











































INFOBugDeutschesPatentamt3Seiten
Abschrift (erschienen am 5. Januar 1976 im INFO BUG (INFO BERLINER UNDOGMATISCHE GRUPPEN) ) Nr. 88 und 89 Seite 7 und Seite 17. Überschrift in Faksimile: Der Präsident des Deutschen Patentamts. Daneben die Postanschrift (Ebenfalls im Faksimile: 1000 Berlin 61, den . . . . 1976. . . . Postanschrift: Deutsches Patentamt. Dienststelle Berlin. 1000 Berlin 61. Gitschiner Str. 97 – 103. Fernruf (030) 25 80 61 App. …. Fernschreiber 01836 04
ARBEITSDIENST (modern)
Arbeitslose sind schlecht dran. Wer zudem noch von einer Fach- oder Hochschule kommt und ins ABM-Programm (ABM = Arbeits Beschaffungs Maßnahmen), wie sie es schüchtern nennen (es gab mal einen, der nannte es Arbeitsdienst und baute damit die vielgerühmten Autobahnen), der kann nicht mal mehr richtig weinen. Ich jedenfalls bin jetzt „eingegliedert“ in den Arbeitsprozeß. Das sieht dann folgendermaßen aus: Zunächst ein Vortrag auf dem Arbeitsamt: »Man sei ja nun schon bald ein halbes Jahr arbeitslos, wie man sich das denn denke?« Ich sage: »Ich denke – daß man mir doch eine Arbeit vermitteln solle, draußen steht ja schließlich als Beruf „Arbeitsvermittler“ dran«. »Die Arbeit, die sie suchen, die gibts nicht« Welchen Beruf ich denn stattdessen ausführen wolle? »Schließlich könnte ich doch nicht immer von der Bundesanstalt für Arbeit leben«, »Wieso«, sage ich, »sie leben ja auch davon«. (Kleine Anmerkung von 2021. Der Arbeitsvermittler bei der »ZBF Agentur« in Berlin Steglitz hatte den Namen, ich schwörs, Knebel)
Keine Antwort. Endlich hat er den Schuldigen an der Krise gefunden: Ich gebe zu, ich bin Schuld an den 1,2 Millionen Arbeitslosen. Als ich das endlich eingesehen habe, weiß der Vermittler auch gleich eine Lösung – : so keine Arbeit ist, muß welche beschafft werden. Herr Stingel (*) gibt schließlich nicht umsonst 600 Mio. aus, um am Jahresende den Aufschwung zu verkünden.
Ich kaufe mir eine Flasche Schnaps, ziehe meine schmutzigste Hose an – auch ein paar kaputte Schuhe habe ich noch – und stelle mich zwangsweise vor (andernfalls Sperre der Arbeitslosenhilfe für 4 Wochen). Es nützt alles nichts – der »Senator für Arbeit und Soziales« stellt mich ein. »Deutsches Patentamt« hat er für mich vorgesehen. (Und da lese ich immer in der Zeitung, das man erst überprüft wird, bevor der öffentliche Dienst jemand einstellt – Ich beschwere mich – so unpolitisch sei ich doch nun auch nicht, und Flugblätter habe ich auch schon unterzeichnet).
400 Personen sind auf dem Patentamt – 150 kommen jetzt noch per Arbeitsdienst dazu. Als ich ankomme, sitzen schon 50 beim Personalchef im Büro. Höll heißt der Mensch, hat einen Bart und einen Kursus in der Psychologischen Betriebsführung absolviert. Obwohl er keine Arbeit zu vergeben hat, fragt er jeden, »was er denn bisher so gemacht habe« (einige fallen auch auf den Schwindel rein und bringen noch Zeugnisse mit) »und wo denn wohl der richtige Platz für ihn sei« -. Dann sagt er mit schöner Regelmäßigkeit immer das gleiche: »Kopierer, Keller, Sortieren, Ablegen von Akten«.
Anschließend erklärt er jedem, was denn in diesem Patentamt (auf den Schränken und Regalen leuchtet die Geschichte des Hauses – sie tragen teilweise noch die Hakenkreuze, oder auch die kaiserlichen Inschriften oder einfach Reichspatentamt) eigentlich gemacht wird. Nach einer Woche habe ich dann auch raus: für 50 Oberregierungsräte arbeiten 350 Leute zu, als ANG (Angestellter) oder als ABM (Arbeitsdienst) oder als ARB (Arbeiter). Wer länger hier ist, wird verrückt. Man sie das an denen, die länger hier sind. (Fortsetzung folgt)
(*) Stingel = Er nannte sich damals Präsident dieser Behörde. Handschriftliche Anmerkung des INFO BUG Layouters: aber bitte mit 1-zeiligem Abstand – Papier ist immer noch teuer.
Vermutlich hatte ich meinen Artikel mit 1,5 zeiligen Abstand geschrieben, was dazu geführt hat, dass mein Artikel vor der Veröffentlichung noch mal mit einzeiligem Abstand abgeschrieben werden mußte. Ebenfalls der zweite Teil, der eine Woche später in Nummer 89 auf Seite 17 veröffentlicht wurde. Mit einer Überschrift (Schablone 75 Grad Normschrift, wie sie auch in den Berichtsheften der Maschinenschlosserlehrlinge (Auszubildende hiessen sie erst später) zum Einsatz kam).
