mitte des Hofes und ist eine Grube ca. 2 m. tief, 3 m. breit und 6 m. lang. Auf die Hilferufe der beiden eilt die Schwiegermutter herbei, um gleich darauf ebenfalls in der Grube zu liegen. Nicht besser erging es dem Schwiegervater, der mit einer Mistgabel bewaffnet dem Wütenden zu Leibe wollte. Und während Großvater, Grossmutter, Mutter und Kind in der stinkenden Jauche zappelten und sich zu retten suchten, erzählte der Held des Stückes den wildauflachenden Bauern seine neueste Heldentat und unter den unflätigsten Witzen. Das war mein Vater! Später habe ich mich manchmal gefragt, wie war das alles möglich? Wie war es möglich, das ein solcher Mensch vierzig Jahre ein Familie quälen, vierzig Jahre wie ein Wahnsinniger leben leben durfte, ohne das die Nachbarschaft, ohne das die Behörde eingriff? Eine alles erklärende Antwort habe ich bis heute nicht gefunden. Viel erklärt das Wesen meiner Mutter. Meine Mutter kenne ich mehr nach den Schilderungen der älteren Geschwister als aus eigener Erinnerung; sie starb, bevor ich vier Jahre alt war. Sie war die Tochter armer Bauersleute in der Nähe von Erfurt und wie alle deutschen Arbeiter und armen Bauern, grenzenlos zufrieden und unterwürfig. Am schwersten musste sie ihre begeisterte Liebe für das bunte Tuch büssen. Sie liebte an ihrem Mann vor allem die Uniform und nur den Soldaten. Sie blickte zu ihm auf wie zu einem höheren Wesen, und empfand seine Liebe als die grösste, ihr erwiesene Gnade. Diese Ehrfurcht wurde durch die halbadlige Abstammung und durch die kriegerischen Auszeichnungen des Mannes noch bedeutend vergrössert. Damit aber war ihre Stellung in der Ehe gegeben. Sie war die Magd und er der Herr. Die Ehe war eine schlechtere Ausgab der Liebschaft zwischem dem Baron und seinem Zimmermädchen, die zum Unglück mit einer Heirat endete. Unergründlich, wie die tiefsten Tiefen des Weltmeers ist das Leid, das die vielgeprüfte Frau in dem Martyrium einer vierunddreissigjährigen Ehe frommgeduldig ertrug. In ihren Händen allein lag die Erziehung der Kinder und später, als der Mann alles vertrank und vertat, auch die Ernährung der Familie. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht war sie unermüdlich tätig, durch den Betrieb einer Kuchenbäckerei das zum Unterhalt der Familie notwendige Geld zu verdienen. Und anstatt der Mann dazu beisteuerte, forderte er noch. Sie sollte ihm das Geld erarbeiten, das er in Gesellschaft mit Dirnen verprasste! Und als Entgelt Grobheiten, Skandale, Misshandlungen und Prügel. Wie viele Nächte wachte sie, in banger Angst und Sorge um das Leben und das Leben ihrer Kinder. Wie viele Nächte arbeitete sie, wenn die Stunden des Tages nicht langten. O tränenreichste, schmerzensreichste Dulderin deines Geschlechts! Wie oft habe ich nichts sehnlicher gewünscht, um mit kindlicher Liebe all das zu vergelten, das du in namenloser Liebe an uns und an mir getan. Ach, wie zu oft habe ich gewünscht, alle deine um mich geweinten Tränen von den geliebten Wangen zu küssen oder sie in Tränen glücklichster Freude zu verwandeln. Heute, da in stiller Einsamkeit die Erinnerungen früherer Zei-ten besonders lebendig in der Seele werden, heute fasse ich den Kopf mit beiden Händen und frage mich verzweifelnd „Wie war es möglich, das ich dich vergessen konnte? Wie war es möglich, dass ich mithelfen konnte, die ewig währende Mutterliebe zu bezweifeln und zu leugnen; zu der selbst der Richter des „Scheiterhaufen“ und „der Vater“ mit heiligem Schauer zurückkehrte? Wie vielmehr ich, der Dich Mutter nennt? Wie immer sich auch der Begriff Pflicht, Recht, Liebe ändern mag, in deinem Leid, o Mutter, in deinem Schmerz bis du unerreicht gross, jetzt und in alle Ewigkeit. Dem ersten Buben, meinem ältesten Bruder, schenkte sie das Leben, als ihr Mann als preussischer Soldat vor Paris stand. Er wurde das getreueste Ebenbild des Vaters, wie er Soldat, Spieler und Trinker. Da er bereits dreissig Jahre alt war, als ich geboren wurde und nur selten zum Besuch bei uns weilte, hat er keinerlei Einfluss auf mein Leben ausgeübt. Seit mehr als zehn Jahren hat überhaupt jeder Verkehr zwischen uns aufgehört. Ihm folgte nur einige Jahre später meine Schwester, in der sich die Eigenschaften von Vater und Mutter mischten. Besass sie von Vater den unbeugsamen Willen und den frischen Unternehmungsgeist, dann von der Mutter die Kraft zu schwerer und dauernder Arbeit. Ihr Leben war noch dornenvoller als das der Mutter. Wegen ihrer Liebe von zu Hause verstoßen, heiratete sie einen Menschen, der nach wenigen Jahren sich in der Trunkenheit verlor. Nach der Scheidung behielt sie nicht viel mehr als ihre sechs oder sieben Kinder. Sie heiratete wieder, einen Witwer, ebenfalls mit mehreren Kindern und seit jener Zeit habe ich nie mehr etwas von ihr gehört. Der dritte Sprössling war wieder ein Bube, der 1882 geboren wurde. Er glich in allen Zügen der Mutter. Mit ihm war ich am läng-sten in Verbindung und wechsle heute mitunter noch Briefe. Trotzdem er später mein Vormund wurde, habe doch ich auf ihn den grösseren Einfluss ausgeübt als er auf mich und ihn sowohl der Partei wie der Gewerkschaft zugeführt. Mit seiner Geburt glaubte die damals zweiundvierzigjährige Frau ihre Pflicht als Mutter erfüllt zu haben. Eine besondere Freude wird die mit schwerer Arbeit überbürdete Frau nicht empfunden haben, als sie sich Anfang 1889 nochmals Mutter fühlte und Segenswünsche waren es sicher keine, mit dem der Vater das frohe Ereignis begrüsste. Am 14. August wurde ich geboren.
Die ersten Eindrücke
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Das erste Gefühl, das mich beherrschte und auf das ich mich heute noch erinnern kann, war bange Furcht. Der Ruf „Vater kommt“ erschreckte mich auf das tiefste und vor Angst wusste ich nicht, soll ich mich verstecken oder stehen bleiben. Soweit ich mich erinnere und so oft ich noch die gemeinsam mit ihm verlebten fünfzehn Jahre an mir vorüberziehen lasse, nicht auf ein liebevolles oder zärtliches Wort kann ich mich von ihm besinnen. Zum Glück war der Vater selten zu Hause, mitunter sah ich ihn wochenlang nicht, dann weilte er auf Jagden und Vergnügungsreisen. Damals bewohnten wir eine Etagenwohnung eines mittelgrossen Hauses in der damaligen Hauptstrasse von Erfurt. Rechts die Tür vom Hauseingang führte in den Laden, den die gute Mutter zu Ernährung der Familie betrieb, links die Tür in das Heiligtum, das wir Kinder nie oder nur selten betreten durften, in das Zimmer des Vaters. Es war das best eingerichtetste der ganzen Wohnung. Hinter dem Laden befand sich das Wohn- und daran anschliessend das Schlafzimmer. Die Küche und der Backraum waren hinter des Vaters Zimmer. Die Stuben waren niedrig und dunkel, das Haus schon alt. Das Töchterchen einer Nachbarfamilie, wie ich später erfuhr, des sozialdem. Reichstagsabgeordneten R. war meine erste Spiel-gefährtin, auf die ich mich erinnern kann. Besonders liebte ich die Spiele, wo ich predigen konnte – Hochzeits – Beerdigungs- u.s.w.. Ich bin, trotz Strindbergs “Damaskus“ und “Inferno“ zu viel Atheist um in all diesem den weisenden Finger einer höheren Macht oder des Schicksals zu sehen. Aber ein leises Gefühl stillen Glücks überfällt mich doch, wenn vor mir der dreijährige, kleine Knirbs mit dem ausgestopften Bauch und der Mutterschürtze auf dem Stuhle steht, um der nach grausamem (n) Schmerzenslager gestorbenen Puppe die Beerdigungsrede zu halten. Ja, damals. – Die treueste Pflegerin wurde mir, da die Mutter vor allzustrenger Arbeit keine Zeit fand, meine Schwester. Und das dürfte auch die Ursache sein, warum ich mich später in schmerzlichster Sehnsucht mehr nach einer Schwester sehnte, als nach der Mutter, um in dessen Schoss mein Haupt zu bergen und alles Leid und alle Schmerzen der Seele auszuweinen. Und namenlos glücklich fühlte ich mich, als mein Wunsch in Erfüllung ging und das beste Mädchen meine Kameradin, meine Freundin und meine Schwester wurde. Frühzeitig wurde alles getan, um mir die gleiche Begeisterung für das Soldatenleben zu erwecken, die die ganze Familie dafür hegte. Bleisoldaten, Festungen, Gewehr, Säbel, Trommel und dergleichen war mein erstes und einziges Spielzeug. Erst dreijährig, schickte mein älterer Bruder, der damals als Unteroffizier in Gotha weilte, mir eine Soldatenuniform. Mit diesem Kleid lief ich nun Tag für Tag durch die Strassen und die Familienmitglieder waren nicht wenig stolz, wenn das stramme Salutieren des kleinen Knirbses von den Soldaten und Polizisten lächelnd erwidert wurde. Am glücklichsten zeigt sich daron stets meine Mutter. Die arme Frau. Selbst das dreissigjährige Martyrium unter einem waschechten Soldaten und Krieger, wie es mein Vater war, mit all den scheusslichen Erniedrigungen, Leiden, Qualen und Misshandlungen, konnte bei ihr die Begeisterung für das bunte Tuch nicht schwächen. Alle ihre Buben, das war ausgemacht, mussten stramme Soldaten werden und wie der Aeltestes zwölf Jahre dienen. Auf dem Sterbebett war es ihr letzter Wunsch, den “Willy“ nochmals als Soldaten zu sehen“. Und so wurde ich angekleidet mit der Uniform, den Helm auf gesetzt und den Säbel umgeschnallt und an das Bett der Sterbenden gebracht. Die arme Mutter. Hätte sie geahnt, welche ganz andere Wege später ihr Jüngster zu gehen bestimmt war. Zu stark wurzelte das Vorurteil in ihrer Seele, zu mächtig wirkte die an der Mutterbrust begonnene Erziehung und die landesübliche Gewohnheit und eine fast klösterliche Abgeschlossenheit tut das seinige, um die Ideen und Anschauungen des Bauernmädchens zu konservieren. Nach der Mutter Tod wurde die Bäckerei aufgegeben, die Schwester verliess uns und der Vater, der damals 11 jährige Bruder H. und ich zogen in eine kleinere und bescheidenere Wohnung. Aber nicht lange. Mein Vater macht bald eine gute Partie und heiratete eine Witwe mit cirka 20.000 Mark Vermögen. Mit dem Geld erwarb er eine Gastwirtschaft in einem Dorf in der Nähe von Weimar. Die Stiefmutter war ein geistig etwas beschränktes Wesen und die Behandlung und Prügel, die sie gleich meiner Mutter von meinem Vater erhielt, trugen nicht dazu bei, ihre Intelligenz zu schärfen. Ihr fehlte jede Liebe zu dem Mann wie zu uns. Die Misshandlungen seitens des Mannes quittierte sie durch Lügen und kleine Intrigen und die magere Kost verbesserte sie durch Naschereien. Mit uns schimpfte sie den ganzen Tag, sodass wir schon nach kurzer Zeit sie nicht mehr ernst nahmen. Von einem Familienleben konnte jetzt noch weniger wie früher die Rede sein. Wenn ich heute, in den stillen und langen Nächten, die ich in einer Zelle der Polizeikaserene Zürichs, die mich immer an eine zur inneren Einkehr mahnende Klosterzelle erinnert- durchlebe und alle Stunden meiner frühesten Kindheit vor mir vorüberziehen lasse, dann kommt es mir immer deutlicher zum Bewußtsein, dass die Wurzeln meines Wesens, meiner Leidenschaft, meiner Symphatien und Antipathien, bis in diese entfernte Tage reichen. Der Eckel und Schreck gleichzeitig erregende betrunkene Gestalt meines Vaters flösste mir einen tiefen, unüberwindlichen Abscheu gegen alle alkoholischen Getränke ein. Und während meine Schulkameraden mir Kreisel, Peitsche und alle ihre Herrlichkeiten anboten, wenn ich ihnen heimlich zu einem Glas Bier oder einem Gläschen Likör verhalf, konnte ich bei besten Willen nie einen Schluck von diesem Zeug über die Lippen bringen. Aus gleicher Ursache verabscheute ich jedes Zeichen von Roheit und Brutalität. Der plötzliche Verlust zweier mich pflegender Frauen, meiner Mutter und Schwester, dem bald derjenige meines Bruders folgte, raubte mir jede Pflege des kindlichen Gemüts, jede tröstende Zärtlichkeit und helfende Liebe. Aber der Keim zu etwas weichem, zarten, liebreichen war gelegt und drängte immer und immer wieder zu einer Aeusserung. Je mehr und je länger ich jede zärtliche und liebevolle Pflege entbehren musste, immer grösser wuchs sie, immer schmerzlicher empfand ich jedes harte und böse Wort. Menschen hatte ich keine, die ich lieben konnte und die mich lieb-ten. Da flüchtete ich mich zu den Pflanzen und Tieren. Mit ihnen lebte ich, mit ihnen wuchs ich auf und ihnen liess ich die ganze Zärtlichkeit meiner Kindesseele angedeihen. Als ein Hund erschossen werden musste, den wir über 4 Jahre hatten, weinte ich tagelang und wollte mit ihm in die Grube. Damals war ich zehn Jahre alt. Das schrecklichste für mich war es, als ich als 13 Jähriger jungen Tauben die Köpfe abreissen sollte. Trotz allen Drohungen des Vaters konnte ich vor Weinen und Rührung seinen Befehlen nicht nachkommen. Wohl nahm ich die Taube in die Hand, aber ein Blick in ihre kleinen, flehenden Augen machte mich bis auf das innerste erschaudern. Ja, noch später, wo ich schon Mitglied der “revolutionären“ Schuldemokratie war, konnte mich eine Diskusssion so mitnehmen, dass ich Nächte lang weinte und und direkte Weinkrämpfe bekam. Geschlagen zu werden war für mich das schlimmste, fürchterlichste Unglück, das mich treffen konnte und ich war entschlossen, gleich dem Helden in meiner dramatischen Szene “Jung-Volk“, eher zu sterben als eine körperliche Züchtigung zu ertragen. Schlagen konnte ich nie. Diese fast mädchenhafte Weichheit ist mir umso unerklärlicher, als ich schon recht früh eine Masse Indianerbücher und Räubergeschichten lass, die doch sich nicht dazu angetan waren, diese Zartheit und Empfindlichkeit zu fördern. Heute noch kann das Leiden eines Anderen oder eine gewisse Naturstimmung, ja schon ein Bild oder ein Lied in meiner Seele die zartestes und weicheste Regung erwecken, die ich dann stammelnd in Verse auszudrücken suche. Der seit der frühesten Kindheit ungestillte Drang nach Liebe und zärtlicher Pflege lebt heute in unverminderter Stärke in mir und ist der stärkste Trieb, der mir die Feder in die Hand drückt. Auf die ersten Eindrücke in meiner Kindheit führe ich auch meine Antipathie gegen alles, was mit dem Militär in Zusammenhang steht, zurück. Für mich war jahrelang ein Soldat und ein betrunkener Raufbold ein und dasselbe. Ich hatte zu Hause einen zu guten Anschauungsunterricht genossen. In jedem uniformierten Menschen sah ich etwas von einem Henker. Durch das Studium wissenschaftlicher Untersuchungen, hauptsächlich einer Menge volkswirtschaftlicher Leh-ren, trat später an Stelle der gefühlsmässigen Abneigung gegen das Militärwesen mehr die bewußte Wertschätzung über die Rolle des Militärs im heutigen Staat. Trotzdem befürchte ich, dass, vielleicht unbewußt, auch heute noch die aus den ersten Eindrücken resultierte gefühlsmässige Antipathie nachwirkt. Kein Buch und keine Lehre und auch kein Resultat wissenschaftlicher Forschung wirkt ja so nachhaltig und tief auf uns, wie gefühlsmässig erworbene Eindrücke persönlichen Erlebens. Diese Erkenntnis ist es auch gewesen, die mich in den letzten Jahren auf eine Aende-rung der Unterrichtsmethode in der sozialistischen Bildungsarbeit drängen liess. An Stelle des toten Unterrichts abstrakter und theoretischer Begriffe sollte mehr und mehr die Erwerbung sozia-listischer Erkenntnisse auf dem Wege gefühlsmässiger eigener Er-lebnisse der zu Bildenden geschehen. Das, was heute zufällig geschieht, muss zu einer Lehrmethode ausgebaut werden. Ich verhele mir nicht die imanenten Schwierigkeiten, die einer völligen Lösung dieses Problems harren, aber es muss gelöst werden, soll die sozialistische Bewegung mehr als Parteisache, zu einer wirklichen Volks- und Kulturbewegung werden. Recht früh äusserte sich bei mir der Drang zu organisieren. Als Vierjähriger liebte ich neben dem “predigen“ nichts so sehr als das Organisieren der gespielten Hochzeiten, Feste etc. Ich verteilte die Rollen, stellte die Mitspielenden auf, bezeichnete den Weg, baute den Altar und so weiter. Später arrangierte ich Indianer- und Räuberspiele oder auch Theaterszenen. Als 12 jähriger führte ich ohne Auftrag und Weisung eine vaterländische Feier durch, an dem das halbe Dorf und die gesamte Jugend teilnahm. Und noch bevor ich mit der sozialistischen Arbeiterbewegung in Berührung kam, betätigte ich mich an der Gründung von Theaters und Fussballklubs. Woher dieser Drang kommt, kann ich mir freilich nicht erklären. Am schlimmsten hatte ich unter dem Furchtgefühl zu leiden, das sich von Jahr zu Jahr steigerte. Vor allem wurde die Angst vor dem Vater riesengross. Während ich in der frühesten Kindheit mich nur vor seinen harten und bösen Worten und vor den Schlä-gen fürchtete, hatte die immerwährende Drohung mit dem “Aufschiessen“ es soweit gebracht, dass ich schon als 8 jähriger, meinem Vater zutraute, mich zu ermorden. Diese Angst wuchs ins Unermessliche, als er in jener Zeit meinen Bruder zu erschiessen versuchte, der, mit Hemd und Hosen bekleidet, sich nur durch einen Sprung aus dem ersten Stock unseres Hauses retten konnte. Heute presst es mir noch die Kehle zusammen, wenn ich daran denke, wie ich als 8 jähriger vor jedem Einschlafen betete “Lieber Gott, mach, dass mein Vater mich nicht totschiesst.“ – Das Lesen einer Menge Indianerbücher, Räuber- und Gespenstergeschichten verkleinerten natürlich diese Furcht nicht und übertrugen sie nur noch auf andere Erscheinungen. Ich fürchtete mich vor dem Blitz, dem Donner, der Dunkelheit, vor hundert eingebildeten Gestalten, die meine gereizte Phantasie schuf, vor etwas grossem Unbekannten, vor dem Schicksal, vor Gott. Es hat lange, lange gedauert bis ich diese Furcht überwun-den hatte und ich jauchzend und durch ein inneres Kraftgefühl glücklich, in dunkelster Nacht durch die schwersten Gewitter wan-derte. Bei allem qualvollem, das mir die Angst bereitete, verdanke ich ihr doch viel. Aus Angst habe ich, bevor ich die moralische und sittliche Kraft kannte, das Schlechte gemieden und das Gute getan. Zu den nützlichen Eigenschaften, die ich der Kindheit verdanke, gehört ein stark entwickeltes Selbstständigkeitsgefühl. Das kommt wohl daher, dass sich nach dem Tod meiner Mutter eigentlich Niemand mehr um mich bekümmerte. Niemand beaufsichtigte oder half mir bei meinen Schulaufgaben, erkundigte sich nach meinem Wohlergehen, Niemand nahm sich meiner an. Hatte ich etwas getan oder nicht getan, was des Vaters Zorn reizte, bekam ich eine gute Portion Prügel und ging, wie stets, weiter meine eigene Wege. Ich glaube nicht an ein das Leben bestimmendes Schicksal und noch weniger an eine göttliche Vorsehung, wenn ich aber meine ersten Lebensjahre zergliedere und analysiere, komme ich doch zu der Ueberzeugung, das die mitunter unbewußt empfangenen Eindrücke und vor allem die der frühesten Jugend einen starken Einfluss auf unser Gefühls- und Seelenleben ausüben und so doch indirekt unser Leben mitbestimmen.
Die Schulzeit.
