Briefe an Wiebeke (I-1) Die Freiheit des Andersdenkenden – (das klein gedruckte)

Romische Zahlen am BUG

PDF Freiheit359kleingedruckt

PDF Briefe an Wiebeke (I)

PDF RosaLuksenburgFreiheit

Hallo W., die erste Wahrheit (Prawda) im neuen Jahr: Ich hab herausgefunden, warum das Rozalia Luksenburg (richtige Schreibweise) Zitat oft ohne Quellenangabe abgedruckt wird. Dahinter verbirgt sich eine boese Absicht. Eine boese Absicht, die man nur herausfindet, wenn man das Zitat dann endlich gefunden hat. Ein Zufall fuehrte mich auf diese Spur. Ich hatte gerade ein Buch abgeschlossen und war sehr unzufrieden damit, wusste aber eigentlich nicht so recht, warum es mir nicht gefallen hat. Das Buch, dir kann ich das ja schreiben, ist von Florian Huber, erschienen im Berlin Verlag, was eine Unterabteilung vom Piper Verlag in Muenchen ist. Es heisst : „Die Rache der Verlierer, Die Erfindung des Rechtsterrors in Deutschland“. Leider verspricht der Umschlag mehr, als der Inhalt tatsaechlich hergibt.

Keine neuen Erkenntnisse, aber die alten Erkenntnisse sorgsam relativiert, so daß man mit den Nazis richtig Mitleid bekommt, wie schlecht man mit ihnen damals (AFD – NSU fehlt) und heute umgegangen ist und wird. Es ist langweilig und unnoetig. Besonders dann, wenn man vorher von Sebastian Haffner „Der Verrat“ gelesen hat. Aber ein Freund hat mir ein zweites Buch geschickt, was er vorher selber gelesen hatte und dieses Buch, ueber die gleiche Problematik (ebenfalls aus dem Piper Verlag in Muenchen), ist ein Jahr vorher erschienen und bringt tatsaechlich einige Informationen, von denen ich noch nicht wusste. Auf dem Umschlag der Titel „1918 Aufstand fuer die Freiheit – Die Revolution der Besonnenen“ von Joachim Käppner. Einzige Kritik an diesem Buch sind die Anmerkungen, die sehr unuebersichtlich und unpraktisch angeordnet sind, wenn man die Erklaerungen der Anmerkungen hinten im Buch sucht. Sie sind immer dem Haupttitel und nicht den Zwischenueberschriften zugeordnet.

Dort habe ich jedenfalls den Hinweis auf das Luksenburg (Luxemburg) Zitat gefunden und gleich mal das entsprechende Buch dazu bestellt, um zu ueberpruefen, was die Suche nicht gerade einfach macht, wenn man ueberpruefen will, wer was wann gesagt hat und ob die Quellenangaben tatsaechlich stimmen. Das mit der Freiheit und dem Andersdenken. Die Luksenburg Angabe stimmt jedenfalls. Das Zitat findet sich im Band 4, Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke. August 1914 bis Januar 1919, erschienen im Dietz Verlag Berlin (Ost) 1983. Auf Seite 359. Damit Du erleben kannst, was der Hintergrund fuer die Quellenangabe, die fehlende ist, habe ich Dir die Seite auf den Skaenner gelegt. In einer 4 Punkt Schrift befindet sich das Zitat im Kleingedruckten und war der Dame offensichtlich nicht so wichtig, erschienen unter Nummer 3 findet sich:
„3) Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis: „Freiheit nur fuer die Anhaenger der Regierung, nur fuer die Mitglieder einer Partei – moegen sie auch noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen haengt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird. (Im Kapitel Zur russischen Revolution)““.

Weil es bei Frau Luxemburg eben nur kleingedruckt am Rand erscheint, deswegen verzichten die Damen und Herren Zitate Sucher immer darauf, den Platz zu nennen, an dem es gedruckt erscheint. Das musste mal geschrieben werden. Und noch ein Hinweis: Der Band 4 der Gesamtausgabe hat ein Vorwort von 56 Seiten. So viele Seiten sind sehr selten bei Vorwoertern. Das koennte man schon „Vor Roman“ nennen. Dazu kommt noch eine redaktionelle Vorbemerkung von zwei Seiten. Aber so ist das bei Menschen, die schon so lange nicht mehr unter uns weilen. Die koennen sich gegen sechsundfuenfzig (56) Seiten Vorwörter und zwei Seiten Vorbemerkungen nicht wehren. Das haette Rosa bestimmt gemacht. Der letzte Text in diesem Buch wurde in der Roten Fahne vom 14. Januar 1919 unter dem Titel: „Die Ordnung herrscht in Berlin“ veröffentlicht. (Band 4, S. 536) (Ps: Im Register gibt es keinen Hinweis auf dieses Zitat, obwohl das Register achtzehn Seiten hat. Aber fuer eine Randnotiz reichte wohl der Platz nicht aus. Das war 1983 vermutlich nicht modern, oder? Den Dietz Verlag in Berlin gibt es doch noch? Oder gehoert der schon einem Andersdenkenden?

Rosa Luxemburg 1915 Foto Paul Bommel (Wikipedia cc)

Endlich: Ein Denkmal für die ZwangsarbeiterInnen und -arbeiter

Der Senat tut etwas. Es tut sich was. Auf dem Gelände des Heiligengeistfeldes. Man sucht nach Blindgängern aus dem zweiten Weltkrieg und der Senat hat es sich nicht nehmen lassen und Geld in die Hand genommen, um endlich ein Denkmal für die Menschen zu errichten, die 1942-43 diesen Bunker errichtet haben. Bravo. Das ist gelebte Erinnerungskultur! Erinnerungskultur mit Fahrstuhl! Wenn sie das noch erlebt hätten. Sie haben diesen Bunker nicht freiwillig gebaut. Sie wurden, wie der Name Zwangsarbeit schon sagt, dazu gezwungen. Und so finden sich auch heute noch viele Blindgänger. Mit Graben hat das wenig zu tun. Und damit sie keine Treppen steigen müssen, bekommen sie Fahrstühle, die dem ehemaligen Flakbunker hinzugefügt werden. Neunundneunzig Jahre lang. Und alles ohne Luftballons.

Fotos Jens Meyer

Denkmal

Drei oder vier Dinge, die ich von ihnen weiss

PDF  Drei oder vier Dinge, die ich von ihnen weiß 2 (Zeichen19.825)

Wentorferstrasse 19-21

Meine Mutter:

Annelise, Maria, Elsa Meyer, geb. Hirte geboren am 27. Oktober 1904, gestorben am 20. Oktober 1987. Letzte Wohnanschrift: Hütten/Ecke Peterstrasse.