A R B E I T S D I E N S T Deutsches Patentamt Dienstelle Berlin 2. Teil
Holz arbeitet ! »Sie sind ja noch jung, vielleicht, wenn sie sich bewähren, werden sie dort auch fest angestellt«. so der Vermittler auf dem Arbeitsamt (Knebel). Kein Interesse bei mir, kein Wunder, die meisten fangen an zu trinken, es gab mal einen, den haben sie jeden morgen nach Frühstück schon über den Platz in der Auslegehalle tragen müssen. Aber die fliegen dann doch raus. Es gibt eine Versammlung- alle Arbeitsdienstleute werden zusammengerufen, ein Vertrauensmann scheidet, ein anderer soll nachrücken. Der Präsident (Des Deutschen Patentamtes) erstattet Bericht. Die Fülle der anstehenden Aufgaben, die Haushaltbeschränkungen – jeder kann ihm seine Sorgen vortragen, ein richtiger Vater. Da gibt es einige Schonbaldrentner, die haben welche, sie sollen rausfliegen, 15 an der Zahl, ja wenn er das rechtzeitig gewußt hätte – aber jetzt – »man hat mich hintergangen« -. Wie das mit der Festanstellung älterer „EINSATZ“ Leute aussieht, ja eine Lohnempfängerstelle wird demnächst frei, kein Interesse bei den ABM-Gehaltsempfängern.

Ein scheidender Vertrauensarzt ist Jemandem in den Arsch gekrochen: die Belohnung: gleich zu Anfang Gruppe D das sind 200,– DM mehr als andere bekommen. Eine Dokumentation hat jeder vor sich liegen. Es gibt Leute, die sprechen öffentlich von Schiebung. Er rechtfertigt sich, wenn man eben so gut sei wie er, einen so wichtigen Posten hier beim Patentamt verantwortlich ausfülle, dann könne man auch Gruppe D erreichen. Innerhalb von 10 Minuten erklärt er der Versammlung, was für ein tüchtiger Mensch er sei. Unausgesprochen greift er die anderen damit an – sodaß seine Lobrede von vielen Zwischenrufen unterbrochen wird. Die meisten betrachten das jetzt als Theaterstück und nicht mal so sehr gutes, der Ersatzmann fehlt immer noch kurz vor Feierabend, also wird schnell gewählt – die Kandidaten sagen nicht viel mehr als Alter, Familienstand – niemand kennt niemand. Und der Präsident lacht, jetzt sind die 15 armen Schweine, die sie vorzeitig (vor neuer Arbeitslosengeldberechtigung) rausgeschmissen (natürlich ohne wissen des Präsidenten) haben, denkt niemand mehr. Mein Nebenmann flüstert mir ins Ohr, wenn es so viele Baldrentner gibt, die das hier machen wollen, warum zwingt man denn uns in dieses Idiotenaktenhaus. Ja,. warum eigentlich? – Bis bald Ihr Diplomsoziologen!! Anonym (weil 1976) Endlich kann ich mich outen. Aber ich lasse es. Der späte Ruhm bekommt mir nicht. Stinki Müller.




«Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden». (Kurt Tucholsky, Seite 833, Dritter Band der Gesamtausgabe)
PDF Tucholsky So verschieden ist es
SO VERSCHIEDEN IST ES IM MENSCHLICHEN LEBEN!
Neulich habe ich alte Jahrgänge des <Brenner> gelesen, einer Zeitschrift, die in Innsbruck erschienen ist und wohl noch erscheint . . . Das war eine merkwürdige Lektüre.
Es gibt eine Menge verhinderter Katholiken, meist sind es Juden, denen ist die katholische Kirche nicht katholisch genug, oder sie erscheint ihnen überhaupt nicht als katholisch. Ich mag mich nicht gern mit der Kirche auseinandersetzen; es hat ja keinen Sinn, mit einer Anschauungsweise zu diskutieren, die sich strafrechtlich hat schützen lassen.
Mit so unhonorigen Gegnern trete ich nicht gern an. Was aber jene verhinderten Katholiken angeht, die es gern sein möchten, es aber nicht sein können und die darunter leiden, wie nur ein Mensch leiden kann: es sind das nicht nur die forschen Konvertiten, die da toben. Es ist noch etwas andres.
Da ist eine ganze Literaturgattung, die schlägt der Welt ununterbrochen das <Neue Testament> auf den Kopf und wundert sich, daß es nicht gut klingt. Das höchste Pathos blüht hier; kaum einer kann gewaltigere Töne finden als der, der aufzeigt: Siehe, die Welt lebt nicht, wie Christus es gelehrt hat. Es gibt nur noch ein Pathos, das höher ist: das ist das Pathos über Christus hinweg.
Im <Brenner> nun, dessen Sauberkeit, Tapferkeit und Reinheit nicht bezweifelt werden kann, gehts hoch her. Und dabei ist mir etwas aufgefallen.
Da ist zum Beispiel Theodor Haecker, ein Schriftsteller von beachtlichem Format, wenn man nicht genau hinsieht. Wenn man aber genauer hinsieht, dann zeigt sich unter dem Lärm der donnernden Moralpauken ein kleiner Mann, der es dem Hermann Bahr aber ordentlich gibt, und, auf einmal, Hosianna, Amen und Ite missa est, sind wir mitten im fröhlichen Gezänk eines Literaturcafés. Frommer Schwannecke. Es scheint, als ob diese Sorte Literaten sich erst religiös sichern müssen, bevor sie loshacken.
Sie haben nie begriffen, daß es christlich, mehr: daß es philosophisch wäre, zu schweigen und vorüberzugehn. Ja, wenn ein Gläubiger aufschreit und dem Wahnwitz der Welt einen Spiegel entgegenhält, von dem jene nachher sagt, es sei ein Zerrspiegel, weil sie nicht glauben kann, daß sie so gemein aussähe! Wer dieses aber allmonatlich, regelmäßig und mit hitziger Wonne tut: der ist kein Christ, und wenn er zehnmal den ganzen Kierkegaard übersetzt hat. Der ist genau dasselbe wie Hermann Bahr, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.
Und schließlich ist psychopathische Lebensuntüchtigkeit noch kein Christentum, und <das Böse> ist kein Schimpfwort. Wenn einer mit seinem Leben und nun gar mit dem Leben nicht fertig wird, so wird solch ein Anblick dadurch nicht schöner, daß er sich auf die Bibel beruft.
Die geheime Wonne, dem andern aber ordentlich eins zu versetzen, wird hier durch Moralinsäure legalisiert und durch eine verfälschte Himmelssüßigkeit, die nach Sacharin schmeckt und durchaus von dieser Erde stammt. Das Ziel ist vielleicht gut; die Kämpfer sind es mitnichten. Und die Hälfte ihrer Religion besteht in der Verachtung der Ungläubigen; das hält warm und ist ein schönes seelisches Unterfutter.