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Meine Schulbildung wurde durch einen häufigen Wohnungs-wechsel der Familie sehr erschwert. Im ganzen besuchte ich an acht Orten, meistens kleinen Bauerndörfern, die Schule. Der dort gebotene Unterricht war mehr als dürftig. Die Hauptsache war Religion und dieser Unterricht beschränkte sich auf das Auswendiglernen von Bibelsprüchen und Gesangbuchversen. In der Geographie kam man über das Herzogtum Gotha nicht hinaus. Die ganze Jämmerlichkeit der sonst so hoch gelobten deutschen Volksschule wird recht treffend durch folgenden Vorfall gezeichnet, der sich in einem Dorf in der Nähe unserers Wohnortes zutrug. In einer Gemeindeversammlung stellte der Lehrer den Antrag, eine Karte von Europa anzuschaffen. Da steht ein biederes Bäuerlein auf und sagt “Wozu brauchen wir eine Karte von Europa, dorthin kommt doch keiner von uns!“ Meine schwächsten Seiten in der Schule waren Singen, Schönschreiben und Turnen. In diesen drei Fächern wurde ich nie Meister, während ich im Rechnen, im Aufsatz, in Geschichte etc. stets eine gute Note errang. Eine besonders qualvolle Zeit war es für mich, als der Vater plötzlich den Einfall bekommt, ich müsse Klavierspielen lernen. Jedenfalls versprach er sich durch etwas Musik in der Wirtschaft einen besseren Besuch, das Unglück aber war, dass ich absolut kein Talent und noch weniger Lust zum Musiker hatte. Dazu kam die Pferdekur meines Vaters, um mir dieses beide fehlende beizu-bringen. Mitunter musste ich 6. 7 und noch mehr Stunden am Kla-vier sitzen und ohne Pause spielen. Diese Tortur wurde dadurch nicht angenehmer, das ich begreiflicherweise im Anfang nur weni-ge Accorde spielen konnte. Ueber ein Jahr dauerte die Qual. Ich hatte es soweit gebracht, das Lied, “Guter Mond du gehst so stille“ – spielen zu können. Wieder musste ich eines Tages mehrere Stunden ununterbrochen spielen ohne Aussicht, erlöst zu werden. Der Vater hockte wie gewöhnlich berauscht auf seinem Stuhl. Im Vertrauen auf den Rausch erwiderte ich, als er frug, was ich spiele, den “Torgauer Marsch“. Das war sein Lieblingsstück und ich hoffte damit los zu kommen. Sei es aber nun, dass er nicht genügend berauscht war und die Töne noch unterscheiden konnte oder war ihm der Marsch so bekannt, dass er ihn auch im ärgsten Rausch unterscheiden konnte, auf alle Fälle erkannte er meine Lüge. Die Folge war ein Mordslärm, eine tüchtige Tracht Prügel. Im Eifer hieb er mit der Kette, die diesmal zur Züchtigung diente, in der eine damals noch üblichen Petroleumlampen, die dabei in Scher-ben ging. Eine neue Ursache, die Prügelei fortzusetzen: “Wegen Dir Lump muss ich eine neue Lampe kaufen“, rief er aus und Schlag folgte auf Schlag. Schliesslich holte er einen Strick, einen guten, neuen Strick, und forderte mich auf, mich aufzuhängen. Wenn ich am andern Tag noch lebte, würde er mich totschlagen. Ich nahm den Strick und ging nach dem Boden mit festem Vorsatz, dem Verlangen nachzukommen. Denn nie wäre es mir eingefallen, den Befehlen meines Vaters zu trotzen oder mich zu widersetzen.Freudige Gefühle freilich waren es keine, die mich bewegten. Ich dachte an den Schulausflug der bald sein sollte, und verschiedene Gespiele und Kameraden, an meinen Bruder und ganz zart und schwach noch an die verstorbene Mutter und die ersten Kindheits-tage und schlief dabei mit dem Strick in der Hand ein. So fand mich meine Stiefmutter und damit endeten meine musikalischen Studien. Eine besondere Quälerei war für mich auch die Beschaffung der nötigen Lehr- und Lernbücher. Derselbe Mann, der tausende für Jagden und seine Leidenschaften ausgab, liess mich mehrmals um 10 Pfenning für ein Schreibheft bitten und machte den grössten Skandal, bevor er sie gab. Darunter litt ich schrecklich. Ebenso unter den zerrissenen Kleidern und zu grossen Schuhen, mit denen ich zur Schule musste. Ich war oft das Gespött der übrigen Kinder. Ein alter Rock des Vaters, der mir fast bis auf die Schuhe reichte, trug mit den Spitznamen “Schwenko“ ein. Vor der Konfirmation fieberte ich geradezu und dachte an Selbstmord, da ich keinen Anzug und keinen Kragen bekommen sollte. Schliess-lich legte ich einen Kragen meines Vaters an, der mindest 55 cm hatte, während mein Hals höchstens 35 war. Ich half mir, indem ich in die Mitte des Kragens ein Loch schnitt und den Kragen ander-thalbmal um den Hals legte. Was litt ich nicht allein an diesem Tag. Vor Scham drohte ich zu ersticken. Unzählig sind die Leiden, denen ich als Kind ausgesetzt war. Mitten in der Nacht, wenn der letzte Gast die Wirtschaft verlassen, weckte mich mein Vater und zwang mich, nur mit dem Hemd bekleidet, die Gläser und Flaschen zu putzen. Er war betrunken und konnte nicht unterscheiden, ob ein Glas geputzt oder ungeputzt war und so musste ich Gläser vier, fünf und noch mehrmals reinigen. Ein Glück, wenn er so betrunken war, dass er bald einschlief, dann stahl ich mich leise davon, zurück in das Bett und weinte bitterlich. Ich war noch nicht zehn Jahre, da weihte mich der Betrunkene mit den schmutzigsten Zoten in die Geheimnisse des Ehelebens ein und führte in meinem Beisein die eindeutigsten Griffe an dem Körper meiner Stiefmutter aus. Das Blut schoss mir in die Wangen und ich verbarg den glühenden Kopf hinter einem Zeitungsblatt. Er riss es weg, ein echter Wirtssohn muss alles wissen und du bist alt genug dafür“, schrie er dazu. Selbst wenn der Lehrer und Pfarrer als Gäste daweilten scheute er sich nicht, die dreckigsten Zoten zum Besten zu geben. Und nur die dringlichsten Vorstellungen dieser Männer brachten in soweit, dass ich dann das Zimmer verlassen durfte. Von allen zehn Geboten schien mir zuerst das vierte für unwahr und unrichtig. Wie konnte ich einen Vater ehren und lieben, der sich schlimmer und schmutziger als ein Tier benahm? Hier setzten zuerst meine Zweifel an der Richtigkeit der göttlichen Ge-bote und Gesetze ein. Als Zehnjähriger musste ich mitunter schon selbstständig die Wirtschaft leiten. Der Vater war auf der Jagd und die Stief-mutter klatschte in der Nachbarschaft. Ich bediente die Gäste, spielte mit ihnen Karten und politisierte wie ein Alter. Die Berichte über die Reichstagsverhandlungen war mir das erste, was ich regelmässig las und verfolgte. Und damals erregte der Burenkrieg alle Gemüter auf das heftigste. Ich war Feuer und Flamme für die Buren und verteidigte sie in der Wirtschaft genau so tapfer wie in der Schule gegen die Kameraden. Ich fraternisierte direkt und erfand selbst Geschichten, um den Mut und die Tapferkeit der Buren im hellsten und herrlichsten Licht erstrahlen zu lassen. Ja, ich traf sogar Vorbereitungen auszuwandern und ihnen zu helfen. Deshalb schnitt ich das Futter meines Rockes auf und füllte diesen mit Proviant. Das wurde entdeckt bevor ich ab-reisen konnte und die Folge war natürlich eine tüchtige Tracht Prügel, umso mehr, als ich nicht die schlechteste Wurst gewählt hatte. Meiner Begeisterung für die Buren tat das aber keine Einbusse. Wie früher, so summte ich auch danach noch während des ganzen Tages “Die dreifarbige Fahne für s Transvaaler-Land, auf Buren beschützt sie Gwehr in der Hand.“ Eine ähnliche grosse Begeisterung erlebte ich erst 1905 wieder und zwar für die russische Revolution. Damals kaufte ich mir eine Schrotpistole für 2,50 Mark und wollte allen Ernstes nach Petersburg, den Zaren töten. Meine Freunde hatten nicht wenig Mühe, mich von dem verrückten Gedanken abzubringen. Ein Lichtschimmer in das tägliche Grau meiner Kindheit schaffte mir die Freundschaft mit einem gleichalterigen Schulkameraden, dem Sohn begüterter Bauern. Bei ihm brachte ich jede Stunde freie Zeit zu. Wir fuhren auf das Land, trieben uns im Stall und in der Scheune herum, rauften, spielten, assen Beeren und Aepfel, wenn sie reif waren, mitunter auch schon vorher. Am liebsten aber zogen wie auf die Jagd, bewaffnet mit Pfeil und Bogen. Ein toter Rabe oder eine andere Tierleiche, die wir fandenm, wurden als stolze Trophäen des Jagdzuges heimgebracht. Einmal erschreckte uns eine Hase, der jäh aufsprang, fast bis zum Tode. “Das war kein richtiger Hase, das war ein wilder Hase“ – versuchten wir unsere Angst zu entschuldigen. – Ich war noch nicht 13 jahre, da hatte der Vater nicht nur den Verdienst der vielen Jahre und die erheirateten 20000 Mark verlumpt, sondern auch noch obendrein Schulden gemacht. Die Familie war gezwungen, die Wirtschaft aufzugeben. Der Vater zog in die Stadt zur Miete. Jetzt begann die traurigste Zeit meiner Kindheit. Arbeiten konnte der Vater nicht, hatte es nie gelernt und so lebte die Familie von dem Verdienst der Stiefmutter, den diese als Waschfrau verdiente und das war kläglich genug. Die entbehrlichsten Möbelstücke wurden gerichtlich beschlagnahmt und zwangsweise verkauft. ich wagte nicht mehr mich satt zu essen und würgte an den wenigen Bisse, die ich mir zu nehmen getraute. Dazu kam, dass ich nun, das letzte Jahr in die Stadtschule musste, wo ich mit meiner sechsjährigen Dorfschulbildung gerade keine beineidenswerte Rolle spielte. Ich gab mir redlich Mühe, nachzukommen und einigermassen zu folgen und bis zu einem gewissen Grad ist mir das auch gelungen. Dieses letzte Schuljahr gehörte zu jenen, in welchem ich am meisten profitierte. Aber eine Szene bleibt mir unvergesslich. Wir hatten Religions-stunde, plötzlich krachte ein Schuss. Alles horcht auf, wer ist das gewesen? Der Lehrer ist wütend. Niemand meldet sich. Jeder Einzelne wird streng und aufs Gewissen gefragt. Niemand bekennt. Es beginnt eine peinliche Untersuchung. Bei mir wird eine Pistole, aber kein Pulverblättchen gefunden. Der Lehrer brüllt mich an, “Gestehe, Du bis es gewesen“. Der Wahrheit entsprechend sage ich nein. Da meldet sich ein Schüler und erzählt, dass ich noch gestern Pulverblättchen gehabt hätte, ich gebe das zu, sage aber, dass ich diese gestern alle beim Spiel verbraucht. Der Lehrer glaubt das nicht. Ich muss mich überlegen und der Lehrer haut los. “Gestehst Du nun, bist du es gewesen“ – frägt er nach einer Pause. “Nein“, schrie ich. Er prügelte weiter. “Bist Du es gewesen?“ – Nein. “Gestehe oder ich schlage eine halbe Stunde“. – Ich war es nicht. Der Lehrer lässt von mir ab. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, eine halbe Stunde Prügel zu bekommen, aber um keinen Preis in der Welt hätte ich etwas zugegeben, was ich nicht getan hatte. Der Lehrer war sonst gerecht und ich kam gut mit ihm aus. Verdienter war eine Züchtigung, die ich bei einer anderen Gelegenheit erhielt. Das Schreiben war immer noch mein Steckenpferd und fast täglich mussten wir Aufsätze zu Hause schreiben. Jeden Tag kam dann der oder jener daran, seinen Aufsatz vorzu-lesen. Bei dieser Gelegenheit verstand ich es vortrefflich, mich klein zu machen und kam nie daran. Das Glück machte mich kühn. Ich schrieb nie mehr einen Aufsatz. Da, eines Tages, brach das Verhängnis über mich herein. “Aufsatzhefte vor“ M. lese deinen vor“. Das war leichter verlangt als getan. Zum Glück hatte ich Geistesgegenwart genug und erzählte, die Augen auf das Heft gerichtet, frech eine Geschichte. Der Lehrer schwieg und schon glaubte ich mich gerettet. Da plötzlich “Münzenberg bring mir mal dein Buch vor“. Die Schandtat wurde entdeckt und die Strafe folgte der Sünde auf dem Fusse. Uebrigens war das Jahr unter den gereiften und erfahrernen Stadtburschen von heilsamen Einfluss auf meine Schüchternheit. Wenn ich sie auch nicht völlig verlor, so wurde sie doch stark gemildert. Ein um so grösserer Nachteil waren für mich die Unmenge Indianer- und Räuberhefte, deren Inhalt ich geradezu verschlang. Ausser hunderten von Indianerbüchern hatte ich 100 Hefte Buffalo Bill, 100 Hefte “Räuberhauptmann Fetzer“, 100 Hefte “Der Königsmord in Belgrad“, 100 Hefte “Lebendig begraben“ und eine Masse ähnlichen Schund gelesen. Ueberhaupt war ich in den letzten Schuljahren und in den ersten Jahren nach der Schulentlassung direkt wie versessen auf das Lesen. Ich las alles was mir in die Hände kam, und schleppte alles, was ich gedrucktes fand, nach Hause. Alte Fahrpläne, Kataloge, Schulbücher, Kalender, Zeitungen, Indianerhefte, wissenschaftliche Bücher, von denen ich keinen Deut verstand, alles, alles wurde zusammen-gefasst. Vor meinem Vater verbarg ich die Schätze geschickt, meine Stiefmutter tobte und prophezeite mir, das mich das Zeug an den Galgen bringe. Die unwahren, abenteuerlichen Geschichten raubten mir jeden Sinn für die Wirklichkeit. Nachts lag ich wach und träumte vor allen möglichen Heldentaten und wünschte mir nichts sehnlichster, als ein Haus voll Bücher. In den glühendsten Farben malte sich meine Phantasie die damit möglichen Genüsse aus. Die Frage meines Vaters, was ich nun werden wollte, traf mich ein kalter Wasserstrahl. Daran hatte ich freilich nie gedacht. Lesen, das war mein einziger Wunsch, sonst wusste ich nichts und verlangte nichts. Der Vater enthob mich weiteren Sorgen und be-stimmte, das ich Coiffeur werden sollte. Mir war es recht, weil mir alles gleich war.
In
der Lehre
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Eine Lehrstelle hatte mein Vater bei einem Bekannten bald gefunden. Der Meister glich meinem Vater fast aufs Haar und zwar nicht körperlich, auch in seinem Wesen und Betragen. Wie mein Vater, so trank der Meister, wenn auch nicht gar so viel und war genau wie mein Vater ein alter Zünftler und Erzreaktionär, für den die Erinnerungen an das Soldatenleben der einzige Stolz war, der sich in der dümmsten und lächerlichsten Weise äusserte. Das Geschäft ging gut und ausser dem Meister und mir waren zwei Gehilfen und ein weiterer Lehrling beschäftigt. Die ersten Tage gefielen mir nicht übel und ich beschloss zu bleiben. Mein Vater hatte unterdessen das Glück noch einmal versucht und ohne Geld und Kapital eine Wirtschaft gepachtet. Bei dem Einzug fehlte es ihm an dem Notwendigsten. Das Bier schickte die Brauerei auf Borg, und ein mitleidiger Kaufmann lieh die wichtigsten Lebensmittel. Ohne eine Mark Geld in der Tasche wurde die Wirtschaft übernommen. Wie gesagt, an Unternehmungsgeist fehlte es dem Alten nicht. Wir hatten es abgelehnt, dass ich bei dem Meister Wohnung nehme und so maschierte ich alle Morgen den halbstündigen Weg nach der Stadt und am Abend zurück. Das war aber für mich ein Genuss und machte mir Spass. In der Lehre gefiel es mir aber je länger, je weniger. Vor allem eckelte mich die Unsauberkeit an. Das Frühstück und der Nachmittagskaffee wurden in einer Ecke des Ladens genommen, wo Haararbeiten verrichtet wurden. Die Fett- oder Butterbrote mussten dann immer erst von Haaren gesäubert werden. Auch die Liebdienerei gegen die Kunden, das dienen und bücken behagte mir nicht. Der Meister war nervös und zumal bei starkem Besuch, meistens Samstags, gereizt. Der Laden war mit Kunden überfüllt und Meister und Gehülfen hatten alle Hände voll zu tun, der Meister bis zum äussersten geladen. Ich bemühte mich, so wenig zu stören wie nur möglich und zu helfen, wo ich nur konnte. Oeffnete die Türe, bot den Kunden Feuer an, räumte auf u.s.w. Aber bei aller Geschäftigkeit konnte ich ein gewisses Unbehagen nicht los werden, ich fühlte mich eigentlich recht überflüssig in dem Betrieb. Da schreit mich plötzlich der Meister an: “Geh heim, dummer Junge, wenn du nicht anderes kannst als Maulaffen feil halten“. Ich froh, auf eine so billige Art loszukommen, nahm flugs meinen Hut und verschwand, ohne grossen Abschied zu nehmen. Aber ich hatte noch nicht die rettende Haustüre erreicht, packt mich der Meister am Kragen “Was, das könnte Dir so passen. Dein alter Meister schuftet sich so tot und Du drückst dich. Hier bleibst Du“. Mit diesen Worten warf er mich in die Ecke, das mir alle Knochen knakten. Gehorsam blieb ich auf dem Stuhl wie festgenagelt sitzen und denke darüber nach, wie schwer doch eigentlich das Leben ist. Da befiehlt mir der Meister, ich soll heimgehen, ich beeile mich, seinem Befehl nachzukommen und nun – – – Meine Grübeleien werden vom Meister unterbrochen, der mich stürmisch empor reisst und mit den Wort “Du fauler Hund, willst Du nicht arbeiten“- nach vorn stösst und einige Ohrfeigen runter haut. Das Leben erscheint mir immer verwickelter und schwerer. Wie mans macht, ist es verkehrt. Die Arbeitszeit dauerte von morgens 6 bis abends ½ 9 Uhr, ohne Pause. Am Samstag bis 10 Uhr. Am schwersten fiel mir die Sonntagsarbeit, wo ich von 7. – 1 Uhr arbeiten musste. O, wie so gern wäre ich mit anderen Kameraden durch Feld und Wald gestreift und hätte so gern an ihren Wanderungen teilgenommen. Mir war es todestraurig zu Mute und ich weinte mitunter bitterlich. Und trotzdem hätte ich die Lehre durchgehalten, wenn wir nicht einen neuen Gehilfen bekommen hätten. Sein Vorgänger war freundlich zu mir und unterwies mich spielend in vielen Handgriffen unseres Berufes. Der Neue war jung, kaum ausgelernt und bildete sich wunder was ein, das er nun Stifte unter sich habe. Sein Benehmen forderte unsern Trotz heraus und den wollte er mit Schimpfereien und Schlägen bezwingen. Schlagen wollte ich mich aber auf keinen Fall mehr lassen, wir wurden handgemein und da er der bedeutend stärkere, unterlag ich stets. Er scheute vor keiner noch so rohen Handlung zurück. Das Zimmer war niedrig, vielleicht 2½ m. hoch, er nahm mich, stemmte mich gegen die Decke, dass der Kopf krachend gegen die Decke schlug. Dann wieder nahm er einen Stein und schlug mich damit auf den Kopf. Die Folge davon war eine Gehirnerschütterung und man brachte mich schleunigst ins Spital, die Aerzte zweifelten an meinem Aufkommen. Und ich überstand es doch. Am Tage meiner Entlassung bereitete mich der Arzt auf die schonenste Weise darauf vor, dass mein Vater – den ich nie vermisste – nicht mehr lebe. Am gleichen Tag, als ich in das Spital gebracht wurde, hatte er sich vollständig berauscht, erschossen. Ein anderer Ausweg war ihm nicht mehr geblieben. Der Bruder kam, um die Wirtschaft bis zum Konkurs, der uns das Letzte rauben sollte, zu leiten. Mir war die Lust am Coiffeurberuf gründlich vergangen und obendrein fehlten jetzt auch die Mittel, um das Lehrgeld zu zahlen. Ich blieb einige Zeit bei meinem Bruder in der Wirtschaft, ging dann auf Anraten meiner Schwester, die nach dem Tode des Vaters uns wieder besuchte, in eine Schuhfabrik. Damit begann eine neue Phase meines Lebens. Eine ganz neue, unbekannte Welt tat sich vor mir auf. Die letzte Verbindung mit der Familie war ge-löst. Ich stand allein, nur auf mich angewiesen aber nun allein auch Herr über mein Tun und Lassen. Damals zählte fünfzehn Jahre.