Mein Vater:

Rudolf Heinrich Meyer, geboren am 24. Januar 1904 in Hamburg Bergedorf, gestorben am 27. August 1979 in Hamburg. Letzte Wohnanschrift: Dorotheenstr. 184 a in 2000 Hamburg 39, Winterhude.

Meine Oma (1) (die Mutter von Annelise): Dora, Charlotta, Amalie Hirte geb. Eikens, geb. am 19. Juli 1862 in Hannover, gest. am 10. Mai 1907 an den Folgen eines Unfalls in Hamburg. Letzte Wohnanschrift: Steinstrassen Passage 1, Nummer 29, Haus 8.

Mein Opa (1) (der Vater von Annelise): Eduard, Ernst, Hermann Hirte, geb. am 12. Mai 1861 in Hannover. Gest. am 16. August 1934 in Hamburg. Von Beruf: Maurer. Später Maurermeister. Noch später: Architekt. Letzte Wohnanschrift: Bethesdastrasse 36 (Hamburg Borgfelde). (Die Angaben stammen aus den Adressbüchern von Hamburg).

Das Ehepaar Hirte hatte zehn Kinder.

Foto 1905 Familie Hirte (Im Kinderwagen Annelise)

Meine Mutter: Annelise, Maria, Else Hirte war die jüngste Tochter der Familie Hirte. Die älteste Tochter hieß Maria, Anna, Sofie, Louise Hirte. (Annelise ist das Kind im Kinderwagen. Aufnahme 1905. Die anderen vier Kinder sind bereits älter)

(Viele Kinder, viele Vornamen). Maria ist am 30. Januar 1884 geboren, gestorben am 03. Januar 1974.

Steinwegpassage Ecke Alter Steinweg. Im Keller der Cotton Club.

Die Namen der restlichen Hirte Kinder und die Reihenfolge ihres Erscheinens sind unsicher. Nur eine zehn Jahre ältere Schwester ist sicher. Sie hat nur zwei Vornamen: Leoni, Dorothea Hirte ist geboren am 10. Januar 1894 und gestorben am 28. Juli 1943 um 1.00 Uhr und 40 Minuten in Hamburg, „daselbst in Folge Fliegerangriffe gefallen.“ wie ich der Todesurkunde entnehmen konnte.

Letzte Wohnanschrift von Leonie Eikens, geb. Hirte: Eiffestrasse 505.

Zwei Söhne von ihr habe ich noch kennengelernt: Ihren Sohn Wolfgang (Wölfi) Eikens und seinen Bruder Karl Hermann Eikens. Wölfi war gerade 17 geworden und machte eine Lehre zum Autoschlosser, als ihn 1942 der Führer nach Russland schickte. Als seine Mutter 1943 “in ihrer Wohnung gegrillt wurde“, wie Wölfi sich auszudrücken pflegte, “sind mir bei Stalingrad die Füße abgefroren“ (Seine Füße hatten eine ganz glatte Haut). Der Führer hatte vergessen, seinen Kindersoldaten (volljährig wurde man erst mit 21 Jahren) Winterkleidung mitzugeben. Hatte sich was mit Blitzkrieg.

Die Kindheit meiner Mutter Annelise war schwierig. Wie schwierig, hat sie ihren Kindern oder Enkelkindern nie erzählt. Ihre Mutter war schwanger und ist beim Gardinenaufhängen in der Wohnung von der Leiter gefallen. Sie hatte eine Fehlgeburt. Sie soll im Krankenhaus verblutet sein. Annelise ist zwei Jahre alt, als ihre Mutter stirbt. Ihr Vater, mein Opa, war ein Hallodri. Darunter konnte ich mir als Kind nichts vorstellen. Was sie damit meinte, erfuhren wir erst viel, viel später. Es stellte sich heraus, dass mein Opa (1) (ihr Vater) schon lange eine Geliebte hatte, der er erzählt hatte, er habe drei volljährige Kinder. Das Gegenteil ist der Fall. Sieben seiner Kinder sind unter 21 Jahre alt, als seine Frau von der Leiter fällt. Die älteste Schwester von Annelise, Maria Else Hirte, ist bei dem Tod der Mutter dreiundzwanzig Jahre alt. Wir nannten sie Tante Ria. Tante Ria hat ihrem Enkel erzählt, dass die Familie Hirte oft umgezogen ist. Damals gab es das Ritual, dass neue Häuser zunächst von armen Familien “trocken gewohnt wurden“. Hermann war Maurer.

Immer, wenn ein Haus fertig war, zog die Familie in eine dieser feuchten Wohnungen zum “Trocken wohnen.“ Die Trocken-Wohn-Miete war günstig. Wenn die Wohnung nach zwölf Monaten trocken war, zogen sie in die nächste Feucht-Wohnung um. Als meine Mutter 1904 geboren wurde, wohnte die Familie Hirte in der Steinstraße 129. Die Anschrift führt leicht zur Verwirrung. Es gibt sie nicht, die Steinstraße 129. Vielmehr handelt es sich um die Strasse: Steinstrassenpassage Nr. 1, Haus Nummer 29, im Hinterhof Haus 8. Die Steinstrassen Passage ist heute an der selben Stelle wie 1904. In der Nähe vom Großneumarkt.

Steinwegpassage/ Ecke Alter Steinweg (Foto von 2020)

Das Vorderhaus Nummer eins steht noch. Die Hinterhäuser sind bombardiert oder abgerissen worden. Als Annelise 1904 geboren wird, wohnt Familie Hirte die Wohnung im ersten Stock “trocken“. Berufsangabe von Hermann Hirte im Adressbuch: “Mauermeister“. 1909 wird eine andere Wohnung “trocken“ gewohnt: In der Barmbeckerstr. 191. Ein Neubau, dicht am Winterhuder Marktplatz.

Opa (1) Hermann gibt die kleinen Hirte Kinder in Pflegefamilien. Annelise ist die jüngste. Dort geht es ihr nicht gut. Die Pflegefamilien nehmen die Kinder nur, weil sie das Geld, das dafür gezahlt wird, dringend brauchen. Die Kinder finanzieren den armen Familien den Lebensunterhalt.

Am 30. März 1912 heiratet Annelises Vater wieder und zieht in die neue Wohnung Eilbecker Weg 204. Die Auserwählte heißt Auguste Bieling. Als Auguste Bieling – Auguste Hirte – wird, ist sie ein Jahr und einen Monat jünger als Hermanns älteste Tochter Maria. Auguste Bieling ist am 23. Februar 1883 geboren. Maria Hirte ist am 30. Januar 1884 geboren. In der neuen Ehe werden von 1912-1920 vier weitere Kinder gezeugt. 1913 zieht die Familie Hirte (die Zusammensetzung dieser Familie ist unklar) in die neue (feuchte) Wohnung in der Himmelstrasse 26. Ob Annelise in dieser Zeit Kontakt zu ihrem Vater hatte, blieb ihr Geheimnis.