Viel Rauch um diesen Brenner. Schade um die reine Flamme.
Der Zustand der gesamten menschlichen Moral läßt sich in zwei Sätzen zusammenfassen: We ought to. But we don’t.
Wenn Stefan Zweig einen erkälteten Magen hat –: schreibt er sich dann etwas auf die eigne Bauchbinde –?
Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden.
Scharfe Sozialkritiker sind in ihren Nicht-Vaterländern sehr beliebt, nur dürfen es grade keine Kommunisten sein.
Sonst aber hat es der Deutsche gern, wenn der Amerikaner die amerikanische Kultur demoliert; wir haben uns immer sehr für die Freiheit der andern interessiert.
Man kann jeden schreibenden Menschen bis ins Mark daran erkennen, wie er das Wort <ich> setzt. Manche sollten es lieber nicht setzen. Hitler setzt es. «Wenn ich in Deutschland spreche, so strömen mir die Menschen zu . . . » Der Ton ist vom Kaiser entlehnt, und das Ganze hat etwas Gespenstisches: denn dieses <ich> ist überhaupt nicht da. Den Mann gibt es gar nicht; er ist nur der Lärm, den er verursacht.
Die einen haben nichts zu essen und machen sich darüber Gedanken, das kann zur Erkenntnis ihrer Lage führen: und das ist dann Marxismus; die andern haben zu essen und machen sich keine Gedanken darüber: und das ist dann die offizielle Religion. So verschieden ist es im menschlichen Leben! (Peter Panter, Die Weltbühne, 14. April 1931, erste Buchveröffentlichung in LL=Lerne Lachen ohne zu weinen)
Die Suchmaschine übersetzt: We ought to. But we don’t. = Wir sollen. Aber wir tun es nicht. Wikipedia schreibt: Ite missa est = spätlatteinisch für Gehet hin, ihr seid gesandt, wörtlich geht, das ist die Entlassung bzw. Geht, sie ist gesandt. In der deutschsprachigen Fassung Gehet hin in Frieden, ist es der Entlassungsruf am Ende der heiligen Messe im römischen Ritus. Er wird vom Diakon oder Zelebranten gerufen, die Gläubigen antworten mit Deo gratias. Dank sei Gott, bzw. Dank sei Gott dem Herrn.
(Die beiden Sätze (Das Englische ist eine einfache, aber schwere Sprache. Es besteht aus lauter Fremdwörtern, die falsch ausgesprochen werden.) sind herausgerissen aus dem Text: So verschieden ist es im menschlichen Leben. Aus Kurt Tucholsky. Gesammelte Werke, Band III, 1929- 1932, Dünndruckausgabe, Seite 832-834. Zuerst erschienen unter dem Namen Peter Panter, Die Weltbühne, vom 14. April 1931.)
Was machen die Leute da oben eigentlich?
Motto: Der eigne Hund macht keinen Lärm – er bellt nur. (Alte Weisheit)
Donnerwetter, ist das ein Krach! Was ist das? (Achselzucken.) – «Das sind Lösers, die Leute, die über uns wohnen. Das ist jeden Abend so.» Und da sagt ihr nichts? – «Wir haben schon raufgeschickt: da ist nichts zu machen. Sie haben gesagt, unseretwegen können sie sich keinen Bodenbelag . . . Himmelkreuz, man glaubt reineweg, die kommen mit der Decke runter! Nu hör bloß mal an – der Kalk rieselt richtig . . . Ruhe! – Ruhe!»
Ja, Kuchen. Was machen die Leute da oben in ihrer Wohnung?
Sprechen wir nicht von den wildgewordenen Hausfrauen. Die Reinmache-Megären sind weniger zahlreich geworden; dafür sind auch die Wohnungen von vernünftigen Familien sauberer. Aber was stampfen, was klopfen, was rücken die Leute über uns?
Alles, was man nur mit einem einzigen Sinn wahrnehmen kann, wirkt merkwürdig; die andern vier Sinne liegen gespannt auf der Lauer, und das Gehirn ist gezwungen, aus der einen, unvollkommenen Wahrnehmung alles andere zu kombinieren. Und so kombinieren wir denn, nachdem das Ohr schmerzlich aufgenommen hat:
Lösers machen Manöver. Lösers räumen jeden Abend ihre Wohnung aus . . . sie hängen ihre sämtlichen Einrichtungsgegenstände zum Fenster hinaus, räumen sie wieder ein . . . Nein, sie rollen zwei kleine Kanonenkugeln, Andenken aus dem Weltkriege, fröhlichen Gemütes durch die Korridore. Sie spielen Zirkus: schlagen der Länge lang hin, stehen wieder auf, schlagen wieder hin . . . Sie haben einen Kraftmenschen engagiert, der – nu hör doch bloß mal einer an! – das Büfett aufhebt und probiert, ob es, wenn man es auf den Boden hinfallen läßt, federt – was machen diese Leute? Ruhe!
Ich will es dir genau sagen, was sie machen. Dasselbe wie du.
Sie gehen auf und ab. Sie rücken ein paarmal Möbelstücke hin und her, was deinem Ohr zweck- und sinnlos erscheint, was aber ganz vernünftig anmutet, wenn man bei ihnen oben ist. Sie lassen ihre Kinder tollen . . .
Zugegeben: es gibt rücksichtslose Wohnungsnarren. Es scheint, dass manche Leute ihrem am Tage im Geschäft unterdrückten Willen zu Hause Spielfreiheit geben – da toben sie sich aus. Es gibt ausdauernde Auf- und Abgeher, solche, die, vom Teufel der Ruhelosigkeit geplagt, durch die Wohnung jagen . . . es ist so viel unbefriedigtes Gefühl in dem, was sie so treiben . . . Ja, aber wo sollten sie das alles tun, wenn nicht zu Hause! Den Tag über ist ihr Leben mit lauter Schildern umgattert: DU DARFST NICHT! . . . VERBOTEN! . . . UNTERSAGT! – Einmal, ein einziges Mal will der Mensch das Überflüssige tun, das dem Leben erst die richtige Würze gibt. Und da toben sie sich denn aus.