In der Fabrik
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Es war eine der grössten Fabriken am Orte, in die ich eintrat, sie beschäftige mehr als fünfzehnhundert Arbeiter. Ich wurde in der Zwickerei als Leistensortierer angestellt, d. h. ich musste mit einem kastenähnlichen Karren von einem Arbeiter zum anderen fahren und die nicht mehr nötigen Leisten sammeln, nach Regalen bringen und dort in bestimmte Fächer sortieren. Am ersten Tag war ich von dem Lärm und Kreischen der Maschinen, von dem Klopfen und Pochen der Hämmer und von den vielen Stimmen wie betäubt. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass ich mich jemals in diesem Betrieb zurecht finden könnte. Ich hatte tatsächlich im-mer Angst, mich zu verirren. Und es dauerte mehrere Tage bis ich mich einigermassen an den Lärm gewöhnt hatte. Die gleiche Arbeit wie ich verrichteten noch zehn gleichaltrige Burschen, das wurden nun meine Freunde. Mit ihnen sass ich zusammen während dem Frühstück, Mittag & Vesperbrot. Mit ihnen ging ich nach Hause und brachte später die Abende zu. Ihr Verkehr half mir dann auch am meisten, die Schüchternheit und die Angst, die ich noch nach Wochen in der Fabrik vor dem ungewohnten Leben und Treiben empfand, zu überwinden. Die älteren Arbeiter behandelten die jüngeren, mit wenigen Ausnahmen, grob und brutal. Die meisten verkehrten nicht anders als mit Schimpfwörter mit ihnen und manche misshandelten und warfen mit Leisten, Schuhen und anderen Gegenstände. Die Arbeit war nicht schwer, der Lohn im Anfang 4,50 Mark. Das war wenig, sehr wenig. 2 Mark musste ich pro Woche für Logis und Morgenkaffee zahlen, blieben mir noch 2,50 Mark für Nahrung, Kleidung und alle weiteren Ausgaben. Da hiess es sparen, wo dies möglich war. Am Morgen nahm ich etwas Kaffee & Brot, am Mittag leistete ich mir ein Stückchen Wurst dazu. Für 20 Pfennig Abfallwurst reicht mitunter für zwei Tage. Das gleiche Menü am Abend. Von einem Bedürfnis nach geistiger Nahrung hatte ich damals zum Glück noch keine Ahnung, sonst hätte ich jene Jahre wohl kaum überlebt. Die ersten Jahre in der Fabrik verbringe ich wie in einem Dämmerzustand, ein Tag reiht sich in gleicher Eintönigkeit und im gleichen Grau an den anderen. Am Morgen haste ich in Gemeinschaft mit vielen hunderten nach der Fabrik, am Abend müde nach Hause. Nie kommt mir der Gedanke, ja, ich glaube, sogar nie der Wunsch, dass es anders sein könnte, einmal anders werden. Ich sehe weder Frühling, Sommer, Herbst, noch Winter, weder grüne Bäume, noch welkes Laub, höre kein Vogelsang, geschweige Musik oder Konzert. Ich bin gefühls- und empfindungslos gleich den Maschinen geworden, die in der Fabrik sausen und und stampfen. Meine Welt ist mein Arbeitsplatz. Mein Einkommen vergrösserte sich etwas dadurch, dass ich für die Arbeiter Frühstück einkaufen gehe, dafür erhalte ich pro Woche 10 oder 15 Pfennig. Mitunter brachte ich es auf über 20 Kunden, die ich bedienen durfte. Der Lohn stieg langsam und erst nach mehreren Jahren hatte ich es auf 8 Mark gebracht. In Deutschland besteht der obligatorische Fortbildungsunterricht, den jeder Lehrling und junge Arbeiter bis zum 18. Lebensjahr be-suchen muss. Es wird etwas Rechnen, Schreiben, Buchhaltung und Vaterlandskunde gelehrt. Der Unterricht wir zwei Mal in der Woche nach der Arbeitszeit erteilt. Ich habe dabei wie wohl alle anderen Schüler auch, herzlich wenig gelernt. Wir waren zum lernen zu müde und bemühten uns, den Lehrer zu verulken. Die Abende brachte ich mit meinen Arbeitskollegen zu. Wenn wir nicht Räuberhefte lasen, trieben wir uns in den Strassen herum und trieben lauter Dummheiten. Eine Zeit lang standen wir im Banne ein Schundromanes über die Freimauerer. Wir trafen Vorbereitungen, eine ähnliche geheimnisvolle Gesellschaft zu gründen, hockten in der finstersten Nacht in dunkeln Ecken und Abflusskanälen, zeichneten Totköpfe auf Arm und Brust, beschlos-sen Blutbrüderschaft zu trinken. Der Plan scheiterte, da wir kein passendes Getränk fanden, mit dem wir unser Blut trinken konnten. Bier und Limonade war uns doch zu prosaisch und für Wein hatten wir kein Geld. Auch trieben wir uns oft und gern in den Anlagen herum und erschreckten die Leute und belauschten und störten die Liebespäärchen. Ein nicht geringer Schreck fuhr mir anlässlich einer solchen Razzia durch die Glieder als ich im dichtesten Gebüsch auf eine Dirne stiess, die dort ihr horizontales Gewerbe betrieb und ihr Liebhaber, erbost über die Störung, mir drohte “das Messer in den Bauch zu stecken“. Einen Heidenspass machte es uns stets, Streichhölzer zu spitzen, diese zwischen den Druckknopf des elektrischen Läute-werkes in den Bordells zu stecken. Das Hölzchen wurde abgebrochen und dann läutete die Glocke zum Aerger der Einwohner und der Nachbarschaft stundenlang. Mehrmals besuchten wir auch die Versammlungen des christlichen Vereines junger Männer und die Veranstaltung eines vaterländischen Knabenhortes. Wir waren aber für diese frömmelde Unterhaltung zu gereift oder zu verdorben, wenn man will. Wir ärgerten den Lehrer und den Pfarrer und brachten Unruhe und stellten das ganze Programm in Frage. Teils blieben wir dann freiwillig weg, teils warf man uns hinaus. Da versuchten wir es mit der Heilsarmee, die in jenen Tagen ihr erstes Lokal eröffnet hatte. Dort sein ein Gaudium, versicherten mir meine Freunde und ich ging mit. Ich gestehe, dass mich die Gesänge und Gebete anfangs andächtig stimmten und mir recht beklommen zu Mute war. Das dauerte aber nicht lange. Als ich sah, wie die Betenden die schnödesten Witze unter den Bänken rissen und dort den Mädchen in die Beine kniffen, war es mit meiner Andacht vorüber. Es dauerte nicht lange, bis man uns auch da hinauswarf. Wir beschlossen jetzt, selbst einen Verein zu gründen. Ich wurde Präsident. Was wir eigentlich wollten, wusste keiner. Fidel und lustig sollte es zugehen. Wir spielten Karten, der Gewinn kam in die gemeinsame Kasse und wurde alle vier Wochen in Leberwurst und Bier angelegt. Daraus entwickelte sich dann ein Fußballklub. Eine Zeit lang hatten wir für nichts mehr Sinn als für das Fussballspielen. Dann wollte einer noch etwas lustigeres wie die Heilsarmee entdeckt haben, einen Verein, der sich “Propaganda“ nannte. Ein Name, den ich nie gehört hatte und den auszusprechen mir im An-fang viel Mühe machte. Dabei muss ich bemerken, das ich sehr schwer sprechen gelernt hab und bis zum zwölften Jahre stotterte. Ich vermutete hinter dem Namen etwas fremdes, geheimnisvolles und wir beschlossen, zu gehen, um Spass zu haben. Ich ahnte nicht, welche entscheidende Rolle der Verein in meinem Leben spielen sollte. Heute weiss ich, dass ich damals in der kritischen Phase meines Lebens stand, und das sich damals, unbewusst wie fast immer, sich mein Lebensschicksal entschied. So wechselreich auch später mein Leben wurde und so wechselreich es gerade heute zu werden droht, und so grosse und mein Wesen mitbestimmende Einflüsse auch in späteren Jahren auf mich einstürmten, im Verhältnis zu der damaligen Entscheidung sind sie unbedeutend und untergeordneter Natur. Unbewusst und ahnungslos kam ich durch das Aufsuchen des Vereins “Propaganda“mit jenem Sturm in Berührung, der stark genug war auf dem vollständig unvorbereiteten Boden später doch geistiges und seelisches Leben zu erwecken. Je älter wir wurden, umso weniger wollten wir uns damit begnügen, die Frauen zu ärgern und andere zu ihnen gehen zu sehen. Immer stärker wurde in uns der Drang, den geheimnisvollen Schleier zu lüften und jene Herrlichkeiten zu kosten, von den die ältern Arbeiter schwärmten und erzählten. Dazu kam das Leben in der Fabrik. Der Betrieb der Schuhfabrik bringt es mit sich, dass Frauen & Mädchen mit Männern und Burschen in einem Saal arbeiten. Die unzüchtigsten Reden wurden dann tagsüber gewechselt und die Witze waren schon nicht mehr derb, sondern zynisch, frech und gemein. Und die Frauen zahlten mit gleicher Münze und im gleichen Jargon heim, wie sie von den Männern behandelt wurden. Die Keuschen galten als Dummköpfe & Schwächlinge. Für uns Jugendlich war die Situation noch dadurch gefahrvoller, dass wir nach dem Gesetz das Frühstück und Vesperbrot ausserhalb es Arbeitsraumes einnehmen mussten. Bei schönem Wetter sassen wir im Strassengraben, bei schlechtem Wetter mussten wir uns in den Keller flüchten, wo stets ein gefährliches Halbdunkel herrschte. Mädchen und Burschen waren zusammen. Das musste natürlich die reine Treibhaustemperatur für geschlechtliche Reize geben und das Herumzerren und Pressen nahm dann auch kein Ende. Mit 17 Jahren, die meisten schon früher, hatte jeder seinen “Schatz“. Das heisst ein Mädchen, mit dem er von der Fabrik heimging, der er Samstags ein Stück Chocolade kaufte und am Sonntag in den Kino zu führen, um dann am Abend recht lange bei ihr in der Haustüre zu stehen und als Entgelt für das Gebotene sie zu küssen, zu pressen und wenn möglich, zu gebrauchen. Dieses Leben und Treiben ist so stark eingewurzelt, dass Jeder, der daran nicht teilnehmen will oder kann, als ein armer, bedauernswerter Kranker betrachtet und behandelt wird. Und die so leben, sind nicht einmal die niedrig stehensten. An eine Szene erinnere ich mich dabei jetzt, die ich bald nach meinem Eintritt in die Fabrik erlebte und über die dabei sich äussernde weibliche Roheit ich heute noch staune. Es war an einem Herbstag Abend, obschon nicht allzu spät, doch schon dunkel, als ich für den Meister einen Weg in einen anderen Saal besorgen sollte, dabei musste ich an dem Raum vorüber, wo die Leder- und Lumpenabfälle lagerten. Daraus hört ich ein ängstliches Wimmern, ich trat näher und sah, wie vier oder fünf ältere Mädchen einem 14 jährigen Burschen unter gellendem Lachen an dem Geschlechtsteil zerrten und rissen. – Natürlich stand nicht alle auf dieser Stufe, es gab wohl auch Ausnahmen, doch waren diese selten, sehr selten. Bis dahin, bis zu meiner Bekanntschaft mit dem Verein “Propagangda“ hatte mich ein gütiges Geschick vor dem Aeussersten bewahrt. Natürlich keine moralischen oder sittlichen Ewägungen, die waren mir so fremd wie böhmische Dörfer. Viel-leicht das Fehlen der Gelegenheit und die Erschwerung durch meine geringen Mittel, die mir nur kostenlose Vergnügen erlaubten. Dazu (auch) hat sich auch meine kleine, verhungerte Gestalt keine besonders grosse Anziehungskraft auf die Mädchen ausge-übt. Aber darüber bin ich mir heute klar, dass es so lange nicht mehr gegangen wäre. Ein Glück, hätte ich als satter Arbeiterspiesser geendet, aber bei meinem Temperament und meiner Leidenschaft dürfte es kaum glimpflich abgegangen sein.In diese kritischen Tage fällt meine erste Bekanntschaft mit dem Arbeiterbildungsverein “Propaganda“ und dadurch mit der sozialistischen Arbeiterbewegung.
Die
erste Zeit in der Bewegung
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Nach langerm Zögern und Zauderbn fassten wir, unserer vier oder fünf, endlich Mut und machten uns auf, den geheimnisvollen Verein “Propaganda“ zu besuchen. Aber am ersten Abend gelangten wir nur bis in die Wirtschaft, in deren oberen Räumen der Verein seine Versammlungen abhielt, dort sassen wir, klopften Karten und musterten scheu die Besucher, die nach dem oberen Saal stiegen. Nachzufolgen fehlte uns der Mut und wir kehrten unverrichteter Sache nach Hause zurück. Zum zweiten-mal, einige Wochen später, begleitete mich nur ein Kollege, den andern war die Lust vergangen. Diesmal nahm sich ein älterer Genosse, jedenfalls durch den Wirt aufmerksam gemacht, unserer an und wir folgten ihm nach oben. Dort waren zirka 15 bis 20 junge Männer im Alter von 23 – 35 Jahren versammelt, wir waren also bei weitem die Jüngsten. Die meisten waren Metall- und Schuhfabrikarbeiter. Was an jenem Abend ging und besprochen wurde, ist mir vollständig unklar geblieben. Als in heimging wusste ich vom Wesen und den Aufgaben des Vereins genau so viel, als vorher. Zwei oder drei weitere Besuche brachten mich ebenfalls nicht weiter, da verleidete auch mir die Sache und ich beschloss, wie der zu meinen alten Kameraden zurückzukehren. Da wurde ich krank und musste vier Wochen von der Arbeit fernbleiben. Während dieser Zeit besuchte mich mehrmals ein Mitglied des Vereins, brachte mir Bücher und Broschüren und wir plauderten. Jetzt war mein Interesse geweckt und sobald ich das Zimmer verlassen durfte, suchte ich die Genossen wieder auf und versäumte fernerhin keine Versammlung. Bald war mir nun auch der Zweck des Vereins klar. Der ungeheure wirtschaftliche Auf-stieg Deutschlands in den neunziger Jahren, der in überraschend kurzer Zeit Deutschland zu einem der ersten Industriestaaten und der Weltmächte der Erde machte, hatte eine nach Millionen zähl-ende Arbeiterschaft geschaffen. Die Fesseln des Sozialistengesetzes waren gefallen und die sozialdemokratischen Organisationen schossen wie Pilze nach einem warmen Regen aus der Er-de. Die Partei eilte von Erfolg zu Erfolg und errang in den Städten, an den Landtagen und im Reichstag Mandat um Mandat, die Stimmen ihrer Wähler zählte schon bei der Wahl 1903 nach Millionen. Diese Riesenerfolge verblüfften und die Sozialdemokratie, bis jetzt nur eine Partei der Kritik und der Negation, sah sich plötzlich vor die Aufgabe praktischer Mitarbeit gestellt. Bald wurde in der politischen Tagesarbeit und durch die Gegenwartsforderungen das grosse Endziel, die Vergesellschaftung der Produktionsmittel vergessen. Der Partei strömten eine Masse bürger-licher Elemente zu, hoffend, durch die schnell erstarkende Macht der Partei Amt und Einfluss zu gewinnen. Der Boden für den Revisionismus war vorbereitet und um die Wende des Jahrhunderts setzte dessen Propaganda kräftig ein. Der Gegenwartser-folg ist alles, der Glauben an eine proletarische Revolution roman-tische Hirngespinnste, das war die Losung. Da kam die russische Revolution und krachte wie ein Schlag ins [Auslassung in der Abschrift ](ins Kontor? ins Gesicht? ). Der Riesenstreik Millionen unorganisierter, die Eroberung Moskaus, die Meutereien der Schwarzseeflotte u. s. w. Die revisionistischen Ideen des westeuropäischen Proletariats verhinderten, dass dieses sich zu einer Solidaritätsaktion erhob und so der volle Sieg der russischen Arbeiter möglich machte. Dank der Ruhe der westeuropäischen Arbeiter eilte das französische Kapital dem bedrängten Zarismus zu Hilfe und Wilhelm II. stellte an der russischen Grenze Soldaten bereit, um, wenn nötig, mit Kriegsmacht dem bedrängtem Vetter auf dem Zarentron zur Hilfe zu eilen. So wurde die russische Revolution geschlagen. Aber ganz ohne Wirkung auf die Arbeiterbewegung Westeu-ropas sollte die russische Revolution doch nicht bleiben. Die radikalen und revolutionären Elemente wurden kräftig gestärkt und die Jüngsten unter ihnen in einen Taumel revolutionärer Begeisterung versetzt. Die Rosa Luxenburg, Karl Liebnecht, Mehring und andere machten Vorstoss um Vorstoss. forderten die Erziehung der Massen zu Massenstreiks und Massenkämpfen, die antimilitaristische Propaganda, Steigerung der sozialistische Bildungsarbeit u.s.w. in zahlreichen Städten gründeten sich Bildungsvereine, sowie Diskussionsklubs, wo sich die jüngste, lebendigsten und tatenlustigsten Arbeiter versammelten, um die Waffen zu schmieden, die sie im Kampfe gegen den bürgerlichen Gegner und gegen Revisionisten in der eigenen Partei benötigten. Eine solche Vereinigung war nun auch der Bildungsverein “Propaganda“ dessen jüngstes Mitglied. Die unverfänglichen Namen Bildungsvereine wurden gewählt, um der polizeilichen Anmeldung und Aufsicht zu entgehen. Nach dem alten preussischen Vereinsgesetz (aufgehoben 1907 durch das Reichsvereinsgesetz) musste jeder politische und gewerkschaftliche Verein seine Mitgliederliste und seine Statuten einreichen und alle Versammlungen waren polizeilich überwacht. Personen unter 18 Jahren durften keinem politischen Verein angehören. Natürlich wurde in unserem Verein, wie in allen ähnlichen, fast nur über politische und sozialistische Probleme gesprochen. Jedes Mitglied musste einmal einen Vortrag halten und darüber wurde dann diskutiert. War einmal ein Referent verhindert zu kommen oder zu sprechen, so wurde über irgend eine Frage diskutiert oder aus einem Buch vorgelesen. Das zwang zum Nachdenken und nahm gleichzeitig die Scheu vor einem grösseren Kreis Menschen seine Gedanken zu entwickeln. So war das Leben im Verein, als ich Mitglied wurde. Eine neue Erscheinung der Arbeiterbewegung um die Wende des Jahrhunderts war auch das Aufkommen von Jugendorganisationen. Vereine, die jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen im Alter von 14-20 Jahren zusammen fassten, um sie gegen die wirtschaftliche Ausbeutung zu schützen, sie auf Wanderungen zu führen, sie allgemein im speziellen sozialistisch zu bilden. Belgien und Holland besassen die ersten derartigen Organisationen. 1904 wurde der erste “Lehrlingsverein“ Deutschlands in Berlin und fast zu gleicher Zeit ein ähnlicher Verein in Mannheim gegründet. In unglaublich kurzer Zeit folgte die Gründung einer Menge Zweigvereine in vielen Städten Deutschlands. Auch auf diese junge Bewegung waren die heldenmütigen Kämpfe der sozialistischen Revolutionäre von förderlichstem Einfluss. 1906 fand in Stuttgart der erste internationale Kongress der sozialistischen Jugendorganisationen statt, der der ganzen Bewegung das Programm geben sollte. Die holländische Genossin Roland-Host sprach über die Bildungsaufgaben der sozialistischen Jugend und legte ihr Referat in Thesen nieder, die heute noch im Wesentlichsten als Richtschnur der Bildungsarbeit in den Jugendorganisationen dienen. Nach einem Referat des Gen. Müller, Wien, wurden internationale Forderungen für den wirtschaftlichen Schutz der Lehrlinge und jugendlichen Arbeiter aufgestellt. Liebknecht, der den Kongress als Präsident leitete, sprach über “Militarismus und Antimilitarismus“. Das Referat trug ihm später 1½ Jahr Zuchthaus ein. Es wurde beschlossen, eine feste internationale Organisation unter dem Namen “internationale Verbindung sozialistischer Jugendorganisationen“ zu gründen. Die deutschen Vereine traten wegen dem vorsintflutigen Vereinsgesetz nicht bei. Da die süddeutschen Staaten bis 1907 kein Vereinsgesetz kannten, schlossen sich die in Deutschland existierenden Vereine jugendlicher Arbeiter zu zwei grösseren Verbänden zusammen, “den Verband jugendlicher Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands“ mit Sitz in Berlin. Dieser Verband zählt 1907 bereits 6000 Mitglieder und gab eine monatlich er-scheinende Zeitung “Die arbeitende Jugend“ aus. Die Vereine be-zeichneten sich als ausdrücklich politisch neutral, sonst hätten sie natürlich überhaupt nicht existieren können. Ebenfalls schlossen sich die süddeutschen Vereine zu einem Verband mit Sitz in Mannheim zusammen. Diese Vereine aber, nicht gehindert durch ein Vereinsgesetz, bezeichneten sich als so-zialistische Jugendvereine und in diesem Sinne war auch ihr Organ “Die junge Garde“ gehalten, deren Redakteur der damals noch jugendliche und stark revolutionäre Dr. Ludwig Frank war. Unser Bildungsverein “Propaganda“ stand nur mit Mannheim, natürlich in geheimen, in Verbindung. Wir bezogen regelmässig eine bestimmte Anzahl “Junge Garde“ und es macht mir die grösste Freude, diese unter der Hand weiter zu verkaufen. Ueberhaupt war ich wie von einem Propagandafieber überfallen und liess nicht nach, bis fast der letzte jugendliche Arbeiter meines Arbeitssaales sich als Mitglied unseres Vereins meldete und an unseren Versammlungen teilnahm. Einige Monate nach meinem Eintritt dominierte das jüngere Element und die über 20 jährigen waren in den Hintergrund gedrängt.
(Text:
Vermutlich Willi (Wilhelm) Münzenberg März 1918? November 1918-
Münzenberg im Schweizer Zuchthaus ist 29 Jahre alt) Das Dokument hat
9.742 Zeichen
Das
ganze Dokument (mit Umschlagtexten) hat 10.013 Zeichen
Der Text
muss mit einer Maschine geschrieben worden sein, die über keine
Grossbuchstaben der Umlaute verfügte. Das habe ich so gelassen.
Fehler habe ich nicht korrigiert, vielleicht ist es mir stattdessen
gelungen, einige Fehler neu in dem Text unterzubringen.
(Der
namentlich nicht genannte Abschreiber 2019)
Der
Text ist eine Abschrift einer Veröffentlichung des Verlag Detlev
Auvermann KG, Glashütten im Taunus 1972. Es handelt sich um eine
Schreibmaschinenabschrift, die in einem Überformat (Nicht DIN A 4-
210 mm x 297 mm, sondern 339 mm x 206 mm) gedruckt wurde. Der
Umschlag wurde ebenfalls auf Karton bedruckt.
U1:
mit folgendem Text:
Dieses aus den Akten der schweizerischen Untersuchungsbehörden stammende Schriftstück befindet sich unter der Signatur P 23914 Nr. 524.24 im Staatsarchiv des kantons Zürich. Der junge Willi Münzenberg verfaßte diese biographische Skizze, die seinen Weg zum Kommunismus bis zum Eintritt in den Erfurter sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein (1906) nachzeichnet, entweder während seiner ersten Inhaftierung in der Polizeikaserne Zürich, Ende November 1917 bis März 1918, oder während seiner zweiten Zuchthaushaft, die vom Mai 1918 bis zu seiner Ausweisung aus der Schweiz am 10. November 1918 dauerte.
Willi
Münzenberg Lebenslauf
Wir
danken dem Staatsarchiv des Kantons Zürich für die Erlaubnis zu
Veröffentlichung und dem Schweizerischen Sozialarchiv für die
Vermittlung des Textes, den wir in er erhaltenen Form reproduzieren.