Sie spricht darüber nie. Auch zu den Enkelkindern kein Wort. Es scheint so, als sei der Kontakt abgebrochen oder gar nicht erst entstanden. Auch Tante Ria verliert kein Wort darüber.

Maria Hirte ist Verkäuferin in einem Schokoladengeschäft. 1910 gibt es das Chocoladengeschäft von Reese & Wichmann am Jungfernstieg 12. Das wäre so eine Möglichkeit. Passend in der Hamburger Innenstadt. Da gibt es einen jungen Mann, der sehr oft Chocolade kauft. Maria merkt bald, der Mann kommt gar nicht wegen der Schokolade, sondern wegen ihr. So viel Schokolade kann ein Mensch alleine gar nicht essen.

Der Mann heisst Otto Averdieck. Otto ist Rechtsanwalt. Seine Kanzlei betreibt er in der Mönckebergstrasse 18. Fleißig ist er auch. Die Sprechzeiten seiner Kanzlei sind im Adressbuch angegeben. Werktags von 9.00 bis 5.00 Uhr und Sonntags von 9.00 – 2.00 Uhr.

Ob es Liebe auf den ersten Blick ist und bei wem, ist nicht überliefert. Otto ist am 16. Februar 1881 geboren und wohnt in einer Wohnung in dem Haus seiner Eltern in der Bassinstrasse 12 in Uhlenhorst. 1912 verkaufen die Eltern das Haus in der Bassinstrasse 12, um eines in der Petkumstrasse 17 zu kaufen. Das ist eine Ecke weiter. Das Haus gibt es nicht mehr. Es wurde im Krieg zerstört. (nicht im ersten, sondern im zweiten)

Als im August 1914 der Erste Weltkrieg beginnt, den man erst nach dem Beginn des zweiten Weltkrieges nummeriert, ist Otto 33 Jahre alt. Otto ist kriegsbegeistert wie alle anderen. Seine Eltern leben ihren Standesdünkel. Sie halten sich für etwas Besseres und sind gegen die Verbindung ihres Sohnes mit Maria Hirte. Sie ist ja nur die Tochter eines Maurermeisters.

Otto ist das offensichtlich Wumpe.

1916 ist Maria Hirte schwanger und Otto überlässt ihr seine Wohnung in der Petkumstrasse 17, während er in Frankreich fleißig Franzosen abschießt. Seine Eltern, denen das Haus in der Petkumstrasse 17 gehört, wohnen im selben Haus. Jeden Tag wird Maria von ihnen daran erinnert, das der Sohn etwas Besseres, als die Tochter eines Maurers verdient hätte.

Am 8. April 1916 wird Otto, Leonhard geboren. Wie alle unehelichen Kinder erhält das Kind den Nachnamen der Mutter: Hirte. Selbst der Bruder, Rudolf Averdieck, der am 21. März 1920 geboren wird, weiß davon lange Zeit nichts. Der kleine Otto erhält den Nachnamen Averdieck erst, nachdem das Paar 1918 offiziell beim Standesamt geheiratet hat.

Meine Mutter – Annelise – ist dreizehn Jahre alt, als ihre Schwester Maria sie zu sich nach Hause holt. Bis 1926 wohnen die Averdiecks in der Allee 239 in Altona. In der Strasse Allee 239 steht ein hässlicher schwarzer Kasten, in dem sie ihre erste Wohnung hatten, erzählt Tante Ria ihrem Enkel Ulrich Graumann, und der erzählt es mir nach ihrem Tod am 30.01.1974- Jahrzehnte später.

1980 bekommt die Strasse Allee einen neuen Vor- und Nachnamen und heisst jetzt Max Brauer Allee. Die Max-Brauer-Allee wird bis zum Altonaer Rathaus verlängert. Sicher ein Grund, warum ich den hässlichen schwarzen Kasten in der Max Brauer Allee nicht gefunden habe. Tante Ria meidet nach dem 2. Krieg die Viertel, in denen sie früher einmal gewohnt hatte. Vor allem, weil sie nichts mehr wiedererkennt, wie sie mir erzählt hatte. Es ist alles anders, als es früher einmal war. Nur Bergedorf ist irgendwie gleich geblieben.

Stolz berichten Erwachsene uns Kindern, das in Bergedorf nur eine einzige Bombe gefallen ist. Einige glauben sogar zu wissen, dass es so ist, weil in Bergedorf das Eisenwerk – Bergedorfer Eisenwerk – einem schwedischen Besitzer gehört. Und mit den Schweden möchten es sich weder die Engländer noch die Amerikaner verderben, so behaupten die Erwachsenen.

Jedenfalls taucht mein Opa (1) Hermann ab und niemand hat Kontakt mit ihm. In der Familiengeschichte ist er wie ein schwarzer Fleck, den man am liebsten wegradieren würde. Gäbe es doch einen Opa Radierer, man würde ihn sofort nutzen. Manchmal ist er, wenn sein Name überhaupt genannt wird, nur Opa (1) -das Schwein- . Ein bisschen Neid ist bei den Männern auch dabei. Dass eine 23 jährige Frau sich mit einem 45 jährigen, einem uralten Mann, einlässt.

1927 zieht die Familie Otto Averdieck nach Bergedorf, wo sie im Schlebuschweg 28 ein Haus gekauft haben. Im Grundbuch eingetragen ist Averdieck, Otto. Zwei Jahre wohnt auch meine andere Oma (2), Marie Meyer, in diesem Haus im Schlebuschweg 28. Ein Haus mit drei Stockwerken, in dem vier Familien und einige Einzelpersonen wohnen. Das Haus hat die Jahrzehnte überstanden. Eine der ausgebombten Familien, die hier zwangsweise untergebracht wurde, will nach dem Krieg gar nicht wieder ausziehen. Aber kein Problem. Otto ist Anwalt.

Im obersten Geschoss, in der Mansarde im Dach, wohnte in einem Zimmer noch eine Schwester meiner Mutter. Wir nannten sie Tante Buddy. Sie verließ selten das Bett. Und wenn, dann nur um neue Zeitschriften zu kaufen. Den Eindruck hatte ich. Die neuen Zeitschriften mochten alle Jungs gern. Eine hieß Praline. Die erinnere ich noch. Dort wurden Frauen abgebildet, meist wenig bekleidet. Manchmal konnte man auf halb verdeckte Busen gucken. Ich erinnere noch, dass es immer etwas streng in ihrem Zimmer roch. Das mag daran gelegen haben, dass das Zimmer im Dachgeschoss keinen Wasseranschluss hatte. Tante Buddy hatte nur eine Schüssel, in der sie sich waschen konnte. Aber wegen der vielen Vorteile hat uns Kinder das nicht weiter gestört. Es ging immer die Legende, dass sie einen Mann geheiratet hätte, der ziemlich früh im ersten Weltkrieg gefallen war und um den sie immer noch trauerte. Vermutlich ist die Geschichte ganz anders gewesen. Vielleicht hat er auch nur die Flucht vor ihr ergriffen. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich sie jemals auf der Straße getroffen habe.