Es ist ein Jammer. Was ist ein Jammer? Der Wohnungsbau ist ein Jammer. Denn da wir dem Idealzustand, wo jede Familie ihr Häuschen hat, noch sehr fern sind, ist die große Mehrzahl aller Leute in den Großstädten gezwungen, in Mietshäusern zu wohnen – sie sind schon so froh, wenn sie darin überhaupt eine Wohnung finden. Und was sind das für Häuser?
Was die Architekten machen, ist ziemlich klar. Sie bauen die neuen Häuser aus einer Mischung von kaltgewordener Zigarrenasche und gestoßenen Ziegeln. Jeder <Fachmann> wird hier aufbrausen und uns erklären, dass es so ist, dass es nicht so ist, warum es gar nicht anders sein kann . . . das müssen wir uns mit Gleichmut anhören. Genau so wie den Lärm über uns, unter uns, neben uns . . .
Es muß eine raffinierte Berechnungsmethode geben, nach der die Häuser grade noch stehenbleiben, wenn jemand das hohe C in ihnen singt. Es sind liebe Baulichkeiten: niest jemand im Keller, so kann man getrost auf dem Boden «Zur Gesundheit!» wünschen, und mit dieser Papparchitektur wird das immer schlimmer. Großstadthäuser aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wirken heute schon wie die alten Ritterburgen. Die neuen erzittern, wenn man sie nur ansieht, und wenn ein ungezogener Knabe in ihnen aufstampft, dann fallen die Hypotheken vom Dach. Was machen die Leute bloß da oben – ?
Eine Lärmsicherung gibt es nicht. Man hat Versuche mit Korkböden gemacht; die sind teuer, sie dämpfen den Schall wohl – aber sie ersticken ihn nicht ganz. Und so rumort es über den Köpfen hinweg, ganze Artillerieregimenter fahren auf und fahren wieder ab – was machen die Leute bloß?
Du mußt mit ihnen aufstehen und mit ihnen zu Bett gehen. Du lebst ein fremdes Leben mit. Stille, das kostbarste Gut, ist dir versagt. Und wenn sie selbst still sind, wenn sie dicke Teppiche haben, die Obermieter, wenn sie selbst – o seltener Fall! – aus Rücksicht für dich Hausschuhe tragen . . . dann ist da noch immer der schrecklichste der Schrecken.
vomiert «Huhu – huhu – haha – huhu – hiiiii –» Was ist das? Eine Lokomotive im Tunnel? Ach nein. Das ist Fräulein Lieschen Hasensprung, die sich im Gesang übt. Sie gleitet die Skalen gar oftmals hinauf und hinab; sie schleift die Töne im Hals, bis der Hals rauh und die Töne glatt sind, und wenn sie nicht singt, dann spielt sie Klavier. Das Klavier klingt, wie wenn man Wurstpellen auf eine Sardinenbüchse gespannt hat, das Spiel schmeckt nach Wurst und nach Sardinen. Und das geht den ganzen Tag – stunden – – stundenlang . . .
Und wenn sie nicht Klavier spielt, dann vomiert (*) der Lautsprecher, damit die andern Leute auch eine Freude haben. Krach muß sein, sonst macht das ganze Leben keinen Spaß.
Aber – aber – was machen sie bloß da oben? Rollen die ihren Ofen durch die Zimmer? Vielleicht haben sie dem Schreibtisch Punkte aufgemalt, und nun würfeln sie damit . . Oder die lieben Kinderchen spielen ein gemütliches Spiel, wie das Kinder so tun: <Schweineschlachten in Oberbayern> oder <Chaplin und die Flöhe>. Horch – welch ein Skandal! Unser Kronleuchter zittert und klingelt mit dem Glas. Man fühlt ordentlich den Boden schwanken. Alles in mir zittert. So –
So geht das nicht mehr weiter. Jetzt schreibe ich drei Briefe: einen an die Polizei, einen an den Hausverwalter und einen an die rücksichtslosen Mieter. Ich will mir nur noch den Tisch hierher rücken, die Lampen dahin, so – und den Stuhl hierhin, und noch den kleinen Rauchtisch daneben – so – und dann gehts los.
Und unter mir denkt sich einer: «Was macht dieser Panter da oben eigentlich?»
Er schreibt drei Briefe. Gegen den Lärm. Erstveröffentlichung unter dem Namen Peter Panter in Der Uhu, Das neue Monatsmagazin, Verlag Ullstein, Juni1930, Heft Nr. 9, Seite 89, zitiert nach Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke in drei Bänden, Dünndruckausgabe, Band III, Seite 459 – 461. (*) vomieren. Nein das Wort hat sich Tucholsky nicht ausgedacht, es ist sogar in meinem VEB Duden von 1984 abgedruckt und steht: Vomieren = sich erbrechen. Na sowas.