Der
Text ist paginiert und hat im Original 29
Seiten (einseitig bedruckt)
Der
Umschlag U
2
ist mit folgendem Text bedruckt:
1889 14.
August, wird M. in Erfurt als Sohn eines Dorfgastwirtes geboren.
Er besucht unregelmäßig die Dorfschulen in Frimar, Eberstädt
und Gotha.
1904-
1910 ist
M. Arbeiter in einer Erfurter Schuhfabrik
1906 tritt
M. in den sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein “Propaganda“
ein und übernimmt eine Jahr später dessen Vorsitz.
1910-1913 ist
M. Hausbursche in einer Zürcher Apotheke. Er wird Mitglied in dem
von Fritz Brupbacher geleiteten Jungburschenverein.
1912 Ende
Juli wird M. Mitglied des Zentralvorstandes der sozialistischen
Jugendorganisation der Schweiz und übernimmt die Redaktionder
antirevisionistischen Monatsschrift “Die freie Jugend“.
1914 während
des Krieges konsequenter Internationalist, gerät M. bald unter den
Einfluß Lenins.
1916 nimmt
M. an der Internationalen Sozialistischen Konferenz in Kienthal
(24. – 30 . April) teil.
1917 am
19. November, wird M. in Zürich verhaftet und
1918 im März, gegen Kaution freigelassen, jedoch im Mai als Mitorganisator eines Generalstreiks in Zürich ins Zuchthaus geworfen. In seiner im Mai 1918 ausgelieferten Broschüre “Kampf und Sieg der Bolschewiki“ bekennt M. sich zur Oktoberrevolution. Er wird am 10. November aus der Schweiz ausgewiesen und übersiedelt nach Stuttgart, wo er sich der Spartakusgruppe anschließt.
1904-
1910 ist
M. Arbeiter in einer Erfurter Schuhfabrik
1906 tritt
M. in den sozialdemokratischen Arbeiterbildungsverein “Propaganda“
ein und übernimmt eine Jahr später dessen Vorsitz.
1910-1913 ist
M. Hausbursche in einer Zürcher Apotheke. Er wird Mitglied in dem
von Fritz Brupbacher geleiteten Jungburschenverein.
1912 Ende
Juli wird M. Mitglied des Zentralvorstandes der sozialistischen
Jugendorganisation der Schweiz und übernimmt die Redaktionder
antirevisionistischen Monatsschrift “Die freie Jugend“.
1914 während
des Krieges konsequenter Internationalist, gerät M. bald unter den
Einfluß Lenins.
1916 nimmt
M. an der Internationalen Sozialistischen Konferenz in Kienthal
(24. – 30 . April) teil.
1917 am
19. November, wird M. in Zürich verhaftet und
1918 im
März, gegen Kaution freigelassen, jedoch im Mai als
Mitorganisator eines Generalstreiks in Zürich ins Zuchthaus
geworfen. In seiner im Mai 1918 ausgelieferten Broschüre “Kampf
und Sieg der Bolschewiki“ bekennt M. sich zur Oktoberrevolution.
Er wird am 10. November aus der Schweiz ausgewiesen und übersiedelt
nach Stuttgart, wo er sich der Spartakusgruppe anschließt.
1919 von
Januar bis Juni, wird M in der Festung Ulm, sodann im Gefängnis
Rothenburg (Neckar) eingekerkert. In der Novemberrevolution
versucht M. die Arbeit des Internationalen Jugendsekretariats
weiterzuführen. Er referiert auf dem Gründungskongreß der
Kommunistische Jugendinternationale in Berlin (20.- 26. November
1919) und wird in deren Exekutivkomitee gewählt.
1920 nimmt
M. als Vorsitzender der Jugendinternationale in Moskau am II.
Weltkongress der Komintern teil. Ein Jahr später, auf dem II.
Kongreß der Jugendinternationale wird er von Sinowjew abgesetzt.
1921 am
12. August, gründet M. im Auftrage Lenins die Internationale
Arbeiterhilfe für die Hungernden in Rußland, die sich in den
kommenden Jahren unter M. als Generalsekretär ihrer
Auslandskomitees zur größten proletarischen Hilfsorganisation
entwickelt.
1924
– 1933 ist
M. ununterbrochen Reichstagsabgeordneter der KPD; auf dem XI.
Parteitag 1927 wird er ins ZK berufen; 1931/32 gehört er der
“ultralinken“ Remmle-Neumann Gruppe an. In diesem Jahren baut
M. den berühmten “Münzenberg Konzern“ auf. 1924 wird er
Inhaber desNeuen deutschen Verlages, welcher die Zeitungen “Welt
am Abend“, “Berlin am Morgen“, “Arbeiter- Illustrierte
Zeitung“, die Zeitschrift “Roter Aufbau“ und die “Universum
Bibliothek“ herausgibt, sowie das Filmunternehmen “Meshrabpom“
gründet.
1933 emigriert
M. nach Paris, wo er die Arbeit der Internationalen Arbeiterhilfe
fortführt. Er wird einer der Leiter des neugegründeten
Welthilfskomitees für die Opfer des deutschen Faschismus
und Mitbegründer der “Deutschen Freiheitsbibliothek“. Zum
progandandistischen Kampf gegen Hitler gründet er wieder Verlage
und Zeitungen und gibt u.a. das“Braunbuch über den
Reichstagsbrand“ heraus.
Umschlag
Seite 3 (U 3)
1936 wird
M. nach Moskau vor die Internationale Kontrollkommission
geladen; er wird“wegen Verbreitung parteiinter Information auf
Beschluß des Politbüros und der Leitung (Walter) Ulbrichts
gerügt, erreicht aber, das er wieder nach Paris zurückkehren
kann.
1937 gerät
M. als einer der Initiatoren der Volksfront in verschärften
Widerspruch zur Komintern und KPD-Führung; die mehrfache
Aufforderung, nach Moskau zu kommen, ignoriert er.
1938 am
22. März, wird er (M.) aus dem ZK, am 6. März 1939 aus der KPD
ausgeschlossen. M. wendet sich in der
1939/40
von ihm herausgegebenen Zeitung “Die Zukunft“ gegen
den Stalin-Hitler Pakt und gründet 1939 in Paris die Organisation
“Freunde der Sozialistischen Einheit Deutschlands“.
1940 im
Mai, wird M. im Lager Chambaran bei Lyon interniert. Während die
Armee im Juni 1940 auf Lyon vorrückt, flieht M. zusammen mit drei
Deutschen. Ende Oktober wird seine stark verweste Leiche im Wald
von Caugnet aufgefunden. Münzenbergs Lebengefährtin Babette
Gross schreibt in ihrem Buch: Willi Münzenberg. Eine politische
Biographie (Stuttgart 1967), ein Selbstmord scheint
ausgeschlossen,“der Verdacht, daß Münzenberg Opfer eines
politischen Anschlages geworden ist, scheint mit nahezuliegen. Wer
die Mörder gewesen sein könnten, ist nur zu vermuten.“
(Babette Gross)
Natürlich hatte ich sie auch noch in meinem Schrank. Zwei Bücher, die mir damals sehr geholfen haben. Entdeckt im Antiquariat. Damals 3,50 DM/4,50 DM. Heute 4,00 Euro. Und ich habe sie beide noch mal gelesen. Wieder mal festgestellt. Sie sind immer noch aktuell. Hilfreich. Im Internet habe ich einen Nachruf von Klaus Wolschner (taz Bremen) aufgespürt. Hier die beiden Bücher: Sie sind beide dünn. Erfreulich dünn. Die >Betriebsfibel< hat 70 Seiten. < >Organisieren oder organisiert werden< hat 95 Seiten. In der Einleitung heißt es: „Es geschieht immer wieder, daß Genossen wie du versuchen, in ihrem Betrieb die Belegschaft zu agitieren. Und von diesen kriegen sie dann gesagt: >Das ist ja alles ganz schön, was du uns da erzählst. Aber mach man so weiter. Dann fliegst du bald raus! Auf deine – einer etwas kurzsichtigen Opferbereitschaft entspringenden – Erklärung: >Das macht mir gar nichts aus!< kommt dann die Antwort:>Uns aber.< Damit ist die Sache eigentlich erledigt. Du konntest dein Anliegen nicht vermitteln. Jetzt bist als Revolutionär isoliert.“
der Arbeitgeber 5 Köln 51. Oberländer Ufer 72
Klaus
Wagenbach Verlag
1
Berlin 31
Jenaer
Str.6
Sehr
geehrte Herren,
in
Ihrem Verlag ist die „Betriebsfibel“ von Herrn Berni Kelb
erschienen, die jetzt auf den verschiedensten
Lehrlingsveranstaltungen kursiert. Mehrere Leser erbitten in diesem
Zusammenhang nähere Einzelheiten über die Person von Herrn Kelb.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir ggfs. einen Lebenslauf oder
sonstige Unterlagen hierzu übersenden würden. Mit freundlichen
Grüßen
(Dr.
Heinrichsbauer)
– – –
1
Berlin 31, den 10.1.73
Jenaer
Straße 9
Berni
Kelb
c/o
Verlag Klaus Wagenbach
An den arbeitgeber – Der Chefredakteur –
Sehr
geehrter Herr Dr. Heinrichsbauer,
ich
beziehe mich auf Ihr Schreiben vom 8.1.73. Der Verlag Klaus Wagenbach
hat – feige, wie es von einem linken Verlag nicht anders zu
erwarten ist – sich vor der Beantwortung Ihrer berechtigten Fragen
zu drücken versucht, indem er Ihren Brief an mich weiterleitete. Ich
werde mich bemühen, Ihnen angemessene Auskunft zu geben.
Ich
stamme also aus einer Familie, die seit vielen Generationen damit
beschäftigt war, Arbeit zu nehmen, obwohl geben nach einem bekannten
Zitat eigentlich viel seliger ist, denn nehmen. Wir lebten davon, daß
wir für die genommene Arbeit auch noch Geld forderten: die ständig
steigenden Löhne. Den Verlockungen eines so bequemen Lebenswandels
konnte auch ich mich nicht entziehen: durch die Erlernung eines
Metallberufes setzte ich die Familientradition fort.
Verschlagen,
wie unsereins ist, merkte ich bald, daß bei den Unternehmern außer
Arbeit und Lohn noch mehr zu holen sein muß. Von da an war ich nur
noch von der Gier getrieben, ihnen alles zu nehmen. Als geeignetes
Mittel dazu erschien mir eine planmäßig ausgeweitete Kumpanei mit
dem Ziel, auf Insubordination gerichtete Zusammenrottungen
hervorzurufen. Das verdichtete sich bei mir zu der ‚Primitivformel
:“Der Feind steht immer oben!“‚, wie Clemens Steindl es auf
Seite 978 der Nummer 23/24-1972 Ihres Organs so treffend
charakterisiert. Das Unbehagen gegenüber dieser Losung und ihre
Ablehnung als Vereinfachung teilen Sie übrigens mit Nikolaus
Neumann, der in der bekanntlich DKP-nahen ‚Deutschen Volkszeitung‘
meint, mein ‚eigentlicher Feind‘ seien die ‚organisierte
Arbeiterschaft, die kommunistischen Parteien und die Gewerkschaften‘.
Ich verstehe die Welt nicht mehr! Sie werfen mich mit den Leuten in
einen Topf, die mich mit Ihnen in einen Topf werfen.
Doch weiter im Lebenslauf. Das schreckliche Ende des letzten Krieges brachte es ja mit sich, daß unsere Gesellschaft von Aufweichungstendenzen demokratischer, liberaler und selbst sozialistischer Art durchdrungen wurde. Auch ich kam mit solchen Liberalen, Intellektuellen und ähnlichen zwielichtigen Gestalten in Berührung (im Vertrauen: manche waren gar Juden!) Sie stifteten mich an, meine bösen Gedanken zum Zwecke der Verbreitung aufzuschreiben.
Das
Ergebnis liegt Ihnen ja vor.
Im
Ernst: Wir haben mit Fleiß darauf verzichtet, Daten zur Person des
Verfassers zu veröffentlichen, wie es sonst bei Büchern üblich
ist. Ich betrachte mich nicht als Schriftsteller. Andererseits habe
ich es abgelehnt, ein Pseudonym zu wählen; denn ich kann zu dem, was
ich geschrieben habe, stehen.
Wenn
Ihnen mein bloßer Name nicht gefällt, hier ein kleiner Tip. Einer
meiner früheren ‚Arbeitgeber‘ wüßte plötzlich über meinen
Lebenslauf sehr detailliert Bescheid. Er ließ auch durchblicken, dan
(s) meine Vermutung, woher er seine Informationen wohl habe, richtig
sei. Was einem einzelnen ‚Arbeitgeber‘ möglich ist, dürfte für
Sie als Verallgemeinerung des ‚arbeitgeber‘ doch sicher keine
nennenswerte Schwierigkeit bereiten.
In
der Hoffnung, Ihnen hiermit gedient zu haben, verbleibe ich
(Ein Nachruf auf Berni Kelb von Klaus Wolschner (Taz Bremen)
1971
veröffentlichte eine „Betriebsfibel“ – das war der
gesammelte Erfahrungsschatz seiner linksradikalen Betriebsarbeit –
zuletzt bei der Maschinenfabrik Kampnagel. „Es geschieht immer
wieder, daß Genossen wie du versuchen, in ihrem Betrieb die
Belegschaft zu agitieren“, fängt das Buch an. Genau darum geht
es: Wie kann man im Betrieb arbeiten, was sollte man lieber nicht
machen? Ganz praktisch – und mit hohem Anspruch: „Unsere Arbeit
gilt der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Sie hat das
Ziel, jede Form der Herrschaft von Menschen über Menschen und die
darauf beruhende Ausbeutung zu brechen.“ Kelb kannte auch den
„inneren Feind“, die linken Funktionäre. Sein Rat: „Trau
keinem, der dafür bezahlt wird!“
Dabei
war Berni Kelb einmal Bestseller-Autor, jedenfalls in linken Kreisen,
und seine Biografie ist ein Stück Zeitgeschichte des 20.
Jahrhunderts: Er stammt aus einer streng kommunistischen Hamburger
Arbeiterfamilie. Sein Name wurde Anfang der 70er-Jahre öffentlich
bekannt über Bücher, in denen er seine eigene kommunistische
Vergangenheit verarbeitete. Schonungslos rechnete er mit dem Pathos
der illegalen KPD der Stalin-Ära ab: „Die Mitglieder hatten
zwar noch ihren blinden Glauben und guten Willen, aber die bezahlten,
illegalen Funktionäre konnten ihnen keine Perspektive aufzeigen. Sie
waren in der Situation einer Drückerkolonne, die Ladenhüter
verkaufen soll.“
Ein
Dokument der Zeitgeschichte aus heutiger Sicht, das damals 4 Mark 50
kostete, heute bei Amazon 39 Cent plus Porto. Irgendwann in den
90er-Jahren stand Berni Kelb dann bei der taz in Bremen auf der
Matte. Ein kleines, schrulliges Männchen, das für die, denen der
Name nichts sagte, aufgrund seiner nackten Füße auffiel. Auch im
Winter.
Natürlich
war er nirgends organisiert, wo auch, war ein Einzelgänger. Und
wollte dennoch etwas sagen. Hin und wieder haben wir einen Text von
ihm gedruckt – zum Beispiel einen Kommentar über das auch damals
diskutierte NPD-Verbot.
Ich
habe den Namen Kelb über sein anderes Buch kennengelernt:
„Organisieren oder organisiert werden. Vorschläge für Genossen
links unten“ der Titel. Als die Reste der 68er-Bewegung
autoritäre Organisationen gründeten, packte Kelb aus – zur Freude
aller antiautoritär gesinnten, undogmatischen Spontis.
Berni Kelb, in den 50er-Jahren strammer Kommunist und bei der illegalen KPD, in den 70ern ein Einzelgänger und Theoretiker der Spontis, ist gestorben. Ein „barfüßiger Prophet und gefallener kommunistischer Erzengel“ war Berni Kelb, ein „Anarcho-Kommunist und Querulant“, das hat der frühere taz-Kolumnist „Urdrue“ einmal geschrieben. Am 5. 12. 2011 ist Berni Kelb gestorben, bitterarm, auch in Walle unbekannt. Bescheiden wie er war, hat er sich auch in seine Einsamkeit gefügt.
„Hitler
kam an die Macht, weil die Industrie ihn finanziert hat“, war
vor elf Jahren sein Argument. In der NPD sammeln sich dagegen „nur
ein paar Psychopathen, wie es sie in jeder Gesellschaft gibt.“
Und dann sein Gedanke: „Antidemokratischen Parteien und
Organisationen kommt man mit innerorganisatorischer Demokratie bei.“
Es müsste ein Parteiengesetz geben, das Maßstäbe für Transparenz
und innerorganisatorische Demokratie setzt – die dann auch für eine
NPD gelten würden.
Klaus
Wolschner 9.12. 2011 Taz Bremen
Eine
neue Heimat hat Berni Kelb seit den 90er-Jahren in einer Kultur
gefunden, in der er aufgewachsen ist: bei den „Plattdeutschen“
und ihren Alltagsproblemen. Wie mit seiner Mutter in der Küche sang
er im hohen Alter gern die plattdeutschen Lieder. Rund 50
Theaterkritiken über Aufführungen der niederdeutschen Bühne im
Waldau-Theater finden sich im taz-Archiv unter seinem Künstlernamen
Bani Barfoot. Und er hat das Schauspiel Rose Bernd von Gerhart
Hauptmann ins Niederdeutsche gebracht, eine Tragödie voller
Sozialkritik, menschlicher Einsamkeit und erotischer Verstrickung.
Foto: G. Klaut
von Barni Barfoot, erschienen in der Taz Bremen Drama un Komedie
„De Witwenclub“ vun Ivan Menchell: Premiere in de Komödie Bremen (vormals Niederdeutsches Theater)
Aff
un an geevt se dor in Walle doch noch wat op Platt. Nu: „De
Witwenclub“ vun den Amerikoner Ivan Menchell, na de düütsche
Fassung vun Karin Kersten op Platt vun Hans Timmermann. Nich bloots
de Autor, ok de Rejiessör (Thomas Wilberger), un de Dorsteller vun
den eenzigen Keerl in’t Speel, den verwitweten Slachter Theo (Peter
Wohlert) sünd Gäste. Kannst lang över nadenken!
Twee
Szenarien gifft dat, – vun Bojan Boev bühnenbildnerisch excelent
drapen – op de de Szenen afwesselnd speelen dot. De Komödie vun de
dree Witfroons, de dat Stück den Namen verdanken deit, speelt in de
Wahnstuuv vun Ida (Elfie Schrodt). Dat Drama – de deepere Sinn vun
dat Stück – speelt op ’n Karkhoff.
Dor
dreept se sick jümmers, de Dree. Jedeen vun jem truuert op eer eegen
Oort. De Een, Doris (Ingeborg Heydorn) föhlt sick verlaaten, de
anner, Luzie (Isolde Beilé), bedragen, un de drütte, Ida, eenfach
alleen laten.
Un
denn kummt de Witwer Theo, de bloots dat Graff vun sien Froo besöken
will, jem in de Mööt. Ida kennt em as Kundin, bloots so. Doris
kennt em ok. Se meent, dat harr mol meist ’n Afeere warden kunnt.
Is dat aver nich worden. Un Luzie, de em gor nich kennt, smitt sick
an em ran.
Doröverhen
geiht de Fründschaft vun den Witwenclub (in’t Original: Cemetery
Club) natüürlich eerst mol koppeister. Man se koomt doch jümmers
wedder tohoop. Op’t End op den Karkhoff, as Doris dootbleven is.
Fazit:
Dat Stück is ’n vigelienschen Balace-Akt twüschen Komedie un
Drama. Wat dor an seelischet Eelend sick afspeelen deit bi den
gröttsten Deel vun de Minschheit, wat in dat Öller de Witwen jo
sünd is meisterhaft mookt.
Besünners
Ingeborg Heydorn speelt eer swore Rull, de so simpel utsüüt, heel
inföhlsam. Elfie Schrodt speelt eern Deel meisterhaft, as wi dat vun
eer wennt sünd. Isolde Beilé hett eer egens dankbore Rull as Luzie,
de an’t Enn leer utgahn deit, ’n beten wat övertrocken. ’N
sporsomere Gestik harr mehr brocht.
Technisch:
’n Rejissör schull mehr Moot opbringen, in’n Vörweg ’n poor
Överlängen in de Dialogen to strieken. De Soufflöse (Ingrid
Frana-Sieweke) hett ’n scheune Stimm, de drägen deit. Un Mildred
(Sabine Junge) – dat weet wi nu (dank Lore Schnabel, Kostüme)
endlich nau – hett ’n wunnerscheun’n Rüggen.
2. Lage des Arbeiterkindes im 19. Jahrhundert 2.1. Wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland 2.1.1. Veränderung in der Sozialstruktur Deutschlands im 19. Jahrhundert
2.2. Kinderarbeit und Gesetze zum Schutz der Arbeitskraft Kind
2.3. Wohnverhältnisse der Arbeiterfamilien
2.4. Entwicklung des Bildungssystems
3. Kinderbuchproduktion im 19. Jahrhundert 3.1. Entwicklung der Drucktechnik
3.2. Entwicklung des Vertriebssystems
3.3. Inhalte der Kinderbücher und deren Veränderung durch gesellschaftliche Einflüsse
4. Beispiele zur Kinderbuchproduktion des 19. Jahrhunderts
4.1. Bilderbogen 4.2. Grimms Märchen 4.3. Der Struwwelpeter
4.4. Max und Moritz
5. Versuch einer Übersicht über Bilderbuchproduktion von 1870 1910 6. Die Arbeiterbewegung und ihre Auseinandersetzung mit der Kinder- und Jugend
Keine Art von Literatur war wohl jemals “Wert in sich selbst“; Kinder- und Jugendliteratur, wie jede literarische Erscheinung, hat zu tun mit den Produk-tionsbedingungen, mit den jeweils vorhandenen kulturellen Institutionen und den Erziehungs- und Kommunikationsverhältnissen. Bisher gibt es keine Gesamtdarstellung der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur, die die gesellschaftlichen Faktoren der behandelten Zeitepochen miteinbezieht, deshalb möchte ich in meiner Arbeit mit dem Thema: Darstellung der Realität im Kinderbuch – Leseprobleme von Arbeiterkindern im 19. Jahrhundert – versuchen, den gesellschaftlichen Kontext, in den die Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts eingebettet ist, darzustellen.