Tante Ria hat mir oft fünf Mark Stücke als Taschengeld zugesteckt. Sie sprach dann immer von einem Taler. Sie hatte auch ganz viele verschiedene Münzen aus der Vergangenheit, die alle nichts mehr wert waren. Ich habe sie oft sortiert. Nach Größen, nach aufgedruckten Werten, nach eingeprägten Jahreszahlen. Sie hatte auch ein Grammophon, mit dem man mit Stahlnadeln die Schellack Platten abspielen konnte, die leicht zerbrachen. Zum Glück ist mir keine zerbrochen. Um das Haus herum war ein kleiner Garten, in dem wir oft Versteck gespielt haben. Onkel Otto, wie wir ihn nannten, war im Vorstand des Bergedorfer Briefmarkenvereins. In der Vergangenheit wusste er gut Bescheid. Er war der einzige Erwachsene, den ich kannte, der sich dazu bekannte, dass er früher, in der Nazizeit selber Nazi gewesen war.

Mein Vater.

Milchhändler Richard Schultz

Die Geschichte dieses Familienzweigs beginnt mit den Eltern meiner Oma (2) Meyer. Meine Oma (2) ist die Tochter von Paul und Margarethe Schumacher, die in Bergedorf in der Wentorferstrasse 19 wohnten. Das Haus gibt es noch. Ich habe ein Foto davon. Es ist ein kleines Haus. Eine Art Doppelhaushälfte mit zwei Eingängen. Wentorferstrasse 19 und 21. Wann der Vater von meiner Oma (2), Paul Schumacher, geboren ist, weiß ich nicht. Auch der Mädchenname von Margarethe Schumacher, meiner Uroma, und ihr Geburtsdatum ist mir unbekannt. Von Beruf ist mein Uropa, Paul Schumacher, Fuhrmann. Im Adressbuch steht, dass er 1875 in das Haus in der Wentorferstrasse 19 eingezogen ist. Dort wohnte er bis zu seinem Tode 1914. Wann er Margarete, seine Frau, kennenlernt hat, ist nicht bekannt. Nach der Heirat zieht sie bei ihm ein. Sie bekommen eine Tochter und nennen sie Marie.

Marie bleibt ein Einzelkind. Irgendwann lernt meine Oma Marie (2) meinen Opa Heinrich Meyer kennen. Der Opa war ein Fan von August Bebel, erzählt mir die Oma später. Zu dem Gespräch mit meiner Oma über August Bebel kommt es, weil sie selbst 1957 in dieser Strasse August Bebelstrasse Nr. 25 wohnt. Ich bin elf Jahre alt und interessiere mich nicht die Bohne für den Held eines Opas, den ich noch nie gesehen habe. 2020 bin ich für die Neugier alt genug und suche die Spuren dieses Opas. Unsicher. Nur eine zehn Jahre ältere Schwester ist sicher. Nachtrag: Gefunden die Daten von Oma und Opa Zwei: Opa (2), Heinrich Meyer (Opa) geboren am 15. Oktober 1867, gestorben am 21. Juni 1930, im Hamburg. Heinrich Meyer wird 62 Jahre alt. Oma (2), Marie Meyer, geb. Schumacher. geboren am 17. September 1877, gestorben am 21. Januar 1958, in Hamburg. Marie Meyer wird 80 Jahre alt.

Die erste Spur finde ich im Adressbuch von Bergedorf für das Jahr 1889. Der Eintrag lautet: Meyer, J. H. H., von Beruf: Arb., was vermutlich Arbeiter heisst. Von 1890 -1895 ist der Eintrag gleich: Meyer, J. H. H., Bleichertwiete 16, Postbote. Von 1911 an ist im Adressbuch eingetragen: Meyer, H. Postschaffner. Opa Heinrich steigt auf. 1914 zum Oberpostschaffner. Von 1922 bis 1929 ist er “Post-Betr.–Assist“, so lautet die Abkürzung im Bergedorfer Adressbuch. 1929 beendet er seine Karriere bei der Post. Ein Beamter im Ruhestand.

Mein Vater wird 1904 geboren. Sie nennen ihn Rudolf Heinrich. Auch Rudolf bleibt, wie seine Mutter ein Einzelkind. Bis 1910 wohnt Familie Meyer in Bergedorf in der Bleichertwiete 16. 1911 ziehen sie in den Kirchhofsweg Nr. 4. Rudolf ist jetzt ein Schulkind. Der Neubau der Schule Spieringstrasse 1, der ganz in der Nähe ist, wurde 1910 eröffnet. Schon möglich, dass Rudolf in die gleiche Schule gegangen ist, die auch ich später (ab 1953) besuche. Ich habe ihn nicht gefragt.

Schumacher und Schultz
Wentorferstraße 19 – 21. v.l.n.r. Paul Schumacher, Fuhrmann, Margarethe Schumacher, Johanna Schultz, Richard Schultz, Milchhändler, Vater von Richard Schultz . 1918 (?)

Als die Mutter meiner Oma, Margarethe Schumacher, 1922 stirbt, zieht Familie Meyer in das Haus in der Wentorferstrasse 19 ein. Das Haus Nr. 19 ist zwischenzeitlich an den Milchhändler von nebenan verkauft worden und gehört nun der Witwe des Milchhändlers Richard Schultz, Johanna Schultz, die in Nummer 21 wohnt.

Rudolf ist jetzt 17 Jahre alt. Volljährig wird man in dieser Zeit mit 21 Jahren. 1930 stirbt mein Opa Heinrich. Meine Oma ist nun die Witwe eines Beamten und der Eintrag im Adressbuch lautet 1931: Meyer, Wwe. Marie, Bergedorf, Wentorferstrasse 19. Bis 1935 wohnt meine Oma mit ihrem Sohn Rudolf in der Wentorferstrasse 19.

In dieser Zeit freundet sich mein Vater mit Walther Kellinghusen an. Einem Photograph, der zwei Häuser weiter, in der Wentorferstrasse 23 wohnt. Walther hat das Hobby meines Vaters, die Photographie, zu seinem Beruf gemacht. Gemeinsam üben sie sich in Porträt- und Landschaftsphotographie.