Kurt Tucholsky Die deutsche Pest
«Es ist aber merkwürdig, wie leicht und glatt dieselben <korrekten> Historiker und Publizisten, welche das ganze Zeter-Alphabet und Flüchewörterbuch erschöpfen, um den rot-republikanischen Schrecken zu verdonnern, über die Abscheulichkeiten und Gräßlichkeiten hinwegschlüpfen, welche der weiß-royalistische Schrecken von 1794–95 in Szene gesetzt hat. Natürlich übrigens! Für Thron und Altar ist ja alles erlaubt. Mag jedoch der Grundsatz mit so schamloser Offenheit gepredigt und geübt werden, wie in unsrer niederträchtigen Zeit geschieht, immerhin gibt es noch einen über die trübe Sphäre der Knechtseligkeit, über die wüste Region zügelloser Parteileidenschaft hocherhabenen Standpunkt der Sittlichkeit, von welchem herab die echte und rechte Seherin Historia den Wahrspruch tut –: Die roten Schreckensmänner handelten sittlicher als die weißen, denn jene standen in Bann und Zwang einer großen Idee, während diese nur von der gemeinsten Selbstsucht getrieben wurden.» Johannes Scherr: <Menschliche Tragikomödie>
Die Schande des neuen Republikschutz-Gesetzes, das noch den kleinsten Schreiber, wenn er nur pensionsberechtigt ist, zu einer Rechtsperson höheren Grades erhebt und die unbequemen Links-Oppositionellen rechtlos läßt, wird Wahrheit werden. Die Stagnation der öffentlichen Moral ist vollkommen; kaum ein Windhauch geht über diese scheinbar so bewegte Fläche. Deutschland ist ein lautes Land – aber die Massen treten an Ort. Was das neue Gesetz uns bieten wird, geht aus der jetzigen Lage klar hervor. So instinktlos diese Republik ist, die sich noch niemals gegen ihre wirklichen und gefährlichen Gegner zu schützen gewußt hat, weil sie gar nicht geschützt sein will – in einer Beziehung haben Verwaltung und Rechtsprechung den richtigen Instinkt. Das zeigt sich in der Behandlung der Nationalsozialisten.Die behaupten, <revolutionär> zu sein, wie sie denn überhaupt der Linken ein ganzes Vokabular abgelauscht haben: <Volkspartei> und <Arbeiterpartei> und <revolutionär>; es ist wie ein Konkurrenzmanöver. Daß bei der herrschenden Arbeitslosigkeit des Landes und der Direktionslosigkeit der bürokratisierten Sozialdemokratie die Arbeiter scharenweise zu den Nazis laufen, darf uns nicht wundern.
Revolutionär sind die nie gewesen. Die Geldgeber dieser Bewegung sind erzkapitalistisch, der Groll, der sich in den Provinzzeitungen der Partei, in diesen unsäglichen <Beobachtern> ausspricht, ist durchaus der von kleinen Leuten: Erfolg und Grundton dieser Papiere beruhen auf Lokalklatsch und übler Nachrede. «Wir fragen Herrn Stadtrat Normauke, ob er die Lieferungen an die Stadt nicht durch Fürsprache seines Schwagers erhalten hat, der seinerseits dem Oberbürgermeister . . . » Das freut die einfachen Leute; es zeigt ihnen, dass sich die Partei ihrer Interessen annimmt, es befriedigt ihre tiefsten Instinkte – denn der Kleinbürger hat drei echte Leidenschaften: Bier, Klatsch und Antisemitismus. Das wird ihm hier alles reichlich geboten: Bier in den Versammlungen, Klatsch in den Blättern und Radau-Antisemitismus in den großmäuligen Parolen der Partei. Was ist nun an diesem Getriebe revolutionär? Junge Leute, die tagaus, tagein im Büro sitzen; Studenten, die mit ihren paar Groschen kaum das Brotstudium bezahlen können, von echtem Studium ist schon lange nicht mehr die Rede; Arbeitslose, denen jede Abwechslung recht ist . . . aus solchen Menschen setzen sich die <Sturm-Abteilungen> zusammen, die vor Gericht nicht einmal soviel Mut haben, auch nur den Namen aufrechtzuerhalten. «Wir SA-Leute sind Sportabteilungen . . . was dachten Sie?» Die Deutschen sind stets ein Gruppenvolk gewesen; wer an diesen ihren tiefsten Instinkt appelliert, siegt immer. Uniformen; Kommandos; Antreten; Bewegung in Kolonnen . . . da sind sie ganz. Der Zulauf zu diesen sehr risikolosen und romantisch scheinenden Unternehmungen ist groß; das moderne Leben mechanisiert die Menschen, das Kino allein kann das Bedürfnis nach Abwechslung nicht befriedigen. Also rauf auf die Lastwagen!
Wenn diese nationalsozialistische Bewegung eine echte Volksbewegung, eine revolutionäre Bewegung wäre, wenn eine rechte Revolution alte Rechtsbegriffe hinwegschwemmte und zur Durchsetzung ihres Systems eine Diktatur errichtete – so könnte man das sauber bekämpfen. Wer für den Klassenkampf eintritt, kann sich nicht grundsätzlich gegen Diktaturen wenden, höchstens gegen die Ziele, für die sie eingesetzt werden. Ein Belagerungszustand kann unter Umständen politisch zu bejahen sein – es kommt auf die Idee an, die ihn geboren hat. Von einer revolutionären Idee ist jedoch bei den Nazis nicht das Leiseste zu bemerken. Ich nehme hier ausdrücklich die ihnen nicht unmittelbar angeschlossenen und noch sehr einflußlosen Gruppen aus, die zunächst im geistigen Kampf stehen: die Handvoll Leute um Jünger, Schauwecker und die andern. Ich kann zwar nicht sehen, was damit gewonnen ist, dass man mit Ausdrücken wie <magisch> und <mitteleuropäischer Raum> um sich wirft . . . auch die Vokabel <Fronterlebnis> wird ja wohl nicht über die wahnwitzige Güterverteilung der kapitalistischen Gesellschaftsunordnung hinweghelfen – Romantiker glauben immer, wenn sie bewegt seien, bewegten sie auch schon dadurch die Welt. Selbst echte seelische Erschütterung ist noch kein Beweis für die Nützlichkeit und den Wert einer Idee. Die Straßennazis lassen von dieser Geistigkeit auch nicht einen Hauch verspüren. Politische Kinder . . . «Politische Kinder», heißt es einmal bei Scherr, «welchen man ja, vorab in Deutschland, bis zur Stunde einbilden, einpredigen, einschwindeln konnte und kann, Revolutionen würden willkürlich gemacht, von Sprudel- und Strudelköpfen, von Habenichtsen und Taugenichtsen, von einer Handvoll <Literaten, Advokaten und Juden>, willkürlich gemacht und aus purem Mutwillen.»