In der folgenden Arbeit möchte ich
1. einige Faktoren der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts herausarbeiten, insbesondere interessiert mich die soziale Lage des entstehenden, breiten Proletariats, und zwar vornehmlich die soziale Lage der Arbeiterkinder
2. einen Überblick über die Kinderbuchproduktion des 19. Jahrhunderts geben
3. aufzeigen, welches Realitätsbild und welche Wertvorstellungen diese Bücher enthielten, wem sie nützten, wem nicht und welche Interessen dahinter standen.
Diese Frage stellt sich besonders, wenn man bedenkt, daß die heile Kinderwelt-Ideologie, die im 19. Jahrhundert entstand, noch heute, trotz Veränderung im politisch – ökonomischen Bereich, einen wesentlichen Teil der Kinderbuchproduktion prägt. Dieter Richter sagt dazu in seinem Buch “Die heimlichen Erzieher“: “Kennt man die ökonomisch-historischen Wurzeln der Kinderwelt-Ideologie, dann versteht man auch die bedrohliche Geste, mit der sie bis heute verteidigt wird. Man versteht, welchen massiven Herrschaftsinteressen auch sie zum Schleier dient.“ Diese vom Bürgertum geprägte Ideologie der heilen Kinderwelt, die auch die Inhalte der Kinderbücher des 19. Jahrhunderts bestimmte, wirkt unwahr, wenn man sie mit den materiellen Lebensbedingungen der großen Masse der Arbeiterkinder konfrontiert. Der Rückgriff auf das 19. Jahrhundert (in dem so weit verbreitete Bücher wie Struwwelpeter und Nachkommen entstanden) hat die Funktion, den Zusammenhang zwischen Gesellschaft, Kind und Ideologieproduktion deutlicher zu machen, als er sich dem unbefangenen Betrachter heute bei der Besichtigung des Kinderbuchmarktes ergibt.
2.Lage des Arbeiterkindes im 19. Jahrhundert
2.1.Wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland
Mitte des vergangenen Jahrhunderts drängte eine neue Klasse die alte feudale Ordnung zurück – das Bürgertum war an der Macht, mit ihm kam eine wirtschaftliche Entwicklung, die es in einem solchen Tempo in Deutschland noch nicht gegeben hatte. Seit 1840 war die verfügbare Leistung der Dampfmaschinen von 40 000 Ps im Jahre 1872 auf 2 450 000 Ps gestiegen. Die Zahl der Aktiengesellschaften (vorwiegend Verkehrsaktiengesellschaften) stieg von 1849 – 7 (mit 43 Millionen Mark Kapital) auf 1870 – 259 (alle zusammen 2.400 Millionen Mark Kapital). Während 1840 die Länge der Eisenbahnstrecken noch 500 Km betrug, waren es 1870 – 19.600 km. Die Anzahl der Arbeiter in der Kruppschen Gußstahlfabrik in Essen erhöhte sich von 241 im Jahre 1850 auf 13.000 Arbeiter im Jahre 1875. Der Lohnindex stieg von 1850 bis 1870 in der Bauindustrie von 44 auf 61, in der Druckereiindustrie von 58 auf 74, im Bergbau von 54 auf 77, in der metallverarbeitenden Industrie von 43 auf 66. Die in diesem Zusammenhang steigenden Lebenshaltungskosten für Industriearbeiter stiegen ebenfalls von 1850 – 49 auf 1870 – 83 (1900 = 100%). Von 1844 bis 1847 stiegen die Lebenshaltungskosten um 50%. Während sich jedoch in der ersten Phase die Lebenshaltungskosten bei vermehrter Arbeitslosigkeit und in einer größeren wirtschaftlichen Krise erhöhten, stieg von 1850 – 1854 die Lebenshaltung um über 70%, dies ging aber in einer Phase des vorsichtigen wirtschaftlichen Aufschwungs vor sich. Da die Löhne in dieser Zeit nicht in gleicher Weise stiegen wie die Lebenshaltungskosten, sank der Bruttoreallohn von 1850 bis 1855 von Index 88 auf Index 55 ab und erreichte 1870 elf Punkte weniger als 1850.(1) Für die Arbeiter bedeutete also die vermehrte Produktion die “sog. technische Revolution“ ein gleichzeitiges Absinken ihres Lebensstandards. Woran das im einzelnen lag, ist hier nicht Gegenstand der Untersuchung. Festzuhalten bleibt lediglich, dass trotz vermehrter Warenproduktion und Intensivierung der Arbeitsprozesse, also vergrößertem Bruttosozialprodukt, der Lebensstandard der Arbeiter im Gegensatz dazu abnahm. Ein kurzes Beispiel aus dieser Zeit führe ich an: 1868 erschien in der offiziellen Zeitschrift des “Königlich Preußischen Statistischen Bureaus“ ein Artikel von L. Jacobi über die Löhne in Niederschlesien. Jürgen Kuczynski zitiert und kommentiert diese statistische Erhebung: “So stellt er zum Beispiel für den Kreis Landshut, damals wie heute ein Zentrum der Leinen Industrie, fest, daß das Existenzminimum auf dem Lande 120 und in der Stadt 150 Thaler für eine Familie war. Sodann bemerkt er, daß die Löhne unter dem Existenzminimum lagen. Wie kommt es nun, daß die Arbeiter trotzdem weiterleben? Dazu bemerkt Jacobi ganz einfach, daß sie in Wirklichkeit das Existenzminimum gar nicht brauchen, weil sie das Holz in den Wäldern sammeln können, weil sie ihre Kleidung meistens durch Betteln erhalten, und weil sie, wenn sie nicht genug zu essen haben, einfach hungern . . .“ Für den Kreis von Glogau stellt Jacobi wieder mutig fest, daß “die Löhne von Mann und Frau zusammengerechnet nur etwa zwei Drittel des Existenzminimums decken“. Und wie kann der Rest beschafft werden? Auf dreierlei Weise: “besonders intensive Stückarbeit und Kinderarbeit; Nahrungsmittelgenuß unter dem Existenzminimum auf Kosten der Gesundheit der Eltern oder der Kinder; oder schließlich irgendeine unehrliche Weise, etwas zu verdienen.“(2) Die Fabrikarbeit, die Tätigkeit in der Landwirtschaft und Heimarbeit, die ständige Unterernährung hatte u.a. auch zu Folge, daß immer mehr Jugendliche den Anforderungen des Militärdienstes nicht mehr genügten. Dieses Beispiel aus Saalfeld verdeutlicht das:
1878/79/80 Herzoglicher Landrat in Saalfeld
Musterungspflichtige 544
untauglich befunden 54
wegen zu schwachen Körperbaus zurückgestellt 282
Insgesamt wurden also 336 Jugendliche nicht zum Militärdienst genommen, das sind 62% aller Wehrdienstpflichtigen dieser Jahrgänge.(3)
In den sogenannten Gründerjahren um 1871 nach dem gewonnenen Frankreichfeldzug, kam es zu einer fieberhaften Investitionstätigkeit, die schließlich 1873 zu einer Überproduktionskrise und zu einem Rückgang der Produktion führte. Nach dem sogenannten “Gründerkrach“ erreichte die Zahl der Aktiengesellschaften bis 1900 den Stand von 1872 nicht mehr wieder. In dieser Zeit, zwischen 1870 und 1900 entstanden in den großen industriellen Ballungszentren die Arbeitersiedlungen und Mietskasernen mit 3 oder 4 Hinterhöfen (heute noch im Berlin bekannt). Es waren Viertel, in denen es eine enorm hohe Bevölkerungsdichte gab und die extrem schlecht mit sanitären Anlagen ausgerüstet waren. In Berlin z. B. wuchs die Einwohnerzahl von 900 000 im Jahre 1871 auf 2,7 Millionen um die Jahrhundertwende. Angezogen von der Aussicht auf Arbeit kamen jährlich Zehntausende aus allen Gegenden Deutschlands nach Berlin.
2.1.1.Veränderung in der Sozialstrukturim 19. Jahrhundert
Die Zuwachsrate der Bevölkerung nahm rasant zu. Allein von 1800 bis 1850 stieg die Bevölkerungszahl um 13 Millionen auf 36 Millionen, bis 1870 weiter auf 41 Millionen, schließlich erreichte sie um 1900 endlich 56 Millionen. Den höchsten Kinderreichtum hatte das Proletariat zu verzeichnen, für das jedes Kind nicht nur ein zusätzlicher Esser, sondern auch ein weiterer Versorger der Familie war. Die Bevölkerungsstruktur Deutschlands wandelte sich in den letzten dreissig Jahren des Jahrhunderts enorm, ähnlich den Strukturveränderungen in der Industrie. Die arme Landbevölkerung siedelte um in die entstehenden industriellen Ballungszentren Deutschlands, ins Ruhrgebiet, nach Berlin und nach Oberschlesien. Besonders die Schwer- und Produktionsmittelindustrie band einen großen Teil der Industriearbeiterschaft an sich. Das Zunftwesen, lange Zeit noch für die handwerklichen Berufe maßgebend gewesen, zerfiel zusehends. “Wie alle Länder dieser Zeit war Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts vornehmlich auf Ackerbau eingestellt.“ (4). Von den 10 Millionen Einwohnern Preußens lebten am Anfang des Jahrhunderts nur etwa 2,7 Millionen in den Städten. 80% der Bevölkerung arbeiteten in der Landwirtschaft oder standen mit ihrer Arbeit in direkter Abhängigkeit von der Landwirtschaft. Doch bis 1860 stieg die Industrieproduktion um das 5½fache. Erst in dieser Zeit entstand in Deutschland ein regelrechtes Industrieproletariat. Für 1882 gibt Jürgen Kuczynski von allen hauptberuflich Erwerbstätigen schon 3% Angestellte und 60,5% Arbeiter an. 1895 nahm der Prozentsatz der Arbeiter und Angestellten weiter zu: 67,7% Arbeiter, und 4,9% Angestellte. 1907 betrug der Anteil bereits 71,6% Arbeiter und 8,1% Angestellte. Damit verdiente 79,7% der hauptberuflich Erwerbstätigen seinen Unterhalt als Arbeiter oder Angestellter. Dennoch entfielen 1895 von 1.000 erwerbstätigen Arbeitern immerhin noch 237,7 auf die Landwirtschaft, also rund ein Viertel. Bis 1907 sank der Anteil der Arbeiter in den Landwirtschaft jedoch weiter auf 233,4 pro 1.000 Erwerbstätiger. Die Zahl der Selbstständigen ging in Industrie und Landwirtschaft ebenfalls zurück und zwar in allen Bereichen. Nur in dem Bereich, der von Anfang an eine bestimmte Kapitalmenge erforderte (Bergbau und Hütten), steigerte sie sich von 1895 bis 1907 leicht von 0,1 auf 0,2 von je 1.000 Erwerbstätigen. (5) Besonders zusammenhängende Familien wurden durch die Beschäftigung in der Industrie und durch die großen Umstrukturierungen in der Wirtschaft aus ihren sozialen Bindungen herausgerissen, die immer eine wichtige Hilfsfunktion in Notlagen hatten. Nun mußte sich jede Familie alleine durchschlagen.
2.2.Kinderarbeit und Gesetze zum Schutz der Arbeitskraft Kind
Mit der Durchsetzung des Kapitalismus in Deutschland, vermehrte sich auch der Anteil der in der Produktion beschäftigten Frauen und Kinder. Kinder ab dem fünften Lebensjahr wurden in Bergwerke, Hüttenwerke und Glasfabriken geschickt. Sie arbeiteten als Hilfskräfte in der Textilindustrie und in der Landwirtschaft. Während die Periode der Manufaktur noch die Qualifikation und den körperlichen Einsatz des einzelnen Arbeiters erforderte, war mit dem zunehmenden Einsatz von Maschinen auch die Dequalifikation des Arbeiters und das Absinken des Wertes der Arbeitskraft verbunden. Die Senkung des Wertes der Arbeitskraft zwang nun andrerseits die gesamte Arbeiterfamilie, für den Erhalt der Familie zu sorgen. Häufig kam es dann auch vor, dass erwachsene Arbeiter entlassen wurden, um den Arbeitsplatz für billigere Arbeitskraft(Frau, Kind) freizumachen: “mit der Senkung des Familienlohnes und dem Zwang zur Mitarbeit der kindlichen und weiblichen Familienmitglieder machte das Kapital den Arbeiter zum Sklavenhändler: “Er verkauft jetzt Weib und Kind“. (6) Zum Ende des 19. Jahrhunderts verbesserte sich die Situation der Kinder der Arbeiterklasse. Das hatte mehrere Gründe:
1. Eine Kinderschutzgesetzgebung wurde 1839 verabschiedet, fand jedoch erst Ende des Jahrhunderts langsam Beachtung. 2.Veränderung der Produktionsweise. 3. Benötigung von gesunden Rekrutenkontingenten.
In Preußen, das zu dieser Zeit das sozial fortschrittlichste Land Deutschlands war, wurde 1839 “die Kindernachtarbeit, die Einstellung von Kindern unter 9 Jahren, sowie von Analphabeten unter 16 Jahren in Fabriken ‚Berg-, Hütten- und Pochwerken‘ untersagt.“ (7) Die Analphabeten wurden in sogenannten Fabrikschulen unterrichtet, ca. 2 Stunden am Tag, oder, wenn das dem Unternehmer zu teuer war, in den Sonntagsschulen. Gesetzlich war er verpflichtet, den Kindern etwas beizubringen, sonst durfte er sie nicht beschäftigen. Dieses Kinderschutzgesetz blieb jedoch weitgehend wirkungslos, da erst 1861/62 in anderen industrialisierten Ländern wie Sachsen und Württemberg ähnliche Gesetze in Kraft traten; außerdem hatten die Unternehmer bei Verstößen gegen das Gesetz nur mit lächerlichen Strafen zu rechnen. Doch auch nach der nationalen Einigung 1871 wußte der Staatssekretär des Reichsamtes des Innern in einem Schreiben an den Kaiser 1902 zu berichten, das bei den im Jahre 1898 vorgenommenen Erhebungen über 500 000 schulpflichtige Kinder als außerhalb der Fabriken gewerblich tätig ermittelt worden seien. Zugleich sei festgestellt worden, daß die Kinder vielfach in gesundheitsgefährdenden Betrieben zu späten Abend- und frühen Morgenstunden und bis zu zehn Stunden täglich beschäftigt seien. Schulpflichtig war man im allgemeinen bis zu einem Alter von vierzehn Jahren. Fachleute gehen von der Schätzung aus, daß um 1900 mehrere Millionen Kinder arbeiteten, einschließlich der in der Landwirtschaft Tätigen. Mit dem Erstarken der Arbeiterklasse nahm die SPD, namentlich die sozialdemokratischen Frauen, den Kampf gegen die Kinderarbeit auf. Sie gründeten die sogenannten Kinderschutzkommissionen (bis zum Weltkrieg über 200), die sich selbst um die Beachtung der bestehenden Kinderschutzgesetzgebung kümmerten.
2.3.Wohnverhältnisse der Arbeiterfamilien
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschlechterten sich die Wohnverhältnisse in den industriellen Ballungszentren. In den Jahren 1861 bis 1910 stieg der Prozentsatz der Hinterhauswohnungen ohne Licht und Sonne (heute in Berlin mit dem Tarnausdruck Gartenhaus belegt) von 28% auf 48% aller Wohnungen in Berlin. Setzt man die Zahl der Hinterhauswohnungen in Bezug zu den kleinen Wohnungen, die in der Regel den Arbeiterfamilien zur Verfügung standen, steigt der Anteil der Hinterhauswohnungen auf 70%. 585 der Wohnungen hatten z.B. in Berlin keine Toilette in der Wohnung. Die Wohnung waren in der Regel überfüllt, in Einraumwohnungen befanden sich nach Auskunft der Historiker oft mehr als sechs Personen. Betten wurden von den Arbeitern an ärmere Schichtarbeiter vermietet, tagsüber schlief jemand darin, der auf Nachtschicht ging – ein anderer mietete das Bett für die Nacht. Man mietete einen Schlafplatz. “Die Verschlechterung (der Wohnverhältnisse, Anmerk. I. Meyer) hatte vor allem deswegen solch Ausmaß erreichen können, weil die Fortschritte auf dem Gebiete der Medizin den Ausbruch von Seuchen verhinderten und so den Reichen kein Grund gegeben schien, irgendwie sich um die Wohnverhältnisse der Armen zu kümmern.“ (8) Ebenfalls stiegen in dieser Zeit die Mieten schneller als die Löhne, was bedeutet, daß für eine Wohnung ein größerer Lohnanteil ausgegeben werden mußte. Aus einer zeitgenössischen Erzählung kann man folgende Darstellung der Arbeiterwohnungen erkennen: “In den engen Stuben umspülte die stickige, verbrauchte Luft vieler Menschen in einem Raum die Gesichter der Schlafenden. Treppen, Flure, Stuben, Quer- und Hinterhäuser, das war alles unerträglich dicht zusammen. Kaum Wände und Luft dazwischen. Einer spürte den schweren, unruhigen Atem des anderen. Der Geruch der Menschen drang durch Wände, Spalten und Verschläge. Mieter, Untermieter, Schlafburschen und der Fluch dieser Gasse – die Kinder, von denen es kaum eins gab, das in einem eigenen Bett schlafen konnte . . .“ (9) Berücksichtigt man, daß der Roman von Klaus Neukrantz im Jahre 1929 spielt und sich die “Wohnverhältnisse von 1900 bis 1914 ganz leicht verbessern“,(10) so muß man annehmen, daß eine Schilderung der Wohnverhältnisse für die Zeit um 1900 ähnlich schlecht ausgefallen wäre. In einer Denkschrift der Berliner Arbeiter Sanitätskommission aus dem Jahre 1893 findet sich folgende Darstellung einer typischen Arbeiterwohnung im Bezirk Berlin 61, Urbanstraße: “Die Wohnung besteht aus einer kleinen Stube und einer kleinen Küche, darin sechs Personen (zwei Erwachsene, vier Kinder). Die eine Wand ist eine Giebelwand, daher feucht und mit Schimmel bedeckt. Die Küche ist so klein, daß darin kein Bett stehen kann. Demnach ist alles in der feuchten Stube zusammengepfercht.“ (11) Statistisches Material über Wohnverhältnisse aus dieser Zeit ist wenig vorhanden, auch die Differenzierung nach bestimmten Bevölkerungsschichten erfolgt in der Regel nicht. In Berlin “kamen im Jahre 1860 schon 45 Personen auf ein Haus, 1870 waren es bereits 51 Personen und 1872 56 Personen pro Haus. Aber diese Zahlen werfen noch ein mildes Licht; denn die leeren Salons der Bourgeoisie nahmen in der Statistik ja mit auf, was in den Mietskasernen aus den Fenstern quoll. Aufschlußreicher sind diese Zahlen: im Jahre 1867 waren 11% aller Wohnungen in Vorderhäusern und 15% aller Wohnungen in Hofgebäuden und Hinterhäusern ohne eigene Küche; vier Jahre später, 1871, hatten schon 16% aller Wohnungen in Vorderhäusern und 23% der Wohnungen in den Hinterhäusern keine eigene Küche mehr. Sie waren bloße Schlafbehältnisse für Proletarier.“ (12)
2.4.Entwicklung des Bildungssystems