Der Vater von Walther ist Rechtsanwalt und Notar. Die Kellinghusens sind eine große Familie und wohnen seit 1886 in diesem Haus. In dem Nachlass meiner Eltern finde ich Aufnahmen beider Photographen. Sie fotografieren auf Filmen und auf Glasplatten. Die Glasplattenkameras haben die Formate 9 x 12 und 13 x 18. Auch Rudolf bestreitet seinen Lebensunterhalt mit Auftragsarbeiten und fertigt Porträts von jungen Frauen und Männern an. Bewerbungsfotos gehören auch dazu. Seine Mutter dringt darauf, das Rudolf noch einen “anständigen“ Beruf lernen soll. Das ist 1920 nicht ganz einfach.

Eine Lehrstelle bei einem Gewürzimporteur wird angeboten. Apkar Dilsizian, Import und Export GmbH. Sein Büro ist gegenüber dem Freihafen, Hohe Brücke 4, Handelsspanisch und Stenografie sind Voraussetzung für eine Einstellung. Rudolf behauptet beides zu können, was keiner überprüft und drei Monate später kann er anfangen. Die Zwischenzeit nutzt er, sich die geforderten Fähigkeiten anzueignen. Damit kommt er durch. Rudolf verdient 1921 sein erstes Geld und trägt das Gehalt in ein kleines DIN A 5 Büchlein ein. Im August 1923 ist er Millionär, im September Miliardär und in November 1923 bekommt er für den ganzen Monat Arbeit 12,50. Die Währung nennt sich Rentenmark. Bald kann er ein Foto aus dem Bürofenster, Hohe Brücke Nr. 4 machen.

Haus daneben: Hohe Brücke Nr. 1 (Foto vom Oktober 2020)
Blick aus dem Bürofenster Hohe Brücke Nr. 4 (Das Haus gibt es nicht mehr.)
links mein Vater Rudolf Meyer. Die anderen Personen sind mir nicht bekannt.

Am 5. Juni 1935 heiraten meine Eltern. Der Standesbeamte überreicht als Geschenk das Buch “Mein Kampf“ von Adolf Hitler. Die erste gemeinsame Wohnung meiner Eltern ist in der Wentorferstrasse 84. Die Wohnung hat Zentral Heizung, was offenbar so wichtig ist, dass es in Adressbüchern eingetragen wird.

1936 wird der Freund meines Vaters, der Photograph Walther Kellinghusen, verhaftet und kommt in die Untersuchungshaft ins Bergedorfer Gefängnis. Der Vorwurf lautet, er habe gegen den § 175 verstoßen.

Annelise ist schwanger. In Bergedorf in der Brauerstrasse 163 entsteht ein Neubau. Bei der Belegung des Neubaus werden Parteigenossen der NSDAP bevorzugt behandelt. Mein Vater wird Parteigenosse und erhält den Zuschlag. Eine Wohnung zum “Trocken Wohnen“ in der Brauerstrasse 163. Annelise kennt das schon. Hat sie doch ihre Kindheit mit dem “Trocken Wohnen“ verbracht. Am 11. August 1937 bringt Annelise meine Schwester Roswitha zur Welt. Im Elim. In Eimsbüttel. Vierzig Autominuten von der Brauerstrasse entfernt.

1945, beim Einmarsch der Engländer, verschwindet das Hochzeitsgeschenk des Standesbeamten im Heizungskessel im Glindersweg 47. Gottseidank gibt es keinen Koks im Mai 1945. Bis auf einen kleinen Wasserschaden, der den Buchrücken aufgelöst hat, ist dem Buch weiter nichts passiert.

Meine Schwester berichtete mir später, unsere Mutter hatte ihr erzählt, der Vater von Walther, der ein angesehener Rechtsanwalt in Bergedorf gewesen sei, habe seinen Sohn Walther Kellinghusen im Gefängnis besucht und ihm ein Handtuch oder ein Tuch gebracht. Dieses Tuch sei eine Art Code gewesen. Das Signal dafür, das man Walther nicht helfen könne. Darauf hin hat sich Walther im Gefängnis das Leben genommen.

Die Geschichte geisterte seit Jahren durch unsere Familie. Es wurde aber niemals geklärt, ob es tatsächlich so passiert ist. Auffällig ist, das mein Vater ein Reihe von Fotos aufgehoben hat, die von Walther Kellinghusen hergestellt worden sind oder ihn abbilden. So sind diese Aufnahmen nach dem Tode meiner Eltern in meinen Besitz gekommen.

Erst vor einigen Jahren habe ich mit der Recherchen zu Walther Kellinghusen begonnen. Ich stellte ich fest. Es ist noch viel schlimmer, als bisher bekannt. Im Staatsarchiv finde ich einen Mitarbeiter, der sich speziell mit der Verfolgung der Schwulen in Hamburg jahrelang beschäftigt hat. Uwe Bollmann. Zusammen mit einem Kollegen hatte er Reihe von Veröffentlichungen gemacht. Auch die beiden Fälle Kellinghusen haben sie bearbeitet. Der Fall Walther Kellinghusen, der sich im Bergedorfer Gefängnis das Leben genommen hat. Und der Fall seines siebzehn Jahre älteren Bruders Hans-Adolf Kellinghusen, der 1933 zum Professor und stellvertretender Direktor des Staatsarchives ernannt wurde.

Lange sinne ich darüber nach, warum meine Eltern, warum mein Vater nach dem Tode seines Freundes Walther Kellinghusen niemals mehr Kontakt mit einem Familienangehörigen der Kellinghusens aufgenommen hat. Schließlich haben wir bis 1963 in Bergedorf im Glindersweg 47 gewohnt. Ich komme zu keinem Ergebnis. Aber zu einer Entscheidung.

Walther Kellinghusen ist es wert, dass man über seine Person stolpert, so wie ich über ihn gestolpert bin. Ich nehme Kontakt mit Peter Hess auf. Es soll ein Stolperstein für Walther Kellinghusen werden. Verlegt an seiner letzten Wohnanschrift in der Wentorferstrasse 23.

Auf der Suche nach Angehörigen von Walther Kellinghusen ist Peter Hess erfolgreicher als ich. Ich hatte es telefonisch probiert, ohne Erfolg. Kein Verwandter dabei, der mit Walther verwandt war oder von seiner Geschichte wusste. Peter Hess hat es mit kleinen Zetteln an den Bäumen in der Wentorferstrasse in Bergedorf versucht. Er hat einen Kellinghusen gefunden und mir seine Telefonnummer gegeben.

Walther Kellinghusen Fotograf Das Foto hat Rudolf Heinrich Meyer von ihm gemacht.
Hans Adolf Kellinghusen Das Foto hat sein Bruder Walther Kellinghusen gemacht

Ich habe dann anschließend dreißig Minuten mit diesem Kellinghusen telefoniert. Er ist Jahrgang 1937. Die Villa des Vaters hat er nach dem Krieg abreißen lassen und auf dem Grundstück, das bis zur Strasse Am Baum 8 reicht, neu gebaut. Ein großes Grundstück. Das Haus in der Mitte. Weg von der lauten Wentorferstrasse.