Und nun tobt das gegen einen <Bolschewismus> der nicht einmal da ist; denn die Arbeiter sind gespalten, und die typische Angestelltengesinnung haben die Kommunisten, von Moskau leider sehr falsch belehrt, in Deutschland niemals zu erfassen vermocht. Dergleichen ist wohl auch unvorstellbar für ein russisches Gehirn, aber nicht minder real. Die kommunistischen Parolen holen vielleicht die Arbeiter aus den Betrieben, niemals aber die Angestellten aus den Büros. Und ohne die kann man keine Revolution machen. Die Nazis terrorisieren viele kleine und manche Mittelstädte, und zwar tun sie das mit der Miene von Leuten, die ungeheuer viel riskieren; sie machen immer ein Gesicht, als seien sie und ihre Umzüge wer weiß wie illegal. Sie sind aber durchaus legal, geduldet, offiziös. Und hier beginnt die Schuld der Republik: eine Blutschuld. Polizei und Richter dulden diese Burschen, und sie dulden sie in der durchaus richtigen Anschauung: «Mitunter ist es ja etwas reichlich, was hier getrieben wird. Keinen Totschlag! Nicht immer gleich schießen . . . Aber, trotz allem: Diese da sind Blut von unserm Blut, sie sind nicht gegen, sondern für die Autorität – sie sind, im allertiefsten Grunde, für uns, und sie sind nur deshalb nicht ganz und gar für uns, weil wir ihnen nicht stramm genug sind und zu sehr republikanisch. Wir möchten ja auch gerne . . . aber wir dürfen nicht . . . Diese lächerlichen republikanischen Minister . . . die Geheimräte da oben am grünen Tisch . . . wir möchten ja ganz gerne. Und tun unser Möglichstes. Zurücktreten! Nicht stehen bleiben! Na ja . . . aber es sind unsre, unsre, unsre Leute.»
Es sind ihre Leute. Es sind so sehr ihre Leute, dass die verschiedenartige Behandlung, die Kommunisten und Nationalsozialisten durch Polizei und Rechtsprechung erfahren, gradezu grotesk ist. Man stelle sich einmal vor, was geschähe, wenn in der <Weltbühne> stände, man müsse den Führer der Zentrumspartei zum <Schweigen bringen . . . Nie davon sprechen – immer daran denken> –: zwölf Juristen erster Klasse zerbrächen sich die Dialektik, um aus diesen Sätzen herauszulesen, was sie für eine Verurteilung brauchten, und die Urteilsbegründung wäre eine reine Freude für jeden Kandidaten der großen Staatsprüfung. Man stelle sich vor, was geschähe, wenn – wie es umgekehrt in Schweidnitz geschehen ist – ein jüdischer Angeklagter in einem Strafprozeß die Geschmacklosigkeit besäße zu sagen: «Der Regierungsvertreter lächelt mich dauernd so hämisch an, wie das nur Gojims zu tun pflegen» – mit Recht ließe der Vorsitzende den Sprecher abführen, und der Prozeß ginge, was ja zulässig ist, ohne den Angeklagten zu Ende. Und man stelle sich vor, was geschähe, wenn der Vorsitzende dies zu tun unterließe. Aufforderung zur Berichterstattung an den Aufsichtführenden, Bericht ans Justizministerium, <anderweitige Verwendung> des Richters und wahrscheinlich unter Anwendung der üblichen Mittel: Pensionierung. Linksleute sind vogelfrei. Führen die Arbeiter einen der ihren zu Grabe, den üble Gefängnisärzte zu Tode gequält haben, dann stürzen sich hundert Polizisten dazwischen, «unter Anwendung des Gummiknüppels», wie es in den polizeiseligen Blättern der Mitte heißt.
Die scheuen sich, die Wahrheit zu sagen: es wird geprügelt, wie die Kosaken nicht saftiger geprügelt haben. Brüllen die Nationalsozialisten die Straßen entlang, so wird zwar von den Polizeibeamten nicht grade salutiert, aber sie lassen den Zug lächelnd passieren. Jugend muß sich austoben . .- . Hiervon gibt es nur sehr wenige Ausnahmen. Auf den Straßen fließt Blut, und die Republik unternimmt nichts, um dem Einhalt zu tun. Von Mordandrohungen schon gar nicht zu sprechen. Nach dem neuen Schutzgesetz, das diese Republik nötig hat, kann jeder satirische Vers gegen den Portier des Reichskanzlerpalais einem Staatsanwalt die Karriere verbessern; auf der andern Seite können die Nazis gegen <nichtbeamtete> Publizisten Drohungen ausstoßen, die selbst unter dem Seligen klar und eindeutig unter den § 111 des Strafgesetzbuches gefallen wären (Aufforderung zur Begehung strafbarer Handlungen). Heute geht das als Redeblümchen und Würze der Propaganda glatt durch. Und kommt es selbst einmal zu einem Prozeß: wie beschämend sehen diese Prozesse aus! Die Zeugen sind, wenn sie vom Reichsbanner oder gar aus Arbeiterkreisen kommen, die wahren Angeklagten, die Anwälte der Nazis treten wie die Staatsanwälte auf, und die Staatsanwälte sind klein und häßlich und kaum zu sehen. Die Richtersprüche entsprechend. Das große Wort vom <Landfriedensbruch> hat hier keine Geltung; und wenn eine ganze Stadt von den Hitlerbanden auf den Kopf gestellt wird, so erscheint das in den Begründungen der Freisprüche als harmlose Bierhausprügelei. Kein Wunder, wenn diesen Knaben der Kamm schwillt: sie riskieren ja nichts. Um so mehr riskiert der Arbeiter. Eifrige Polizeipräsidenten verhängen über ihren Machtbereich jedesmal einen kleinen privaten Belagerungszustand, wenn es bei einem Fabrikstreit Randal gibt, und wie da gehauen, geprügelt, verhaftet wird, daran ändert auch das Vokabular nichts, das dann von <zwangsgestellt> spricht. Der Zörgiebels gibt es viele im Reich, und alle, alle sehen nur nach links. Von rechts her scheint keine Gefahr zu drohen. Die Redakteure der <Roten Fahne> verfügen über ein reiches Schimpfwörterbuch, die Hitlergarden verfügen über Waffen, Autos und Geld . . . das ist der Unterschied.