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kämpfte das Bürgertum um die Einrichtung eines bürgerlich-demokratischen Bildungs- und Erziehungswesens. Die fortschreitende kapitalistische Produktionsweise verlangte eine neue Struktur der Volksbildung. Es wurde für die industrielle Entwicklung mehr Wissen und weniger religiöser Glauben gebraucht. Wichtige Teilforderungen der erstrebten Demokratisierung des Bildungswesens waren: strikte Durchführung des Schulzwanges, besser gebildete Lehrer, die Einführung von Fortbildungs- und Berufsschuleinrichtungen und technischen Lehranstalten, die Beseitigung der Monopolstellung des Gymnasiums und die Errichtung von Realschulen. Obwohl schon 1619 in Weimar, 1649 in Württemberg, 1717 in Brandenburg-Preußen, 1763 – 1765 in Sachsen der staatliche Schulzwang eingeführt wurde, blieb die Erziehung der Arbeiterkinder in den Schulen weit hinter der öffentlichen Erziehung der bürgerlichen Kinder zurück. Im Zuge der industriellen Revolution und der starken Zunahme der Kinderarbeit wurde das Bildungssystem wieder wesentlich eingeschränkt. Für die städtischen Arbeiterkinder wurden die Fabrikschulen eingerichtet, u. a. bedingt durch Gesetze “über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“, die die Beschäftigung von Analphabeten in Fabriken untersagten. In diesen Fabrikschulen “erhielten die Kinder nach einer langen und ermüdenden Arbeitszeit von 11 bis 14 Stunden noch am späten Abend – im Winter von 19.30 Uhr bis 21.00 Uhr oder gar von 20.30 Uhr bis 22.00 Uhr, im Sommer von 19.00 Uhr bis 20.30 Uhr in sogenannten Abend-schulen einen sehr kümmerlichen Unterricht. Andere mußten ihren einzigen arbeitsfreien Tag der Woche opfern, um in Sonntagsschulen ein geringes Maß an Bildung zu erwerben. Vielfach konnten die gesetzlichen Bestimmungen auch deshalb nicht erfüllt werden, weil für den Unterricht keine Räume vorhanden waren.“ (13) Zur Zeit der bürgerlichen Revolution 1848 begann auch die Arbeiterbewegung sich zu formieren. Sie war an einer Verbesserung des Schulunterrichts und an einem Abbau der Kinderarbeit bei gleichzeitigen Lohnerhöhungen interessiert. Doch die Arbeiterbewegung war zu schwach, um derartige Forderungen gegen konservative und klerikale Interessen durchsetzen zu können. Peter Reichensperger, ein Vertreter der katholischen Fraktion in der preußischen Kammer, artikulierte 1848 die Interessen der Klerikalen so: “Ich behaupte, daß man die unteren Klassen und den Armen von einem Recht auf Bildung ebensowenig als von einem Recht auf Lebensunterhaltung sprechen darf.“ (14) “Das aufstrebende Bürgertum hatte zwar aus ökonomischen Gründen kein Interesse an der Ausbildung der Arbeiter, um aber die Arbeiterschaft als politischen Bündnispartner gegenüber der Feudalklasse zu gewinnen, schäumt der Liberalismus vor edlem Zorn über die äußere und innere Rückständigkeit der Schule. In schwungvollen Worten preist er die Notwendigkeit allgemeiner Volksbildung, kühn fordert er die Einheitsschule, die Befreiung der Schule von der Herrschaft der Kirche, voller Edelmut verlangt er für die Kinder schöne Schulhäuser und für die Lehrer eine anständige Besoldung“. (15) Aber ernst gemeint waren diese Forderungen nicht, wie sich nach der Niederlage des Kampfes um die nationale Einigung 1849 herausstellte, als der Liberalismus über Schulfragen ab 1866 nun “mit verletzender Gleichgültigkeit . . . hinweg“ ging. (16) Der Prozeß der Herausbildung der Arbeiterpartei vollzog sich schwierig und nur unter Rückschlägen. Unter der Führung von Stephan Born entstand 1848 die erste deutsche “Arbeiterverbrüderung“, die 1848 ein umfangreiches Bildungsprogramm aufstellte. Dieses Programm enthielt u. a. die Forderungen: Trennung von Kirche und Schule, Unentgeltlichkeit des Unterrichts, Verbot der Kinderarbeit bis zum 14. Lebensjahr, Einrichtung staatlicher Lehrwerkstätten. Für die Durchsetzung dieses Programms wurden keine Pläne entwickelt. 1860 entstanden Arbeiterbildungsvereine, die weitgehend nur Elementarbildung vermittelten. Unter Führung von Ferdinand Lassalle wurde 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet. “Das Programm dieser Partei, von Lassalle 1863 verfasst, vertrat die bildungspolitische Ansicht, das der Staat, wenn er unter die Herrschaft der Idee des Arbeiterstandes gebracht sei, seine Aufgabe auch darin sehe, die ‚Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechtes zur Freiheit zu fördern.‘ Lassalle verzichtete damit auf die Entwicklung einer sozialistischen Bildungspolitik unter kapitalistischen Verhältnissen.“ (17) 1869 wurde in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands gegründet, die in ihrem Programm auch noch keine sozialistische Bildungs-politik auf dem Hintergrund der industriellen Revolution erstellte, sondern die demokratischen Forderungen der “Arbeiterverbrüderung“ von 1848 aufnahmen. “Die Übernahme des Ausbildungssektors durch den Staat, die durch die am 11. März 1872 erlassenen Schulgesetze bestätigt wurde, führte in den 70er Jahren zur Auseinandersetzung zwischen den Parteien der herrschenden Klasse.“ (18) Der Streit der Parteien um Einfluß auf die Schule nahm in dem Maße ab, wie sich die Sozialdemokratie als gemeinsamer Feind der herrschenden Klasse stärker profilierte. Mit der Kabinettsorder vom 1. Mai 1889 schlichtete der deutsche Kaiser Wilhelm II die Auseinandersetzung zwischen den bürgerlichen Parteien: “Schon längere Zeit hat mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken. In erster Linie wird die Schule durch die Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben. Aber ich kann mich der Erkenntnis nicht verschließen, daß in einer Zeit, in welcher die sozialdemokratischen Irrtümer und Entstellungen mit vermehrtem Eiferverbreitet werden, die Schule zur Förderung der Erkenntnis dessen, was wahr, was wirklich und was in der Welt möglich ist, erhöhte Anstrengungen zu machen hat. Sie muß bestrebt sein, schon der Jugend die Überzeugung zu verschaffen, daß die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur den göttlichen Geboten und der christlichen Sittenlehre widersprechen, sondern in der Wirklichkeit unausführbar undin ihren Konsequenzen dem Einzelnen und dem Ganzen gleich verderblich sind.“ (19)
3.Kinderbuchproduktion im 19. Jahrhundert
3.1.Entwicklung der Drucktechnik
Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die Industrialisierung des Verlagswesens unter anderem durch Angliederung von graphischen Nebenbetrieben an größere Verlage, die sich auch auf Papierfabriken und Schriftgießereien erstreckte. Auf dem Drucksektor war ebenfalls eine starke Entwicklung der Produktivkräfte zu verzeichnen. Durch die Erfindung und Anwendung der Schnell-presse, die kürzere Druckzeiten und damit geringe Kosten ermöglichte (1811), durch Erfindung der Setzmaschine Linotype von Mergenthaler (1884) und Monotype von Lanston (1897) konnte der Buchdruck weiter rationalisiert werden. Horst Kunze weiß in seinem Buch “Schatzbehalter“ auch anzumerken: “Die Anfänge des Offsetdrucks boten zugleich eine technische Hilfe zur Verbesserung der Qualität des Druckes, denn dieses mit einem Raster arbeitende Verfahren, bei dem die Farbe von der Druckplatte nicht direkt auf das Papier gelangte, sondern zunächst auf einem Gummituch “abgesetzt“ (“off-set“) wurde, vermochte die Wärme und Leuchtkraft der Farben weitgehend zu erhalten.“ (20) Dennoch “geht es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf weiten Strecken dem Verfall des künstlerischen und typographischen Kinderbuches entgegen. Zu dem Heer der unbedarften Vielschreiber von Jugendschriften gesellt sich jetzt ein Sintflut minderwertiger Zeichner, deren Produkte von rührigen, nur nach Gewinn strebenden Verlagen schnell und billig, das heisst schlecht und mangelhaft hergestellt werden.“ (21) Heinrich Wolgast lehnte den “Buntdruck“ generell ab, bedingt durch seine Unkenntnis über vorhandene technische Möglichkeiten. So traten er und andere weiter für den Holzdruck in Kinderbüchern ein. “Das war eine Verwechslung von Ursache und Wirkung, die Wolgast selbst, nach dem er über den wirklichen Sachverhalt informiert war, berichtigt hat.“(22) Ein weiterer Widerspruch war ein Beleg dafür, daß es keinesfalls an den Möglichkeiten der damaligen Drucktechnik gelegen hat, daß die Kinderbücher schlecht in Gestaltung, Inhalt und Farbe waren. Wolgast selbst wies 1906 darauf hin. “daß England und Frankreich im ‚Bilderbuch-Buntdruck‘ viel weiter seien als Deutschland. Er übersah dabei, daß mehrere dieser englischen Kinderbücher, die er im Auge hatte, den Vermerk ‚Made in Germany‘ trugen. Das heißt, dieselben Firmen, die für Deutschland Schund und Minderwertiges fabrizierten, waren sehr wohl in der Lage, Vorzügliches zu leisten.“ (23) Die Entwicklung der Drucktechnik in Deutschland war also mit entscheidend für den Preis eines Buches und damit für seine Verbreitung.
3.2.Entwicklung des Vertriebssystems
Ein eigenes Vertriebssystem für Kinderbücher gab es Ende des 19. Jahrhunderts nicht. Die Bücher wurden über Buchhandlungen oder direkt durch Handlungsreisende vertrieben. Besonders die Landbevölkerung wurde durch Handlungsreisende – auch “Kolporteure“ genannt – beliefert. Während des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts war dieser “Kolporteur“ der “mächtigste Lesestofflieferant.“ (24) Vertrieben wurde alles, was der Markt hergab: Kalender, Almanache, Handbücher, Romane und auch die berühmten Einblatt-Bilderbogen, die es einfarbig und später auch koloriert gab. Diese Bilder-bogen kann man als Vorläufer der modernen Comic-Strips ansehen. Der Preis lag bei 10 Pfennig, farbig kosteten sie 20 Pfennig. Vor der Entstehung des modernen Mehrfarbendruckes wurden sie in der Regel von Kindern der Armen handkoloriert. Die Literaturwissenschaft hat sich bisher kaum soziologisch mit dem Kinderbuch auseinandergesetzt, so daß wir heute nur vermuten können, welche Bücher von Arbeiterkindern gelesen wurden. In der Regel begnügt sich die Literaturwissenschaft mit dem Hinweis, “daß der Geschmack der unteren Volksschichten bedauerlicherweise minderwertig gewesen sei!“ (25) Mitte des Jahrhunderts waren die “Heftchen“ – von Rittern, Räubern und allgemeine Gruselliteratur sehr verbreitet. Der stationäre Buchhandel entwickelte sich in den großen Städten besonders rasch, aber nur dort in bestimmten Vierteln; für die Verteilung auf bestimmte Viertel habe ich jedoch keine Zahlenangaben gefunden. 1832 gab es in Preußen 296 stationäre Buchhandlungen in 81 Städten, 1834 kam in Berlin auf 3.000 Einwohner eine Buchhandlung. Wien hatte zur gleichen Zeit bei 300 000 Einwohnern insgesamt 43 Buchhandlungen. Erst nach der 48iger “Revolution“ entwickelte sich der Buchhandel sprunghafter. Im “Allgemeinen Adressbuch für den deutschen Buchhandel“ wurde 1881 sogar für den Ort Künzelsau eine Buchhandlung vermerkt. Im Königreich Württemberg kamen auf zwei Millionen Einwohner 127 Buchhandlungen, davon waren allein 60 in Stuttgart. In Sachsen war das Zahlenverhältnis besser: hier gab es auf 2,8 Millionen Einwohner immerhin schon 550 Buchhandlungen. Bayern hatte dagegen nicht so viele Buchhandlungen – auf 5,3 Millionen Einwohner gab es hier nur 310 Buchhandlungen. Dennoch sagen diese Zahlen wenig über die Verbreitung bestimmter Bücher bei bestimmten Schichten des Volkes aus; hier bleibt man weitgehend auf Vermutungen angewiesen, die allerdings aufgrund bestimmter Fakten, nämlich wegen der Preise der Druckschriften und der unterschiedlichen Kaufkraftmöglichkeiten verschiedener Schichten sehr gut gestützt werden können. In einem späteren Ab-schnitt werde ich genauer darauf eingehen. Der potentielle Leserzuwachs stieg in hundert Jahren (von 1770 – 1870) von etwa 15% bis zu 70% der stark wachsenden Bevölkerung. Dieser potentielle Leserzuwachs rekrutierte sich aus den finanziell leistungsschwächsten Schichten. “Diese können ihre Lesekenntnisse nur anwenden, wenn ihnen der Lektüre-Markt billigst Ware liefert.“ (26)
3.3.Inhalte der Kinderbücher und deren Veränderungdurch geselllschaftliche Einflüsse
Im Gegensatz zum Bildungsgedanken der Aufklärung (18. Jahrhundert), der vor allem Wissen vermitteln wollte, wurde im 19. Jahrhundert (Romantik) die bisherige Kinderliteratur als zu lehrmeisterhaft abgelehnt. Es wurde die Idee der schutzbedürftigen, pardiesischen, naiven Kindheit propagiert. Das Elend der Stadt und Landbevölkerung, die Ausbeutung des Menschen durch lange Arbeitszeiten, schlechte Arbeitsbedingungen und niedrigen Lohn führte dazu, daß das neue Zeitalter als volksschädigend und verderbend abgelehnt wurde. Die politischen und wirtschaftlichen Unruhen, die nationalstaatlichen Bestrebungen des Bürgertums, der Kampf des Proletariats und des Bürgertums gegen den Adel in der Zeit von 1820 – 1848 fand keinen Niederschlag in der Kinderliteratur. Das Bürgertum hatte sich nach der Revolution völlig ins Privatleben zurückgezogen und kultivierte sein Heim und seine Gefühle. Heinrich Heine faßte diese Kultur in die Worte: “Man übte Bescheidenheit und Entsagung, man beugte sich demütig vor dem Unsichtbaren, haschte nach Schattenküssen und blauen Blumengerüchen, entsagte und flennte.“ (27) Die Seelenhaltung des Biedermeiers, verwaschen und wehleidig, schlug sich auf die Kinderbücher nieder. Die Inhalte sind beschaulich und niedlich, die fremde Welt ist nicht mehr Gegenstand der Betrachtung, sondern die dörfliche Idylle mit Hund, Kind und Katze. Solche Darstellungen finden wir u.a. von dem Illustrator Ludwig Richter. Kennzeichnend für diese Haltung sind auch die Märchenbücher, mit weinerlichen und rührseligen Inhalten, die unter den Titeln wie: “Nesthäkchen“, “Trotzkopf“, “Herzblättchen“, “Backfischchen“, “Blumenkörbchen“ erschienen. Es entstand auch erstmals ein großes Interesse an der Volkskunst. Märchen wurden gesammelt, Sagen, Lieder und Reime aufgeschrieben und veröffentlicht. Die bekanntesten Märchensammler sind die Gebrüder Grimm, die ihre “Kinder- und Hausmärchen“ erstmals 1812 veröffentlichen. Neben den überlieferten Märchen kamen auch Kunstmärchen in Mode, und fast alle Dichter der Romantik haben solche Märchen geschrieben, z. B. Andersen, E.Th.A. Hoffmann, Brentano, Möricke und Hauff. “Des Knaben Wunderhorn“, herausgegeben von Brentano und Achim von Arnim, beinhaltet alte Lieder und Reime aus dem Volksmund. Zu den erwähnten Tugenden Bescheidenheit, Bravsein, Fröhlichsein und Zufriedenheit kamen in den sechziger und siebziger Jahren noch vaterländisch-militaristische Züge. Nationales Selbstbewußtsein, Tapferkeit und Edelmut waren die neuen Tugenden. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte sich die aus privater Initiative entstandene Jugendschriftenbewegung, deren Mitglieder hauptsächlich Pfarrer, Lehrer und Pädagogen waren. Sie gaben verschiedene Verzeichnisse mit kritischen Auswahlen und Empfehlungen für Bücher heraus, deren gemeinsame Forderungen verstärkte Vermittlung von Kenntnissen und Tugendmustern waren. Die Jugendschriften sollten: “unterhalten, belehren und veredeln“. Die Qualität dieser Forderungen änderte sich zum Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei sahen die Autoren als wichtigstes Moment im Kinder- und Jugendbuch die ästhetische, künstlerische Erziehung an. Es vollzog sich die “Wende zum Kind,“ damit zur Irrationalität und Realitätsflucht. Tendenzfreie Literatur wurde gefordert, um die sich verstärkenden Widersprüche innerhalb des Kapitalismus von den Lesern fernzuhalten. Die diversen Theorien und praktischen An-sätze, die sich unter den Strömungen der Reformpädagogik subsummieren lassen, suchten im Prinzip nach Lösungsmöglichkeiten der kapitalistischen Bildungskrise, wie sie sich um 1900 in Deutschland ergab, und waren andererseits auch Produkt dieser Krise: “Diese Bildungskrise war durch den Wider-spruch zwischen den steigenden Anforderungen der Industrie an die Bildung des Menschen und den ängstlichen Bemühungen der herrschenden Klassen, eine wirkliche Erhöhung des Bildungsniveaus der Volksmassen zu verhindern, hervorgerufen worden.“ (28) Ein Teil der “Reformer“ versuchte der Misere durch Flucht in die Ideologie der “unpolitischen“, “heilen“ Kinderwelt, der “Parteinahme“ für das abstrakte Kind zu entgehen. Ein besonderer Vertreter innerhalb der Diskussion war Heinrich Wolgast, der aus der reformpädagogischen Kunsterziehungsbewegung kam. Besonders mit der Schrift “Das Elend unserer Jugendliteratur“ forderte er wertvolles Schriftgut für die Jugend, das ihrer seelischen Reife entsprach, vom Kinderlied zur Volksdichtung und zur deutschen Literatur führt. Heinrich Wolgast forderte “Die Jugendschrift in dichterischer Form muß ein Kunstwerk sein“ . . .“ Und die Dichtkunst “kann und darf nicht das Beförderungsmittel für Wissen und Moral sein.“ (29) Wolgast meinte in diesem Zusammenhang, die Befreiung der Literatur von nationalistischen, militaristischen und klerikalen Zügen. “Was bereits genügte, den Ausschüssen von Seiten der konservativen Presse den Vorwurf einzutragen, die Sozialdemokratie bediene sich ihrer als Mittel zur Zersetzung des Staates.“ (30)
Lesebücher wurden neu gestaltet und eine künstlerisch wertvolle, ästhetischen und pädagogischen Kriterien folgende Kinder- und Jugendliteratur entwickelt. Die Reformpädagogik war aber letztlich nicht in der Lage, der organisierten Abrichtung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen auf den ersten Weltkrieg einen ernst zu nehmenden Widerstand entgegenzusetzen.