Nach diesem Telefonat habe ich endlich verstanden, warum meine Eltern mit dem Rest der Familie Kellinghusen nach dem Tode von Walther nichts mehr zu tun haben wollten. Merkwürdige Formulierungen lassen mich stutzen. Hinterher denke ich: Wenn dieser Kellinghusen könnte, wie er wollte, aber das kann er nicht, dann würde er diesen Stolperstein verhindern. Er spricht von der Schande, die Walther über die Familie gebracht hat. Sprachlosigkeit überfällt mich. Ein Blick in den Kalender macht die Sache nur noch schlimmer. Die Gefängnisakten sind inzwischen vernichtet.

PDF Walther Kellinghusen Zelle 5

Es steht zu vermuten, dass die Vernichtung dieser Akten dem älteren Bruder, der 1933 zu stellvertretenden Direktor und Professor des Staatsarchives ernannt wurde, Hans-Adolf Kellinghusen sehr gelegen kam, wenn er die Vernichtung der Akten nicht selber initiiert hat, was zu vermuten ist. Einen Satz sollte ich vielleicht noch einmal wiederholen: Hans-Adolf Kellinghusen, war 1915 “Hilfsarbeiter im Staatsarchiv“ (Eintrag im Hamburger Adressbuch), 1932 Archivrat im Staatsarchiv und wurde im Jahre der Machtübernahme zum Professor und stellvertretenden Direktor des Staatsarchives ernannt. 1979 starb mein Papa. Er wurde 75 Jahre alt. 1987 starb meine Mama. Sie wurde 83 Jahre alt.

Gojenberg
Heinrich Meyer (Mein Opa) auf dem Gojenberg.
Heinrich Meyer geb. 15. Oktober 1867, gest. 21. Juni 1930, Fotografiert von Rudolf Heinrich Meyer
Tiere sehen Dich an (1)

Hamburg, d. 15. Dezember 2023

Hans-Adolf Kellinghusen (Ein Bruder des Photographen Walter Kellinghusen)

Walther Kellinghusen photographiert von Rudolf Heinrich Meyer
Archivrat Hans Adolf Kellinghusen, fotografiert von seinem Bruder Walther Kellinghusen.

Die Landeszentrale für politische Bildung schreibt über: Hans-Adolf Kellinghusen: „Hans Kellinghusen (1885 Bergedorf – 1971) 1908 Promotion zum Dr. phil. 1928 Archivrat, ab 1937 Mitglied der NSDAP, von 1948 bis 1951, Leiter des Hamburger Staatsarchivs, Roonstraße 7 in Hamburg Bergedorf (Privatadresse). Diese Straße gibt es heute nicht mehr. Jürgen Sielemann schreibt über Hans Kellinghusen: „ Seine Schreiben aus der NS-Zeit charakterisieren ihn als willigen und hartnäckigen Bürokraten der Rassenideologie, und dies auch im Dienst der mörderischen sogenannten Erbgesundheits-forschung. ‚Der gesamte Schriftverkehr mit parteiamtlichen Stellen vollzog sich […] völlig reibungslos‘, schrieb Kellinghusen 1935 und betonte die vielfältigen Beziehungen zum Sachverständigen für Rasseforschung beim Reichsminister des Innern und die umfangreiche Auskunftstätigkeit für den berüchtigten Fanatiker Dr. Wilhelm Holzmann vom Hamburger Amt für Rasseforschung. Für die Zukunft verkündete Kellinghusen 1935 das Folgende: ‚Der Erbgesundheitsforschung wird das Staatsarchiv ein ganz großes und reiches Material zur Verfügung stellen können. […] Die Ausnutzung dieses Materials für die Erbgesundheitsforschung steht erst in den Anfängen.‘(…)

In Kellinghusens Entnazifizierungsverfahren kam all dies nicht zur Sprache. In völliger Verkennung der Tatsachen charakterisierte ihn ein englischer Vernehmungsoffizier im September 1947 wie folgt: ‚Kellinghusen ist ein zivilisierter Mann westeuropäischen Zuschnitts. Er besitzt einen ausgeprägten Sinn für Humor und gutes Benehmen, aber kein Anzeichen für außer-gewöhnliche Intelligenz. Seine gesamte Persönlichkeit entspricht derjenigen eines unpoli-tischen Menschen und es ist äußerst unwahrscheinlich, dass er jemals mit radikalen Bewegungen sympathisierte.‘So war es dann kein Wunder, dass Kellinghusen in die Entnazifizierungskategorie V eingestuft wurde und damit zu den ‚Entlasteten‘ gehörte. Wenn Kellinghusen und Reincke [Heinrich Reincke Direktor des Staatsarchives] ‚nicht arische‘ Vorfahren von Antragstellern ermittelten, begnügten sich nicht damit, ihnen die geforderten Urkunden zuzustellen und den Fall damit als erledigt zu betrachten. In solchen Fällen informierten sie hinter dem Rücken der Antragsteller deren Arbeitgeber und Parteidienststellen vom Ergebnis der Nachforschungen. Zu diesen Denunziationen waren sie nicht gezwungen – sie handelten aus eigenem Antrieb. (…)

Wie viele Personen, die sich zur Urkundenbeschaffung an das Staatsarchiv gewandt hatten, von Kellinghusen und Reincke bei NSDAP- und anderen Stellen hinterrücks als ‚Vierteljuden‘, ‚Halbjuden‘ und ‚Volljuden‘ denunziert wurden, ist aufgrund der Aktenverluste nicht abzuschätzen. Nur ihre Auskünfte an die Gauleitungen von Berlin und Hamburg sind in größerem Umfang erhalten; sie weisen Mitteilungen über die jüdische Abstammung von über 300 Personen auf. (…)“. Was Kellinghusens und Reinckes Auskünfte in vielen Fällen angerichtet haben, lässt sich unschwer erahnen. (…)

Die erhalten gebliebenen Dokumente zeigen, dass Reincke und Kellinghusen durchaus nicht aus bloßem Opportunismus handelten, sondern von der nationalsozialistischen Rassenideologie überzeugt waren. Anders sind ihre Wortwahl und ihr Eifer auf diesem Gebiet schwerlich zu erklären. Davon war nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft allerdings keine Rede. 1951 trat Kellinghusen als Oberarchivrat in den Ruhestand, wurde 1960 mit der Lappenberg-Medaille des Vereins für Hamburgische Geschichte geehrt und 1966 zu dessen Ehrenmitglied ernannt. (…).“

„Als hauptverantwortliche Erfüllungsgehilfen des Rassenwahns sind die Professoren Heinrich Reincke und Hans Kellinghusen auszumachen“. (Seite 94, Jürgen Sielemann)

PDF  Walther Kellinghusen Zelle 5

Tier
Zeichnung Helga Bachmann

Die Rätsel der Elbstraße (I)

Die Rätsel der Elbstraße oder: Gibt es tatsächlich seriöse Quellen? Welche, die man nicht überprüfen muß?