Der Landfrieden aber wird bei uns nur von links her gebrochen. Es ist eine Schande. Solange solche Männer wie Klausener in den preußischen Ministerien, wo es noch am liberalsten zugeht, die Personalpolitik machen, kann das nicht besser werden. Einen deutschen Landfrieden gibt es nicht mehr. Stände heute ein Erzberger oder ein Maximilian Harden auf und sprächen sie in den Mittelstädten der Provinz und nun gar in Sachsen und Bayern: sie würden abermals niedergeschlagen werden. Vielleicht machte die Ortspolizei schwache Versuche, sie zu schützen; vor den Richtern kämen die Mörder mit einer vergnügten Verhandlung davon. Kein Wunder. Man höre sich die Vorlesungen der Universitäten an, man sehe die dort von den Behörden geduldeten Umtriebe, und man wird sich nicht wundem, dass eine so vorgebildete Richterschaft die Verbrechen der Nationalsozialisten im Herzen und im Grunde bejaht. Diese Unabsetzbaren halten derartige Morde für den Ausfluß des Volkswillens. Strafen? Die sind für die Arbeiter. Was die öffentliche Meinung anlangt, so geht sie mit den Völkischen zu milde um. Es liegt das zunächst an dem berliner Aberglauben, der Kurfürstendamm sei die Welt, und solange eine Reinhardt-Premiere nicht gestört würde, könne das Ganze doch unmöglich so schlimm sein. Die sehen die Gefahr immer erst, wenn ihnen die Gegner auf den Teppich des Eßzimmers spucken. Siegfried Jacobsohn hat mir einmal von Konrad Haenisch erzählt, wie er den in der Nacht vor dem Kapp-Putsch im Theater traf: der Gute lächelte und winkte auf alle Fragen beschwichtigend ab . . . Am nächsten Tage saßen die Herren im Auto, und Berlin wehrte sich allein. An dem völkischen Teil der deutschen Industrie hängt der Vorwurf, dass sie Mörder finanziert; sie wird diesen Vorwurf lächelnd einstecken wie ihre Tantiemen. Denn noch nie haben sich diese Menschen ein Geschäft durch die <Moral> verderben lassen. So wird unsre Luft verpestet. Und wenn wir uns diese einseitig geschützte Republik ansehen, diese Polizeibeamten und diese Richter, dann entringt sich unsern Herzen ein Wunsch:
Gebt uns unsern Kaiser wieder!
Erstveröffentlichung unter dem Namen Ignaz Wrobel, Die Weltbühne vom 13. Mai.1930, Nr. 20, S. 718. Zitiert nach: Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, Dreibändige Ausgabe (Dünndruckpapier), Deutscher Bücherbund, Band III (1929 – 1932), Seite 439 – 443.


Rezepte gegen Grippe. Beim ersten Herannahen der Grippe, erkennbar an leichtem Kribbeln in der Nase, Ziehen in den Füßen, Hüsteln, Geldmangel und der Abneigung, morgens ins Geschäft zu gehen, gurgele man mit etwas gestoßenem Koks sowie einem halben Tropfen Jod. Darauf pflegt dann die Grippe einzusetzen. Die Grippe – auch <spanische Grippe>, Influenza, Erkältung (lateinisch: Schnuppen) genannt – wird durch nervöse Bakterien verbreitet, die ihrerseits erkältet sind: die sogenannten Infusionstierchen. Die Grippe ist manchmal von Fieber begleitet, das mit 128° Fahrenheit einsetzt; an festen Börsentagen ist es etwas schwächer, an schwachen fester – also meist fester. Man steckt sich am vorteilhaftesten an, indem man als männlicher Grippekranker eine Frau, als weibliche Grippekranke einen Mann küßt – über das Geschlecht befrage man seinen Hausarzt. Die Ansteckung kann auch erfolgen, indem man sich in ein Hustenhaus (sog. <Theater>) begibt; man vermeide es aber, sich beim Husten die Hand vor den Mund zu halten, weil dies nicht gesund für die Bazillen ist. Die Grippe steckt nicht an, sondern ist eine Infektionskrankheit. Sehr gut haben meinem Mann ja immer die kalten Packungen getan; wir machen das so, dass wir einen heißen Grießbrei kochen, diesen in ein Leinentuch packen, ihn aufessen und dem Kranken dann etwas Kognak geben – innerhalb zwei Stunden ist der Kranke hellblau, nach einer weiteren Stunde dunkelblau. Statt Kognak kann auch Möbelspiritus verabreicht werden. Fleisch, Gemüse, Suppe, Butter, Brot, Obst, Kompott und Nachspeise sind während der Grippe tunlichst zu vermeiden – Homöopathen lecken am besten täglich je dreimal eine Fünf-Pfennig-Marke, bei hohem Fieber eine Zehn-Pfennig-Marke. Bei Grippe muß unter allen Umständen das Bett gehütet werden – es braucht nicht das eigene zu sein. Während der Schüttelfröste trage man wollene Strümpfe, diese am besten um den Hals; damit die Beine unterdessen nicht unbedeckt bleiben, bekleide man sie mit je einem Stehumlegekragen. Die Hauptsache bei der Behandlung ist Wärme: also ein römisches Konkordats-Bad. Bei der Rückfahrt stelle man sich auf eine Omnibus-Plattform, schließe aber allen Mitfahrenden den Mund, damit es nicht zieht. Die Schulmedizin versagt vor der Grippe gänzlich. Es ist also sehr gut, sich ein siderisches Pendel über den Bauch zu hängen: schwingt es von rechts nach links, handelt es sich um Influenza; schwingt es aber von links nach rechts, so ist eine Erkältung im Anzuge. Darauf ziehe man den Anzug aus und begebe sich in die Behandlung Weißenbergs. Der von ihm verordnete weiße Käse muß unmittelbar auf die Grippe geschmiert werden; ihn unter das Bett zu kleben, zeugt von medizinischer Unkenntnis sowie von