4.Beispiel zur Kinderbuchproduktion des 19. Jahrhunderts 4.1. Bilderbogen
Die Einführung neuer Druckverfahren brachte im 19. Jahrhundert einen neuen Aufschwung für die Bilderbogenherstellung. Neue Produktionszentren entstanden, gleichzeitig erschienen neue Blätter in Massenauflagen und boten eine Ausweitung des Angebots für Kinder. Städte wie Neuruppin, München, Nürnberg, Stuttgart und Wien wurden als Druckorte wichtig. “Religiöse Darstellungen sind auch im 19. Jahrhundert, wie Statistiken und Kataloge zeigen, die populärsten. Alte Motive halten sich mit großer Zähigkeit. Einzelanalysen erhellen jedoch auch einen orts- und zeitgebundenen differenzierten Konsumentengeschmack: Die griechischen Helden Kanaris, Miaulis, Kolokotroin und der Kotzebue-Mörder Sand hingen in bunten Effigies (Bildnisse) 1822 in allen Berliner Buchbinderläden. 1837 zeigten die Elsässer große Neigung zu Pin-ups (Anheftmädchen) und Napoleons. Um 1850 – um nur ein anderes Beispiel zu nennen – war in Baden Heckers Porträt weit verbreitet. Der Konsum unterliegt im einzelnen Modeströmungen und aktuellen Problemstellungen. Die Verlagskataloge erlauben Rückschlüsse auf den Konsumentgeschmack aller Bevölkerungsschichten, Geschmacksträger waren keineswegs nur die niederen Volksklassen.“ (31)
Die bekanntesten Bilderbogen sind die Neuruppiner (1825) und die Münchner (1849). Während die Neuruppiner Bilderbogen, gegründet in einer kleinen Druckerei von Gustav Kühn, von anonymen Zeichnern stammten und sich an weite Kreise des Volkes wandten, arbeiteten bei dem Verlag Braun & Schneider in München namhafte Künstler mit. Zu den Münchner Bilderbogen, die einem hohen künstlerischem Niveau entsprachen, schreibt Horst Kunze in dem Buch “Schatzbehalter“: “Sie wandten sich überwiegend an die Jugend und wurden von ihr mit Spannung erwartet. Ein- bis zweimal im Monat kamen neue Bilderbogen heraus. Feste Preise waren garantiert: zehn Pfennig der schwarzweisse, zwanzig Pfennig der kolorierte Bogen. Von 1849 bis 1898 erschienen insgesamt 1056 Nummern. Wilhelm Busch ist an dem Unternehmen mit 50, Lothar Meggendorfer mit 66 Bogen beteiligt; zu den Mitarbeitern an den “Münchner Bilderbogen“ zählten ferner Adolf Oberländer, Franz von Pocci, Moritz von Schwind und Otto Speckter.“ Die Inhalte waren: “Darstellungen fremder Völker, wilder Tiere, Ansichten von Städten und Ländern, kulturhistorischen Bildern, wobei Kostüme vergangener Zeiten bevorzugt waren, aber ganz besonders für Kinder bestimmt waren Szenen aus dem Kinderleben, die umso beliebter waren, je lustiger es zuging. Märchen, Sagen, Fabeln, Legenden, Sprichwörter, bildlich dargestellt und mit kurzen, meist gereimten Texten versehen, fehlten nicht, so daß die Lust am Abenteuer, alle Spielarten der Phantasie, Freude am Spaß und Schabernack reichlich Nahrung fanden.“ (32)
Das künstlerische Niveau der Münchner Bilderbogen wurde von den Neuruppinern niemals erreicht und auch nicht angestrebt. Schon im Jahre 1832 wurden über 1 Million Neuruppiner Bilderbogen umgesetzt, in den Kriegsjahren 1870/71 steigerte sich der Umsatz auf etwa 3 Millionen Blätter. Die ungeheure Verbreitung dieser Dreipfennigbogen “beruhte auf der geschickten Ausnützung des Publikumsgeschmackes, und zwar aller Schichten des Publikums gemeinsam, sie beruhte darauf,’in jedem Augenblick zu wissen, was obenauf schwimmt, was das eigentliche Tagesinteresse bildet‘. Diese leuchtend bunten Bogen wurden von dem Lumpenhändler in Stapeln mitgeführt, um in Stadt und Land gegen Knochen und anderen Trödel eingetauscht zu werden.“ (33)
4.2. Grimms Märchen
Die Gebrüder Grimm begannen Ende des 18. Jahrhunderts Volksmächen zu sammeln und schriftlich zu fixieren. 1812 wurde der erste Band publiziert. Für die ersten Ausgaben mag man den Brüdern Grimm noch glauben, wenn sie 1819 im Vorwort schrieben: “Wir haben nämlich aus eigenen Mitteln nicht hin-zugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen hatten.“(34) Aber schon damals war diese Behauptung nachweislich nicht mehr zutreffend. Hierzu möchte ich zwei Beispiele anführen:
Marienkind
Ursprüngliche Fassung: (1812) “Das Kind nahm die Schlüssel und öffnete jeden Tag eine andere Tür und freute sich über den Anblick aller der himmlischen Wohnungen.“ Fassung von 1819: “Als die Jungfrau Maria weg war, fing sie an und besah die Wohnungen des Himmelreiches: jeden Tag schloß es eine auf, bis die zwölfe herum waren. In jeder aber saß ein Apostel und war von großem Glanz umgeben, und es freute sich über all die Pracht und Herrlichkeit und die Englein, die es immer begleiteten, freuten sich mit ihm.“ (35)
Der Gevatter Tod
In der Erstfassung verschmäht der arme Mann, der für sein dreizehntes Kind einen Gevatter sucht, den sich ihm anbietenden lieben Gott mit den Worten: “Ich will dich nicht zum Gevatter haben, denn du gibst den Reichen und läßt die Armen hungern.“ Wilhelm Grimm fügte in der zweiten Ausgabe daran den Satz: “Das sprach der Mann, weil er nicht wußte, wie weislich Gott Reichtum und Armut verteilt.“ (36)
So änderte sich diese ehemalige Volksliteratur unter der Feder von W. Grimm doch immer mehr zum Märchen des Bürgertums, während die ursprünglichen Geschichten als Ausdruck der ländlichen Unterschichten (abhängige Bauern, Knechte, Tagelöhner, Bettler) verstanden werden konnten. Mit dem Zugriff des Bürgertums auf diese Märchen wurden die Figuren verniedlicht, das Kulissenstereotyp (der dunkle Wald, die alte Linde) wurde immer wichtiger und die Handlungsmotivationen der dargestellten Personen änderten sich. Die Märchen wurden mit “runden“ Schlüssen versehen, mit Schlüssen, die der etablierten Moral entsprachen. Während die Märchen mündlich weitergegeben wurden, waren sie verknüpft mit der isolierten, hoffnungslosen Lage der ausgebeuteten ländlichen Unter-schichten, die keinen Ausweg hatten, ihre Lage jemals zu verbessern. “Nur als Märchen war ein besseres leben utopisch träumbar. Das deutsche Volksmärchen reflektierte diese Situation in seiner Grundstruktur: Zu Beginn gibt es einen Helden in hoffnungsloser Lage, er ist der Jüngste, der Dummkopf, der Knecht, die Stieftochter u.s.w..Die eigentliche Handlung verändert dann aber radikal seine Lage, um ihn unerwartet ins Märchenglück zu führen.“ (37) Dieser Held verhielt sich im entscheidenden Moment richtiger, d.h. gerechter und mitleidsvoller als die Herren, die Reichen, die Großen. Tiere und Zauberer oder seine Bauernschläue halfen die Wendung zum Guten herbeizuführen. Für die ursprünglichen Märchenhörer besaßen die Märchen einen konkreten Sinn, es waren Vorgänge ihrer gesellschaftlichen Umwelt und mit der sinnlichen Wahrnehmung eng verbunden. Für das bürgerliche Kind, auf das die Märchen – wie schon erläutert – zugeschnitten wurden, “wird dieser Zusammenhang weitenteils zerschnitten, so daß sie fast ausschließlich als Trauminhalte begriffen werden. Die Fremdheit des historisch fernen Bildmaterials, mit dem die Volksmärchen arbeiten, erlaubt kaum noch, diese Symbole mit der eigenen Erfahrung in Beziehung zu setzen.“ (38)
4.3. Der Struwwelpeter
1845 wurde das Buch, “Der Struwwelpeter“ – geschrieben und illustriert von dem Arzt Dr. Heinrich Hoffmann – erstmals gedruckt. Kein Bilderbuch hat derartig viele Auflagen und Abwandlungen erreicht. Schon 1876, 31 Jahre nach dem Erscheinen der Erstauflage, wurde die 100. Auflage verlegt, im Jahre 1896 kam die 200. Auflage heraus, 1908 zählt man die 400. und 1939 bereits die 593. Auflage. Der Verfasser, Dr. Heinrich Hoffmann, berichtet um 1890: “Ja, ich kann mit Befriedigung sagen, der Schlingel hat sich die ganze Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergießen, und die bösen Buben sind weiter auf der Erde herumgekommen, als ich . .“ (39) Dieses Kinderbuch vermittelt nicht, wie die Bücher der Aufklärung, Sach- und Weltkunde, sondern die gängigen Sozialisationspraktiken und Ziele der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Für den kritischen Betrachter ist dieses Buch gleich-zeitig die komplexe Darstellung bürgerlicher Erziehungsnormen wie: Ruhe und Ordnung, Sauberkeit, Pflichterfüllung, Gehorsam, Häuslichkeit, Schutz des bürgerlichen Eigentums und Triebverzicht. Diese Normen werden in dem Buch nicht von Eltern gefordert (im Gegensatz zu der alltäglichen Erziehungspraxis), sondern es werden Sachzwänge dargestellt, die das Kind belehren. Erst von der 3. Auflage an trägt das Buch den uns geläufigen Titel: “Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder.“ Drollig und lustig aber geht es beim Struwwelpeter nicht zu, sondern grausam, die Geschichten enden mit Krank-heit, Verstümmelung oder Tod. Wer nur ins Wasser fällt, wie Hans-Guck-in-die-Luft, kommt noch glimpflich davon. Oberstes Erziehungsziel dieses Gebrauchsbüchleins ist die Verinnerlichung von Zwängen, die nicht mehr durch “Autoritäten“ vermittelt werden, sondern anhand sogenannter Sachzwänge, die sich bei näherer Betrachtung allerdings als autoritäre Verhältnisse darstellen. Durch Übertreibung wird die Darstellung falsch und das Erziehungsziel durchsichtig. w.z.B. bei der Geschichte vom Suppenkaspar: Kein überfüttertes Kind stirbt nach vier Fastentagen (dies wußte Dr. Hoffmann als Arzt sicher auch). Hier ist auch nicht das Verhungern gemeint, sondern das Verbot des Lustgewinns des Kindes beim Essen. Auch bei Paulinchen geht es um die Verinnerlichung von Zwängen (Erhalten des Besitzes), die durch den “Sachzwang“ Feuertod vermittelt werden soll (die beiden Katzen können sich retten, Paulinchen nicht). Konrad übertritt das Gebot des Triebverzichts (Verzicht auf orale Befriedigung – Daumenlutschen) und wird durch eine bisher unbekannte Person schwer verletzt (Schneider mit der Schere). Kastrationsängste bei Triebbefriedigung werden dem Kind schon früh vermittelt. In der Geschichte vom Zappel-Philipp muß die Familie hungern als Folge kindlichen Eigensinns, unvernünftigen Verhaltens in Form von ungehemmten Bewegungsdrang. Der böse Friedrich, von dem man annehmen kann, daß er nicht von “Natur aus böse“, sondern so “erzogen“ worden ist, kommt mit einem Biß davon. Drei Geschichten vermitteln soziale Ächtung des Außenseiters durch die Gesellschaft: Struwwelpeter, Mohr und Hans-Guck-in-die-Luft werden aufgrund von Aussehen oder Handeln diskriminiert. Rassische Minderheiten werden zwar geduldet (Geschichte vom Mohr, aber in dem Begriff der Duldung des Anders-artigen schwingt schon mit,“daß es um ein Zugeständnis geht, um ein Ertragen des anderen, der sozusagen nicht über einen Anspruch verfügt, den ihm etwa Massenhaftigkeit oder materielle Macht verleihen.“ (40) Wenn das Kind nicht gegen soziale Normen, den herrschenden Lebensstil und sittliche Orientierungen verstößt, kündigt der Vorspruch vom “Struwwelpeter“ als Belohnung für Wohlverhalten das Buch selbst an.
Wenn die Kinder artig sind, kommt zu ihnen das Christkind; wenn sie ihre Suppe essen und das Brot auch nicht vergessen, wenn sie, ohne Lärm zu machen, still sind bei den Siebensachen, beim Spazierengehn auf den Gassen von Mama sich führen lassen, bringt es ihnen Gut’s genug und ein schönes Bilderbuch.
4.4. Max und Moritz
“Max und Moritz, eine Bubengeschichte in sieben Streichen“, von Wilhelm Busch, gehört ebenfalls zu den Büchern, die heute noch weit verbreitet sind. Allerdings hat dieses Buch, dessen Geschichten auch als Bilderbogen erschienen (1865), nicht annähernd eine so große Verbreitung gefunden, wie der “Struwwelpeter“. 1870 erfuhr dieses Buch die vierte Auflage. Die Geschichten von Max und Moritz spielen auf dem Lande und handeln von zwei Brüdern, die in ihrer Freizeit der Dorfbevölkerung allerhand Streiche spielen. Das Kleinbürgertum (Müller, Schneider, Bäcker, Schulmeister) und die gesamte Dorfbevölkerung ist am Ende froh, daß beide auf relativ heimtückische Weise umgebracht werden. Und das, obwohl ihnen normalerweise keine Kapitalverbrechen vorzuwerfen sind, sondern Mundraub, Diebstahl und grober Unfug. Die Familienverhältnisse der Brüder sind reichlich unklar, Eltern scheinen die beiden nicht mehr zu haben. Niemand, auch nicht der auftauchende Verwandte, Onkel Fritze, weint am Schluß über ihren Tod. Das Buch “Max und Moritz“ ist auch ein Beispiel zum Thema des männlichen Rollenverhaltens, “Max und Moritz“ ist eindeutig als Bubengeschichte gekennzeichnet – Mädchen durften sich solche Streiche damals gar nicht einmal ausdenken. Im Gegensatz zum “Struwwelpeter“ findet man bei “Max und Moritz“ nicht die Verinnerlichungstendenzen von bestimmten Zwängen. Zwar folgt auch hier die Strafe für sieben Streiche, jedoch nicht unpersönlich als Sachzwang dargestellt, sondern ausgeführt von zwei Personen des Dorfes, die durch “Max und Moritz“ geschädigt worden sind. Beide “Buben“ sind die Störenfriede der Dorfbewohner, die ihre Ordnung durcheinander bringen. Das moralische Postulat oder bürgerliche Erziehungsvorstellungen wie beim “Struwwelpeter“ sind hier nicht Gegenstand der einzelnen Geschichten. So ist es auch zu verstehen, daß dieses Buch sich nicht nahtlos in der Reihe der anderen Bilderbücher einfügen ließ, sondern Widersprüche hervorrief: “Die für den ersten Anblick ganz harmlos und belustigend erscheinenden Caricaturen auf manchen “Münchner Bilderbogen“, in Max und Moritz und in anderen Büchern von W. Busch und dgl. sind eins von den äußerst gefährlichen Giften, welche die heutige Jugend, wie man überall klagt, so naseweis, unbot-mäßig und frivol machen.“ (41) Das schrieb 1883 der Pädagoge Friedrich Seidel in Friedrich Fröbels “Mutter und Koselieder“ über Wilhelm Busch. Vermerkt wird in den Buch “Schatzbehalter“ von Horst Kunze ebenfalls, daß die Bemühungen der Pädagogen, dieses Buch “umzubiegen“, wenig Erfolg gehabt haben, “und die Jugend vor dem ersten Weltkrieg nicht daran gehindert hat, ihn zu verschlingen; auch in Arbeiterbildungsbibliotheken zählte er zu den meistgelesenen Autoren.“ (42)
5.Versuch einer Übersicht über dieBilderbuchproduktion von 1870 – 1910
Ein Verzeichnis der in den Jahren 1870 – 1910 erschienenen Bilderbücher in “Das Bilderbuch“, einer Zusammenstellung des Institutes für Jugend-buchforschung der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt am Main, nennt 296 Bilderbuchtitel für diese Zeit.
In einer entsprechenden Bibliographie, herausgege-ben von Heinz Wegehaupt, sind für Kinder der Arbeiterklasse für die Zeit von 1870 – 1918 fünfundachtzig Titel aufgeführt. Diese Titel beziehen sich aber auf Kinder- und Jugendbücher, das bedeutet, Bilderbücher sind darin eingeschlossen und von daher wird ihr Anteil verschwindend gering sein. Die folgende Zusammenstellung von Bilderbuchtiteln nach den Unterlagen des Instituts für Jugendbuchforschung, Frankfurt, in “Das Bilderbuch“, läßt erkennen, daß die Autoren hauptsächlich die sogenannte “heile Kinderwelt“ in ihren Büchern beschrieben.
Titel der Bilderbücher 1870
Aus dem Kinderleben Bilderbibel für die Jugend Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt (Nr.151-250) Frau Kätzchen. Ein Märchen dem Volksmunde nacherzählt Fünfzig Fabeln für Kinder von Wilhelm Hey Gute Sprüche, weise Lehren, muß man üben, nicht bloß hören Lustige Bilder und fröhliche Lieder für kleine Leute Max und Moritz (4. Auflage) Naturgeschichte der Vögel Der schwarze Peter. Ein Bilderbuch für artige Kinder (2. Auflage)
Titel der Bilderbücher 1880 Deutscher Kinderfrühling in Wort, Klang und Bild Freud und Leid der Kinderzeit Gute Freundschaft. Eine Geschichte für Damen, aber für kleine (5. Auflage) Hans Haenschen das Etwas werden wollte Kinderlust und Kinderfreuden Neues Verwandlungs-Bilderbuch Orbi pictus (3. Auflage) Der Pegasus. Klassisches Bilderbuch für die Jugend Unterm Märchenbaum (3. Auflage) Veilchen im Walde Titel der Bilderbücher 1890 Aus aller Welt Das Deutsche ABC‘ Buch Durch Feld und Wald durchs Haus und Hof Herzblättchens Naturgeschichte (3. Auflage) Das Kind und seine kleine Welt (2. Auflage) Kleiner Märchengarten Lustiges Automaten-Theater Das Militärbuch (2. verbesserte Auflage) Scherz und Ernst in Wort und Bild für Kinderstube und Kleinkinderschule (2. Auflage) Till Eulenspiegel lustige Fahrten und Schwänke (3. Auflage) Vom Hänschen, der Alles besser weiß Zwölf Kindergeschichten
Titel der Bilderbücher 1900 Das deutsche Heer Federspiele (2. Auflage) Fitzebutze Der gestiefelte Kater Im Frühling. Ein Bilderbuch für große und kleine Kinder (3. Auflage) Im Winter. Ein Bilderbuch für große und kleine Kinder (3. Auflage) Struwwelpeterbuch Unser Liederbuch Wen soll ich malen?
Titel der Bilderbücher 1910 Blumen aus Garten und Flur Brüderchen und Schwesterchen Bruder Straubinger Dideldumdei! Verse für die Kleinen Elschens Geburtstag Kinderheimat in Liedern von Friedrich Güll Kunterbunt. Mit lustigen Versen und Erzählungen Märchenstrauß für Kind und Haus Niki. Eine drollige Hundegeschichte Osterbuch. Mit Versen von Christian Morgenstern Ringel-Rangel-Reih. Ein lustiges Allerlei Von Drachen, Puppen und Soldaten Der Wolf und die sieben jungen Geißlein
Bilderbücher mit mehr als 2 Auflagen in der Zeitvon 1870 – 1910 Über Auflagenhöhen und Verbreitung von Bilderbüchern gibt es keine gesicherten Statistiken, auch das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, das zu dieser Zeit bereits existierte, verfügt nach meinen Recherchen über solche Daten nicht. Um herauszufinden, welche Bücher eine stärkere Verbreitung fanden, habe ich mir die Mühe gemacht, aus den Angaben des Deutschen Instituts für Jugendbuchforschung, Frankfurt am Main, in “Das Bilderbuch“ von K. Doderer diejenigen Bücher herauszuschreiben, die mit mehr als zwei Auflagen dort bibliographiert sind. Bis zu einer bestimmten Zeit erfolgte die Sammlung von Kinderbüchern unsystematisch, und es erscheint daher durchaus nicht gesichert, daß nur diese Bücher und keine anderen mit mehr als 2 Auflagen erschienen sind, dies ist bei der Aufstellung zu berücksichtigen. 146 Bastian der Faulpelz, Heinrich Hoffmann, 1866, 3. Auflage 156 Bilder zur Jobsiade, Wilhelm Busch, 1874, 4. Auflage 256 Im Winter, Meggendorfer, München 1883, 8. Auflage 262 Eine Kätzchengeschichte, A. Hoppe, 1845, 7. Auflage 273 Kindergarten, Gedichte, Löwenstein, Hosemann, 1873, 3. Auflage 283 Die Kinderstube, Flinzer, Lausch, 1886, 4. Auflage 286 Der kleine darmstädtische Catechismus des Dr. Martin Luther, Elwert 1851, 6. Auflage 288 Kleines Volk, Pletsch, Oldenburg, Leipzig 1879, 5. Auflage 290 Der kluge Quötzelhahn, J. J. Kummer, Erfurt 1884, 6. Auflage 318 Mancherlei aus des Lebens Mai, Pletsch, Schanz, Leipzig, 1864, 3. Auflage 330 Naturgeschichte der Amphibien, Esslingen, 1871, 8. Auflage 333 Naturgeschichte der Vögel, Esslingen, 1870, 6. Auflage 334 Naturgeschichte für die Jugend, Leipzig, 1864, 11. Auflage 351 Orbis pictus, Leipzig,1883, 5. Auflage 362 Robert Reinickes Märchen, Lieder und Geschichtenbuch, Robert Reinick, Bielefeld, 1889, 9. Auflage 363 Robinsons Thierbude, Zähler und Flinzer, 1867, 3. Auflage 384 Struwwelpeter, Dr. Heinrich Hoffmann, 1876, 100. Auflage, 1896, 198. Auflage 395 Till Eulenspiegel’s lustige Fahrten und Schwänke, Muldener, Ramberg, Leipzig, 1890, 3. Auflage 400 Unterm Märchen, Klimsch, Oswalt, Frankfurt, 1880, 3. Auflage 504 Die fleißige Puppenschneiderin, Lutz, Heyde, Stuttgart, 1902, 5. Auflage 567 Im Frühling, Kepter, Holzhausen, Lahr, 1900, 3. Auflage 571 Im Winter, Kepter, Holzhausen, Lahr, 1900, 3. Auflage 723 Die schönsten Fabeln für Kinder, W. Hey, Stuttgart, 1909, 4. Auflage
6. Die Arbeiterbewegung und ihreAuseinandersetzung mit der Kinder- undJugendliteratur Erst mit der verstärkten Organisierung der Arbeiterklasse in Parteien und Gewerkschaften entstand in der Sozialdemokratie langsam das Bewußtsein vom Kinderbuch als Medium politischer Erfahrung und sozialen Lernens. Die Diskussion um das Kinderbuch und Aufnahme der Produktion von Kinderliteratur entwickelte sich nur zögernd und hatte zu leiden: – unter der sozialdemokratische Auffassung, die meinte, Kultur- und Erziehungspolitik sei eh nur eine Nebensache – innerhalb der verschiedenen politischen Richtungen und Fraktionierungen – unter der Fixierung an den bürgerlichen Begriff von Erziehung und Literatur Aus dem Bewußtsein heraus, daß für Arbeiterkinder keine geeignete Literatur existierte, gaben Clara Zetkin und Käthe Duncker eine Kinderbeilage zur sozialdemokratischen Wochenzeitung “Die Gleichheit“ heraus (ab 1905). Vereinzelte Versuche der Sozialdemokraten, Kinderliteratur herauszugeben, konnten jedoch nicht das Angebot der bürgerlichen Kinderliteratur aufwiegen. Clara Zetkin mußte auf dem Parteitag der Sozialdemokraten 1906 konstatieren, daß die Versuche, eine sozialistische Kinderliteratur zu schaffen, “beim Proletariat durchaus nicht die Berücksichtigung und Unterstützung gefunden haben, die sie verdienen. Die Verlagsinstitute der Partei haben von neuerlichen Versuchen in dieser Richtung abgesehen, nachdem sie die Erfahrung gemacht, daß unsere Literatur die Konkurrenz nicht bestand mit der ganz minderwertigen, billigen bürgerlichen Kinderliteratur, die auf den Markt geworfen wird.“ (43) Auch innerhalb der Führung der Sozialdemokratie war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, welche Rolle sozialistische Kinderliteratur bei der Änderung der bestehenden Verhältnisse haben könne. Das “Bilderbuch für große und kleine Kinder“ erschien 1893 als eines der ersten Bücher der Sozialdemokraten im Partei-Verlag Dietz, Stuttgart. “Es enthielt Gedichte, Märchen und Erzählungen, die zum einen dem “bürgerlichen Erbe“ entstammten, zum anderen jedoch Soziales und Historisches vom Standpunkt des Sozialismus aus vermitteln wollten . . . ein starker sozialsentimaler Zug herrschte vor, das politische Ideal ist die Versöhnung der Klassen und der Sozialismus erscheint als die selige Endzeit, die dereinst kommen wird.“ (44) Im Gegensatz zur bürgerlichen Kinderliteratur war jedoch in diesem Buch die Rede von Sozialem und Politischem, “Arm und Reich, von der Gemeinheit der Mächtigen, von der Brüderlichkeit der Unterdrückten, von einem besseren Leben.“ (45) Insgesamt typisch für die Haltung des Sozialdemokraten ist die Erwiderung von Karl Kautskys auf Besprechung dieses Kinderbuches in der “Neuen Zeit“. Kautsky erkannte zwar das Bedürfnis der Arbeiter nach einer geeigneten Lektüre für ihre Kinder an, aber einer spezifisch sozialistischen Jugendliteratur stand er insgesamt ablehnend gegen-über. Dieter Richter faßt diese Haltung der Parteiführung in folgenden Punkten zusammen:
“1. Jugendliteratur habe frei zu sein von politischenInhalten, auch sozialistischen. 2. Jugendliteratur sei kein Mittel politischer Agitation. 3. Das kämpfende Proletariat sei notwendigerweise kulturell unproduktiv. 4. Das Proletariat habe auch auf dem Gebiet der Jugendliteratur das – gereinigte – kulturelle Erbe der Bourgeoisie anzutreten.“ (46) Die Auffassung der sozialdemokratischen Führung, pädagogische Fragen mußten im Grunde nach der (mittels Stimmzetteln erhofften) Machtübernahme des preußischen Staates durch die Arbeiterpartei in Angriff genommen werden, sollte sich spätestens bei Kriegsausbruch als gefährliche Fehleinschätzung herausstellen. Dennoch hat es nicht an Versuchen gefehlt, diese Haltung der Sozialdemokraten, die da mit dem Klassengegner das Feld der Kinder- und Jugendbuchproduktion überließ, zu verändern. Die regelmäßig niedergestimmten Anträge, insbesondere von Karl Liebknecht, zielten darauf hin, “die Partei zur Entfaltung einer breiten, anti-militaristischen Propaganda unter der Jugend zu veranlassen.“ (47) 1912 kam es beim Erscheinen des Jugendbuches “Das Menschenschlachthaus“ von Wilhelm Lamszus, Mitglied der SPD, zu einem politischen Skandal. Das Jugendbuch, das den Untertitel trägt, “Bilder vom kommen-den Krieg“, war das erste deutsche Antikriegsbuch. Auf 111 Seiten schildert Lamszus Fronterlebnisse des 1. Weltkrieges: Die Materialschlacht und das Massensterben.“Das Erschütternde an diesem Kriegsbericht ist, das er von einem Krieg berichtet, der noch gar nicht stattgefunden hat – der aber zwei Jahre später stattfinden sollte.“ (48) Wilhelm Lamszus wurde wegen dieses Buches von der Hamburger Oberschulbehörde als Volksschullehrer beurlaubt. Die Verteidiger des Buches argumentierten gegen die entfesselte öffentliche Anti-Lamszus-Kampagne merkwürdig defensiv:
“1. Das Buch ist keine Tendenzschrift, sondern ein literarisches Kunstwerk und als solches zu dulden. 2. Lamszus habe dieses Buch nicht in seiner Eigenschaft als Lehrer, sondern als Schriftsteller geschrieben. 3. Selbstverständlich werde auch ein Mann wie Lamszus im Zweifelsfall seiner “vaterländischen Pflicht“ genügen und zu den Waffen greifen.“ (49) Erst in den 20iger Jahren kam es zu einer bewußten Gestaltung sozialistischer Kinderliteratur, unter anderem durch Alex Wedding (Pseudonym von Grete Weiskopf / Margarete Bernheim) mit dem Buch “Ede und Unku“ ein Jugendroman; Hermynia zur Mühlen, die neue Kindermärchen schrieb (Was Peterchens Freunde erzählen, 1921; Es war einmal und es wird sein, 1930). Im Jahre 1924 wurde Hermynia zur Mühlen wegen Hochverrats angeklagt, weil sie mit ihrer Erzählung “Schupoman Karl Müller“, die Moral der Polizei untergraben haben soll. (1926 wurde sie freigesprochen). Auch die Kinderfreunde Bewegung, in der Andreas Gayk mitarbeitete, gab in den 20iger Jahren Bücher heraus. Anhand des Buches “Lesebuch der Republik“ von Oskar Hübner wurde erst in den Jahren 1922/23 eine intensive Auseinandersetzung mit den antidemokratischen und antiproletarischen Inhalten der Schulbücher von der Arbeiterbewegung geführt. Zusammenfassend ist zu sagen, daß sich innerhalb der Arbeiterbewegung allmählich die Erkenntnis durchsetzte, daß Erziehung politisch sei, und das die Medienproduktion bestimmten politischen Interessen unterliegt.