Der Text über die Nutzung seriöser Quellen könnte so beginnen: Früher, als wir noch kein Internet hatten, konnte das nicht passieren! Abgesehen mal davon, wenn wir nicht aus seriösen Büchern, sondern beim Nachbarn abgeschrieben haben. So auch mein Verständnis: Internet, alle Quellen nachprüfen, nichts einfach abschreiben oder übernehmen. Schon gar nicht aus den Ergebnissen der Suchmaschinen. Bücher dagegen, sind meist seriöse Quellen, die man nicht noch mal extra prüfen muß. Stimmt leider auch nicht immer. Bei meinen Recherchen über die Elbstraße in Hamburg hat sich herausgestellt: Seriöse Quellen sind sehr selten bis kaum vorhanden. Im Gegenteil.

Unter dem Stichwort Elbstraße Hamburg erscheint in den Suchmaschinen meist die historische Hamburger Elbstraße. Diese zeichnet sich dadurch aus, das hier eine Verkaufsstraße war, die vorwiegend aus mobilen Ständen bestand. Im Volksmund hieß die Elbstraße deswegen Judenbörse: Ein Flohmarkt. Die Händler vor allem deswegen mobil, weil es den Händlern jüdischen Glaubens verboten war, ihre Waren in festen gemauerten Gebäuden anzupreisen. Um die Ecke das Millerntor. Das einzige Hamburger Stadttor, durch das nichtansässige Juden (ohne Wohnsitz in der Stadt) abends die Stadt verlassen konnten. Bekannt ist die Hamburger Judenbörse besonders durch die Fotos der Fotografenfamilie Hamann. Über die Talmud Tora Schule habe ich ein wenig gelesen. Eine Schule für jüdische Kinder, deren Eltern kein Schulgeld für die staatliche Schule aufbringen konnten. In der Talmud Tora Schule wurden sie unterrichtet. Ich stolpere in einem seriösen Buch über die Adressangabe für die Talmud Tora Schule, die 1805 in der Elbstraße 122 gewesen sein soll.

Gefunden, in einem Buch was zumindest einen seriösen äußeren Anstrich hat. Es handelt um einen Katalog in zwei Bänden mit dem Titel Die Juden in Hamburg von 1590 bis 1990. Wissenschaftliche Beiträge der Universität Hamburg zur Ausstellung »Vierhundert Jahre Juden in Hamburg«, herausgegeben von Arno Herzig in Zusammenarbeit mit Saskia Rohde. Erschienen im Dölling und Galitz Verlag, 1991, 98,– DM kosteten die drei Bücher in einem Schuber 1991.

Auf Seite 119 beginnt ein Artikel von Ursula Randt >Zur Geschichte des jüdischen Schulwesens in Hamburg (ca. 1780- 1942)<. Auf Seite 115 berichtet Ursula Randt über diese Talmud Tora Schule: “Drei wohlhabende Gemeindemitglieder stifteten ein geräumiges Schulgebäude an der Elbstrasse 122. Am 31. März 1805 wurde die Schule feierlich eingeweiht.“ (16).

Im Anhang an den Artikel befinden sich unter der Nummer 16 folgende Hinweise: Die Information „Elbstraße 122“ stamme aus dem Buch von Goldschmidt: Talmud Tora Realschule. Auf der Seite 15 wird die Anschrift genannt. Im Literaturverzeichnis lautet der Eintrag: “Joseph Goldschmidt: Geschichte der Talmud Tora Schule in Hamburg. Festschrift zur Hundertjahrfeier der Anstalt 1805-1905. Hamburg o.J. (1905)“.

Diese Schrift steht mir nicht zur Verfügung. Also kann ich es nicht irgendwo nachlesen. Nein. Also nix mit nach sehen. Aber wer die Elbstraße kennt und ihre Länge beurteilen kann, dem kommen, wie mir, Zweifel über die Hausnummer 122 der Elbstraße. Ein kurze Straße, die vor Zeiten auch nicht viel länger war. Nummer 122, kaum zu glauben.

Das nächste Buch, ist das von Reinhold Pabel: „Alte Hamburger Straßennamen“ (erschienen 2004 bei der Edition Temmen in Bremen in zweiter Auflage). Das Buch macht einen seriösen Eindruck. Die Elbstraße wird auf Seite 84 beschrieben: Bis 1899 war der Weg in Erste, Zweite und Dritte Elbstraße eingeteilt. Die Erste ging von den Hütten bis zur Peterstrasse, die Zweite von dort bis zum Steinweg und die Dritte von dort bis zur Schlachterstrasse.“ Bei Überprüfung stellt sich heraus: Reinhold Pabel hat sich geirrt. Hinzufügen könnte man: Er hatte noch kein Internet und mußte für die alten Hamburger Adressbücher aus jener Zeit jedes Mal ins Staatsarchiv fahren. (Früher ABC Strasse, ab 1998 noch weiter weg: In Wandsbek in der Kattunbleiche). Das verschlingt Zeit. Morgens bestellen. Und nach der Mittagspause im Lesesaal die Dokumente einsehen. Da haben wir es in der Tat leichter. Wir können die Adressbücher Online ansehen. Das ist natürlich viel einfacher geworden. Insofern ist es heute leicht zu mäkeln, wenn man Fehler findet.

Aus dem Hamburger Adressbuch, dem Straßenverzeichnis geht hervor, das die Elbstraße in gegensätzlicher Richtung verlaufen ist. Mit anderen Worten: Die Erste Elbstraße geht von der Schlachterstrasse bis zum Steinweg, die Zweite Elbstrasse geht vom Steinweg bis zur Peterstraße und die Dritte Elbstraße von der Peterstraße bis zur Straße Hütten.

Das ist das eine. Das andere: Alle drei Elbstrassen sind in dieser Zeit (bis 1900) einzeln nummeriert. Ursula Randt und vermutlich auch der zitierte Joseph Goldschmidt sind falsch informiert und informieren falsch: Eine Nummer Elbstraße 122 gibt es im genannten Zeitraum nicht.