Herzensroheit. Keinesfalls vertraue man dieses geheimnisvolle Leiden einem sogenannten <Arzt> an; man frage vielmehr im Grippefall Frau Meyer. Frau Meyer weiß immer etwas gegen diese Krankheit. Bricht in einem Bekanntenkreis die Grippe aus, so genügt es, wenn sich ein Mitglied des Kreises in Behandlung begibt – die andern machen dann alles mit, was der Arzt verordnet. An hauptsächlichen Mitteln kommen in Betracht: Kamillentee. Fliedertee. Magnolientee. Gummibaumtee. Kakteentee. Diese Mittel stammen noch aus Großmutters Tagen und helfen in keiner Weise glänzend. Unsere moderne Zeit hat andere Mittel, der chemischen Industrie aufzuhelfen. An Grippemitteln seien genannt: Aspirol. Pyramidin. Bysopeptan. Ohrolax. Primadonna. Bellapholisiin. Aethyl-Phenil-Lekaryl-Parapherinan-Dynamit-Acethylen-Koollomban-Piporol. Bei letzterem Mittel genügt es schon, den Namen mehrere Male schnell hintereinander auszusprechen. Man nehme alle diese Mittel sofort, wenn sie aufkommen – solange sie noch helfen, und zwar in alphabetischer Reihenfolge, ch ist ein Buchstabe. Doppelkohlensaures Natron ist auch gesund. Besonders bewährt haben sich nach der Behandlung die sogenannten prophylaktischen Spritzen (lac, griechisch; so viel wie <Milch> oder <See>). Diese Spritzen heilen am besten Grippen, die bereits vorbei sind – diese aber immer. Amerikaner pflegen sich bei Grippe Umschläge mit heißem Schwedenpunsch zu machen; Italiener halten den rechten Arm längere Zeit in gestreckter Richtung in die Höhe; Franzosen ignorieren die Grippe so, wie sie den Winter ignorieren, und die Wiener machen ein Feuilleton aus dem jeweiligen Krankheitsfall. Wir Deutsche aber behandeln die Sache methodisch: Wir legen uns erst ins Bett, bekommen dann die Grippe und stehen nur auf, wenn wir wirklich hohes Fieber haben: dann müssen wir dringend in die Stadt, um etwas zu erledigen. Ein Telefon am Bett von weiblichen Patienten zieht den Krankheitsverlauf in die Länge. Die Grippe wurde im Jahre 1725 von dem englischen Pfarrer Jonathan Grips erfunden; wissenschaftlich heilbar ist sie seit dem Jahre 1724. Die glücklich erfolgte Heilung erkennt man an Kreuzschmerzen, Husten, Ziehen in den Füßen und einem leichten Kribbeln in der Nase. Diese Anzeichen gehören aber nicht, wie der Laie meint, der alten Grippe an – sondern einer neuen. Die Dauer einer gewöhnlichen Hausgrippe ist bei ärztlicher Behandlung drei Wochen, ohne ärztliche Behandlung 21 Tage. Bei Männern tritt noch die sog, <Wehleidigkeit> hinzu; mit diesem Aufwand an Getue kriegen Frauen Kinder. Das Hausmittel Cäsars gegen die Grippe war Lorbeerkranz-Suppe; das Palastmittel Vanderbilts ist Platinbouillon mit weichgekochten Perlen. Und so fasse ich denn meine Ausführungen in die Worte des bekannten Grippologen Professor Dr. Dr. Dr. Ovaritius zusammen: Die Grippe ist keine Krankheit – sie ist ein Zustand –!
Zitiert nach der dreibändigen Ausgabe Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, Band III (Dünndruckausgabe), Seite 777-779. Zuerst erschienen unter dem Namen Peter Panter in der Vossischen Zeitung, am 3. Februar 1931.




PDF Frau Friedrich im Lande der Pandemie

Frau Friedrich im Lande der Pandemie. Frau Friedrich von der FFA hat es wirklich schwer. Ihre Arbeit bei der FFA ist: Die Erfassung der Umsatzzahlen der Kinos. Nun finden seit fast 12 Monaten in den Kinos keine Umsätze mehr statt. Das weiß auch Frau Friedrich. Das weiß auch der Chef von Frau Friedrich. Sein Name tut hier nichts zur Sache. Vermutlich ein Mann. Warum sollte es anders sein? Die FFA ist eine Staatsveranstaltung. Sie soll den Bürgern dienen. Den Bürgern dienen ist das eine. Aber wer dauerhaft dienen und dafür auch bezahlt werden will, der muß seine Tätigkeit, wenn sie nicht durch Wirkung in Erscheinung tritt, dokumentieren, präsentieren, legitimieren. Nun sind die Kinos seit 12 Monaten, mit kleinen Unterbrechungen, geschlossen. Umsätze finden nicht statt. Und dennoch gibt es Menschen, deren Tätigkeit darin besteht, die (nicht vorhandenen Umsätze) zu erfassen, zu dokumentieren, zu präsentieren und damit ihre Tätigkeit zu legitimieren. Frau Friedrich von der FFA könnte einfach, wie die Kinobesitzer und Kinoangestellten schön zu Hause sitzen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, wären da nicht die Gesetze, in denen eine solche Auszeit nicht vorgesehen ist. Also geht sie täglich an ihren Nichtarbeitsplatz und schickt an die vorhandenen Kinos (geschätzt 3001 und mehr) die Aufforderung zur Nullmeldung. Aktuell für die Monate Januar und Februar 2021. Und keiner in der FFA oder anderswo kann diesen Unsinn stoppen, wollte er oder vielleicht sogar sie, es. Der Präsident oder die Präsidentin von der FFA? Man weiss es nicht. Und so schickt Frau Friedrich von der FFA weiter ihre Aufforderungen zur Umsatzmeldung in die Lande. Man kann sich schließlich nicht nur mit dem Impfen und der Früherkennung der Krankheiten beschäftigen. Es muß auch andere Tätigkeiten im Lande der Pandemie geben! Jawoll! Frau Friedrich von der FFA hat es wirklich schwer. 20. März 2021 Jens Meyer vom 3001 Kino in Hamburg.