7. Zusammenfassende Betrachtung
Betrachtet man nach dem vorliegenden Material die Preise der Bücher, Freizeitprobleme der Arbeiterkinder und Lebensverhältnisse und die davon abhängige Beeinträchtigung der Verbreitung des Kinderbuches bei Arbeiterkindern, so kommt man zu folgender Überlegung: Die Verbreitung bestimmter Bücher bei Kindern hing mit verschiedenen Faktoren untrennbar zusammen. Hauptfaktor war der Preis des Buches und die zur Verfügung stehende Geldmenge einer Familie für solch eine “Kulturausgabe“. So kostete beispielsweise der Struwwelpeter 59 Kreuzer (Erstauflage), damit machte der Preis dieses Buches 25% des Wochenverdienstes einer Arbeiterfamlie aus. Da einer Familie vom Wochenlohn, abzüglich Miete, Abgaben, Lebensmittel, Licht und Feuerung noch 16 Kreuzer wöchentlich für sonstige Ausgaben blieben, durfte eine Familie sich für vier Wochen keine anderen Ausgaben leisten, um z.B. den Struwwelpeter kaufen zu können. (50). Zweiter sehr wichtiger Faktor ist gerade angesichts hoher Kinderarbeitszahlen (Siehe 2.2.) die zur Verfügung stehende Freizeit und Aufnahmefähigkeit des Kindes. Beide Faktoren müssen für das Arbeiterkind so beantwortet werden, daß weder genügend Geld, noch genügend Zeit zur Verfügung stand, die Kinderbücher des 19. Jahrhunderts zu rezipieren. Eine weitere Beeinträchtigung in der Kinderbuchrezeption erfuhr das Arbeiterkind durch die sich zum Ende des 19. Jahrhunderts verschlechternden Wohnverhältnisse der Arbeiterfamilien (wie in 2.3. dargestellt). Es waren noch 2 weitere Faktoren, die eine Verbreitung des Kinderbuches verhinderten: einerseits die Erkenntnis der besitzenden Klassen, daß eine breite Volksbildung ihre Macht gefährden könne. Dies ist aus folgendem ersichtlich: Die Arbeiterklasse dieser Zeit glaubte weitgehend, daß sie mit Büchern und Bildung ihre aussichtslose, schlechte Lage nicht ändern könne. In diesem Zusammenhang ist die Aussage von H. Mehner von 1887 über eine Leipziger Arbeiterfamilie interessant, in der er beschreibt, daß ausschließlich billige Monatsschriften und Kolportageromane die Lektüre einer Familie bildeten, wo der Mann als Knochenstampfer in einer Dünge-mittelfabrik arbeitete und die Frau in der gleichen Fabrik als Knochensortiererin. Befragt, warum sie diese Lektüre bevorzugen, antworteten sie: “Fortkommen thut man nicht und eine Unterhaltung muß man haben.“ (51). Erst mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung und der Gründung von Arbeiterbildungsvereinigungen setzte sich die Losung von Wilhelm Liebknecht durch: Wissen ist Macht. (Nicht zu verwechseln mit Wissen ist Nacht). Die besitzenden Klassen dieser Zeit sind aber an einer allgemeinen Bildung der Arbeiterklasse nur insoweit interessiert (wie in 2.4. dargestellt), als es um die Qualifikation der Arbeitskraft geht. So ist F. Schaubach 186 der Meinung, “es werde zu viel gelesen; doch tröstet der Gedanke, daß wenigstens das Proletariat, ermüdet von Arbeit und Schnaps, keine Lesebedürfnisse hat: auf der untersten Stufe der Leser steht die Classe der Besitzlosen, allerdings nicht das eigentliche Proletariat der Städte, denn dieses findet nach der anstrengenden Handarbeit des Tages seine Erholung im Schlaf, seinen Genuß in Kartoffeln und Branntwein, und ist darum so ziemlich der einzige Theil der Bevölkerung, welcher nicht nach Büchern verlangt . . .“ (52) Da die Eltern der Arbeiterkinder jener Zeit, wenn sie lasen, sich wohl fast ausschließlich mit Kolportageliteratur befaßten, nehme ich an, daß die Arbeiterkinder, wenn sie nicht diese Literatur ihrer Eltern mit rezipierten, keine Möglichkeit und Unterstützung fanden, andere Literatur zu lesen. Habe ich bis jetzt Faktoren genannt, die einer Verbreitung der Kinderliteratur hinderlich waren, so möchte ich jetzt Gründe nennen, die sie förderten: Mit der langsamen Entwicklung des Bildungssystems, die aufgrund gestiegener Qualifikationsanforderung an das Industrieproletariat erfolgte, der ent-stehenden Selbstorganisation der Arbeiterschaft in Parteien und Gewerkschaften und der damit einhergehenden Gründung von Arbeiterbibliotheken und Publikationen, verbesserte sich das Angebot und die Nachfrage geeigneter Literatur für Arbeiterkinder. Der zweite Faktor für eventuell vermehrte Kinderbuchrezeption ist der Rückgang der Kinderarbeit, der mehr Freizeit für Arbeiterkinder bedeutete. Dieser Rückgang folgte aus ökonomischer Ver-änderung und politischem Druck von sozialdemokratischen Frauenverbände am Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Schwierigkeit meiner Arbeit war es, das sich die traditionelle Kinderbuchforschung aufs “gute“ bürgerliche Kinderbuch fixiert und kaum in der Lage ist, das Kinderbuchangebot schichtspezifisch zu untersuchen. Weder die Publikationen des “fleißigen“ Institutes für Jugendbuchforschung an der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt, noch Horst Kunze, Bettina Hürlimann oder Irene Dyhrenfurth-Graebsch unternehmen den Versuch, eine Beziehung zwischen Kinderbuch und gesellschaftlicher Realität zu finden. Wie weit sich deren “kunstbetrachtende“ Geschichtsschreibung des Kinderbuches von der gesellschaftlichen Realität entfernt, sei an der Erstauflage des Struwwlpeters und seines Preises (25% des Wochenlohnes eines Arbeiters) noch einmal bei Irene Dyhrenfurth-Graebsch gezeigt: Ihre Aussage zum Preis: “Hoffmann hatte richtig gerechnet, daß jedermann sagen würde: Das kostet ja nicht einmal einen Gulden.“ (Anm.: wie viel war das für einen Arbeiter!) Man kommt daher unschwer zu der Annahme, daß das Arbeiterkind den Struwwelpeter nur durch die Fertigung (Kolorieren durch Schablonen) kennengelernt hat, nicht jedoch durch eigenes Lesen. (53) Versucht man Inhalt und Darstellungsform des Kinderbuches am Ende des 19. Jahrhunderts mit der sozialen Realität des Arbeiterkindes in Beziehung zu setzen, so kann man davon ausgehen, daß besonders das Kind des Industriearbeiters kaum Identifikationsmöglichkeiten mit den Inhalten und Formen des Kinderbuches gehabt hat. Arbeiterkinder träumen nicht “von großen schneeweißen Schimmeln, die sie auf Flügeln über die schlafende, stille Stadt tragen,“ sondern“ von einem Paar neuer Stiefel.“ (54). Dabei zu berücksichtigen ist noch, daß das Arbeiterkind viel stärker mit den Bedingungen der industriellen Produktion und dem Lebensunterhalt der Arbeiterfamilien verbunden war, als beispielsweise im folgenden Jahrhundert. Die Ideologie der “heilen Kinderwelt“ im Kinderbuch, als Produkt der bürgerlichen Gesellschaft, konfrontiert mit den materiellen Lebensbedingungen der Arbeiterkinder, ist geradezu ein Hohn. “Nicht vom ‚Elend der Jugendliteratur‘ war da primär zu reden, sondern vom Elend der Jugend, insbesondere vom Elend der Arbeiterkinder (Brecht: Wollen sie behaupten, daß unsere Jugend etwa der Buffalo-Bill-Hefte wegen verelendet?) (55). So entsprachen Inhalt und Form der Kinderbücher nicht dem Lebensmilieu der Arbeiterkinder. Wie in 4.2. dargestellt, änderte sich das Märchen der unteren Volksschichten mit dem Zugriff durch das Bürgertum. Während Märchen früher in der mündlichen Weitergabe Ausdruck und Hoffnung unterer Volksschichten gewesen waren und sich ständig nach den Bedürfnissen der armen Leute veränderten, wurden durch die schriftliche Fixierung feststehende Begriffe, wie z. B. der dunkle Wald und der böse Wolf, zu Leerformeln, die nichts mehr mit der früheren Bedeutung zu tun hatten. Wie von der Literaturforschung z.B. festgestellt ist, lebten in dem “dunklen Wald“ die Räuber, die Aufständischen, diejenigen, die sich gegen die Obrigkeit des feudalen Staates zur Wehr setzten. Selbst in den Bearbeitungen der Gebrüder Grimm kann der Leser eine Reihe von Merkmalen einer feudalen Gesellschaft finden, aus der ihrer bearbeiteten Märchen schließlich stammten. In dem Märchen “Sechse kommen durch die ganze Welt“ gibt es einen Mann, der dem König brav und tapfer im Krieg dient und der, als der Krieg zu Ende ist, entlassen wird und einen lächerlichen Lohn (3 Heller Zehrgeld) für seine Dienste bekommt. Dieser Mann ist zu Recht wütend über die schlechte Behandlung durch den König und spricht:“Das laß ich mir nicht gefallen, finde ich die rechten Leute, so soll mir der König noch die Schätze des ganzen Landes herausgeben.“(56). Dieser Mann geht zielstrebig an den einzigen Ort, wo er die die richtigen Leute finden könnte: in den Wald. Das Kind, dem das Märchen vorgelesen wird, kann aber mit dem Begriff Wald z.B. nur eine Naturlandschaft verbinden, und nicht seine ursprüngliche Bedeutung erfassen. Obwohl diese Märchen mit ihren verschiedenen Symbolen vom Arbeiterkind kaum richtig verstanden werden konnten, fürchteten sich die herrschenden Klassen vor einer großen Entfaltung der Phantasie der Arbeiterkinder. “Die Märchenwelt, sowie alles ausser dem gewöhnlichen Lebenskreis liegende, muß den Kindern der Armen verschlossen bleiben; sie dürfen sich nicht nach wohltätigen Feen sehnen, nicht nach den Gaben eines Zauberstabs, nicht nach Gold- und Silberpalästen . . . Sie sind auf ihre eigenen Kräfte angewiesen, und was ihnen als vollkommene Glückseligkeit vorgespiegelt wird, muß nicht über die Glücksgüter hinausgehen, die sie sich erwerben können. Man nenne ihnen die warme Kleidung statt des Putzes, das Stück Fleisch statt Leckerbissen . . . Man hüte sich, in den Kinderherzen Wünsche zu erwecken, die das Leben nicht gewähren kann, in der Kinderbrust ein Sehnen einzupflanzen, welche sie mit den gegebenen Verhältnissen unzufrieden macht.“ (57). Diese Anweisung über die in “Kinderbewahranstalten“ zu verwendenden Lesestoffe aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts läßt den Standpunkt derer erkennen, die kein Interesse daran hatten, diesen Zustand überhaupt zu ändern. Sie sahen den Zusammenhang von Unterdrückung und Phantasie einerseits und Phantasie und Veränderungswunsch und erkannten, daß das “Sehnen in der Kinderbrust“ unzufrieden machen könnte mit den gegenwärtigen Verhältnissen. Mit der Rolle der Phantasie in der Literatur, besonders mit ihrer Rolle in der sogenannten “Trivialliteratur“ setzten sich bisher nur wenige Publikationen auseinander. Abgesehen von bürgerlichen Kinderbuchspezialisten, die schon seit der Reformpädagogik Phantasie als Wert an sich lobten und in Bereiche des Irrationalismus, des Harmlosen, Naiven, Ungefährlichen, “Kindlichen“ abdrängten, fand ich nun eine Schrift aus neuerer Zeit, die sich kritisch mit der Rolle der Phantasie auseinandersetzt. (Dieter Richter, Johannes Merkel, Märchen, Phantasie und soziales Lernen). Horst Kunze verweist auf ein Buch von Johann Wilhem Appell, der sich schon im 19. Jahrhundert mit der Phantasie der Trivialliteratur beschäftigte. In seinem Buch, “Die Ritter-Räuber-und Schauerromantik“, Leipzig 1859, begründet er, warum diese “Trivialliteratur“ sich einer ungeheuren Popularität erfreut: “Ihr utopischer, ihr antiklerikaler und nicht zuletzt ihr politisch-oppositioneller Zug,“ seien dafür notwendige Voraussetzungen gewesen. “Der Drang zur Auflehnung gegen das verrottete Leben an den deutschen Höfen und Höfchen, gegen Kabinettsjustiz, Beamtendruck, fürstliche Blutsaugerei . . . (ist) in dieser Literatur überall spürbar.“ (58). Auch in späterer Zeit waren diese vom Volk geliebten Bücher und Heftchen kaum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung, die Literatur-forschung ordnete sie kurzerhand als Schmutz und Schund ein. Die Rolle dieser Trivialliteratur im Leben der Arbeiterkinder wird bei den von mir gelesenen Autoren nie erörtert.Von den Künstlern oder Schrifstellern der Kinderbücher des 19. Jahrhunderts ist mit einiger Sicherheit zu behaupten, daß sie unbewußt Arbeiterkinder mit ihrer Literatur von vorneherein ausschlossen, und ebenso die Welt aus einer Sicht darstellten, die dem Standpunkt und der Machtstellung des Bürgertums entsprachen.
Anmerkungen:
(1) Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1880 bis in die Gegenwart. Seite 103
(2) Jürgen Kuczynski, s.o. Seite 107
(3) Jürgen Kuczynski, Studien zur Geschichte der Lage des arbeitenden Kindes in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart. Seite 103
(4) Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1800 bis in die Gegenwart. Seite 20
(5) Jürgen Kuczynski, Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1900 bis 1917/18 Seite 311.
(6) Lutz von Werder, Sozialistische Erziehung in Deutschland von 1848 – 1973, Seite 45
(7) G. Heinsohn, Vorschulerziehung in der bürgerlichen Gesellschaft, Seite 45
(8) nach Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1800 bis in die Gegenwart, Seite 103
(9) Klaus Neukrantz, Barrikaden am Wedding, Internationaler Arbeiter Verlag Berlin 1931, zitiert nach dem Nachdruck vom Dezember 1970, Oberbaum Verlag Berlin, Seite 8
(10) Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1800 bis in die Gegenwart, Seite 221
(11) H. Bartel, Geschichte 8, Seite 106
(12) H. G. Helms, Zur politischen Ökonomie des Transportwesens, In Architektur und Städtebau im 20. Jahrhundert (Hrsg. J. Petsch), Seite 80
(13) K.H. Günther, Geschichte der Erziehung, Seite 236
(14) O. Uhlig, Die Volksschule, Seite 366
(16) H. Schulz zitiert nach Lutz von Werder, s.o., Seite 34
(17) Lutz von Werder, s.so. Seite 37
(18) Lutz von Werder, s.o. Seite 69
(19) K. H. Günther, Quellen zur Geschichte der Erziehung, Seite 269
(20) H. Kunze, Schatzbehalter, Seite 90
(21) H. Kunze, s.o., Seite 89
(22) H. Kunze, s.o., Seite 90
(23) H. Kunze, s.o., Seite 92
(24) R. Schenda, Volk ohne Buch, Seite 267
(25) H. Kunze, s.o., Seite 32
(26) R. Schenda, s.o., Seite 473
(27) (Das Zitat stammt aus einem Brief Heinrich Heines aus Paris an Karl August Varnhagen von Ense vom 3. Januar 1845. Heinrich Heine schreibt über Lassalle:
“ . . . Herr Lassalle ist nun einmal so ein ausgezeichneter Sohn der neuen Zeit, der nichts von jener Entsagung und Bescheidenheit wissen will, womit wir uns mehr oder minder in unserer Zeit hindurchgelungert und hindurchgefaselt. Dieses neue Geschlecht will genießen und sich geltend machen im Sichtbaren; wir, die Alten, beugten uns demüthig vor dem Unsichtbaren, fischten nach Schattenküssen und blauen Blumengerüchen, entsagten und flennten und waren doch vielleicht glücklicher, als jene harten Gladiatoren, die so stolz dem Kampftode entgegengehen. Das tausendjährige Reich der Romantik hat ein Ende und ich selbst war sein letzter und abgedankter Fabelkönig. Hätte ich nicht die Krone vom Haupte fortgeschmissen, sie hätten mich richtig geköpft . . . “)
(28) K. H. Günther, Geschichte der Erziehung, Seite 423.
(29) H. Wolgast,Das Elend unserer Jugendliteratur, Seite 22 + 25
(30) D. Richter, Das politische Kinderbuch, Seite 30
(31) R. Schenda, s. o., Seite 272
(32) H. Kunze, s.o., Seite 274
(33) I. Dyhrenfurth-Graebsch, Geschichte des deutschen Jugendbuches, Seite 145
(34) Gebrüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Kassel 1819, Vorwort
(35) D. Richter, J. Merkel, Märchen, Phantasie und soziales Lernen, Seite 70
(36) D. Richter, J. Merkel, s.o., Seite 115
(37) J. Merkel, Die heimlichen Erzieher (D. Richter Hrsg.) Seite 65
(38) D. Richter, J. Merkel, s.o., Seite 63
(39) Elke und Jochen Vogt, Und höre nur wie bös er war, Seite 11, in: Die heimlichen Erzieher (Hrsg. D. Richter)
(40) Elke und Jochen Vogt, Und höre nur wie bös er war, Seite 17 in: Die heimlichen Erzieher (Hrsg. D. Richter)
(41) H. Kunze, s.o., Seite 347
(42) H. Kunze, s.o., Seite 347, nach Gustav Hennig, zehn Jahre Bibliotheksarbeit, Geschichte einer Arbeiterbibliothek, Leipzig 1908
(43) C. Zetkin, zit. nach D. Richter, Das politische Kinderbuch, Seite 75
(44) D. Richter, Das politische Kinderbuch, Seite 28
(45) D. Richter, s. o., Seite 28
(46) D. Richter, s. o., Seite 28
(47) D. Richter, s. o., Seite 31
(48) D. Richter, s. o., Seite 33
(49) D. Richter, s. o., Seite 34
(50) Lebenshaltungskosten, errechnet nach Jürgen Kuczynski, Studien zur Geschichte der Lage des arbeitenden Kindes in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart, Seite 117
(51) H. Mehner, Der Haushalt und die Lebenshaltung, Leipzig 1887, zit. nach R. Schenda, Volk ohne Buch, Seite 448
(52) F. Schaubach, Zur Charakteristik der heutigen Volksliteratur, Hamburg 1863, zit. nach R. Schenda, Volk ohne Buch, Seite 448
(53) Fertigung des Struwwelpeters, nachzulesen bei I. Dyhrenfurth-Graebsch, Geschichte des deutschen Jugendbuches, Seite 146
(54) K. Neukrantz, s.o., Seite 8
(55) D. Richter, Die heimlichen Erzieher, Seite 36
(56) Märchen der Gebrüder Grimm, Th. Knauer, Seite 261
(57) G. Heinsohn, s.o., Seite 48
(58) J.W. Appell, zit. nach H. Kunze, Schatzbehalter, Seite 33