Vielleicht ein Übertragungsfehler, der auf folgende Weise entstehen konnte: Die 1. Elbstraße Nr. 22 wird fälschlicherweise zu 1/22 zusammengezogen, daraus wird dann 122. Es steht also zu vermuten, das sich die genannte Talmud Tora Schule in der Ersten Elbstraße Nummer 22 befand. Auf der rechten Seite von der Schlachterstrasse Nr. 2 bis zum Neuen Steinweg. Nummer 22 ist das Haus an der Ecke Elbstraße/Neuer Steinweg. (Die erste Elbstraße ist fortlaufend nummeriert 2/3/4/5/6/ . . . 22). Ja, und dann noch das ungelöste Rätsel, warum und wann sie in Neanderstraße umbenannt wurde. Und auch der Namensgeber selbst stellt ein Rätsel dar. Hat er sich doch im Alter von stolzen siebzehn Jahren, diesen Namen und die drei Vornamen selber ausgedacht. Scheinbar mit Bedacht. So wurde aus dem Sohn jüdischer Eltern, die ihren Sohn einfach David Mendel genannt hatten, ein Mensch mit drei Vornamen: August, Johann, Wilhelm. Und aus dem Nachnamen Mendel wurde Neander. Den Grund dafür habe ich mit keiner Suchmaschine gefunden. David Mendel konvertierte zum Christlichen Glauben, ließ sich mit 16 taufen und studierte evangelische Theologie. (Kann man eigentlich evangelische Theologie studieren? Vermutlich nicht!) In diesem Fach brachte er es bis zum Professor (der evangelischen?) Theologie. Den neuen Namen hatte sich David Mendel damals selbst ausgedacht.

Wann die Umbennung dieser Straße tatsächlich erfolgt ist, kann ich leider nur vermuten. (So, wie alle Andern auch). Denn von 1943 bis 1949 haben die Hamburger Adressbücher, die im Internet stehen, keine Daten mit Straßenverzeichnissen. (Vermutlich hatten sie im Bombenkrieg keine Zeit und im Kuddelmuddel danach auch nicht, Adressbücher nach Straßen zu veröffentlichen.

Für die Elbstraße ist das fast ohne Bedeutung. In unserem Archiv befindet sich ein Foto von 1945 von der Elbstraße, das in einem Buch veröffentlicht wurde. (Mit einem Vorwort von Bürgermeister Rudolf Hieronymus Petersen, der am gleichen Tag 15. November 1945 vom britischen Stadtkommandaten Harry Armytage zum Bürgermeister ernannt wurde.) Danach gibt es 1945 nur noch ein Haus in dieser Elbstraße, das nicht zerstört wurde und stehen geblieben ist. Alle anderen Häuser der Elbstraße sind „dem Krieg zum Opfer gefallen“ wie es manchmal formuliert wird. Das einzige Haus, was noch da ist, steht am Ende der Elbstraße, an der Stelle, an der die Elbstraße in die Straße Hütten übergeht. (Stadteinwärts auf der linken Seite. Hausnummer 1943: Nr. 141. Die Häuser auf der rechten Seite, beginnend an der Schlachterstrasse mit Nr. 4. über den Neuen Steinweg (Nr. 52), die Peterstraße (Nr. 102), bis zur Marienstraße (Nr. 134) wurden von amerikanischen und englischen Bomberpiloten beseitigt. (Natürlich: Nicht ohne Gründe).

Ein weiteres Indiz für den Zeitpunkt der Umbenennung der Elbstraße: Im Archiv der Medienberatung gibt es den Nachdruck des ersten Falkplanes. (Fünfzig Jahre Falkplan 1995 – Nachdruck des Ersten Falkplanes von 1945). Dieser wurde nach Kriegsende 1945 gezeichnet und kam im Mai 1946 in den Handel. Und in diesem Plan gibt es eine Übersicht über die Straßen Umbenennungen 1946. Im Plan selbst heißt die Straße noch Elbstraße und ist in einem Stück. (wie seit 1900!). Aber in der Übersicht ist der neue Name Neanderstraße bereits verzeichnet. (Neu – Alt). Und noch eine Besonderheit. Im Falkplan, der im Mai 1946 auf den Markt kam, gibt es noch eine zweite Neanderstrasse in der Stadt. Es ist die Verbindungsstrasse von der Sievekingsallee über die Caspar Voght Strasse zu Hammerstrasse in Hamburg Hamm. Hier hatte man in der Nazizeit die Neanderstrasse in Quellenweg umbenannt. Und die erste Tätigkeit, die der neue erste Bürgermeister, der durch die britische Militärregierung ernannt worden war, Rudolf Hieronymus Petersen, war bekanntlich am 15. November 1946, die Rückbenennung aller Strassen, die in Nazizeit umbenannt worden waren. Allens klor?

Die Gründe für die Umbenennung der Elbstraße haben wir bis heute nicht herausgefunden. War es der von der Britischen Militärregierung eingesetzte Bürgermeister Petersen, der diese Straße umbenannt hat? Und wenn ja, warum? Von Petersen existiert das Gerücht, das seine allererste Amtshandlung als neu ernannter Bürgermeister war: Allen Straßen, die in der Nazi Zeit umbenannt worden waren, die alten Namen von vor 1933 zurückzugeben. Oder war es sein Nachfolger? Max Brauer? Der erste gewählte Bürgermeister nach dem Krieg. Auch über eine Nachfrage bei den Experten des Hamburg Museums konnte nicht eindeutig feststellt werden, wann und vor allem warum aus der Elbstraße die Zweite Neanderstraße wurde.

Rudolf Hyronimus Petersen
Foto 18. Juni 2016 Fotograf Vitavia

Originaleintrag Wikipedia (Abruf am 6. September 2020, 11.52 Uhr) Über Bürgermeister Rudolf Hieronymus Petersen fand ich bei Wikipedia: “Rudolf Hieronymus Petersen, geb. am 30. Dezember 1878 in Hamburg. gest. am 10. September 1962 in Wentorf bei Hamburg war ein deutscher Politiker (CDU) und von 1945 bis 1946 Erster Bürgermeister von Hamburg. Durch die britische Militärregierung, vertreten durch den Stadtkommandanten Armytage, wurde Petersen am 15. Mai 1945 zum Ersten Bürgermeister von Hamburg ernannt. Am 26. Juni 1946 trat er in die CDU ein. Er war bis zum 15. November 1946 Bürgermeister und wurde von Max Brauer (1887-1973, SPD) abgelöst.“ Das ist bei Wikipedia etwas verschwurbelt: Als er am 15. November 1945 von Harry William Hugh Armytage (Colonel- Artillerieoffizier der Britischen Militärregierung) zum Bürgermeister ernannt wurde, war Rudolf Hyronimus Petersen parteilos. In die CDU trat er erst ein Jahr später (am 26. Juni 1946) ein.

und bei Wikiwand: Über den ersten Hamburger Stadtkommandanten der Britischen Militärregierung: “Harry William Hugh Armytage (geb. 1890; gest.1967) war ein britischer Artillerieoffizier und erster Hamburger Stadtkommandant nach dem Zweiten Weltkrieg.“ “Leben: Armytage diente 1912/1913 zunächst als Soldat in Indien und kämpfte anschließend im Ersten Weltkrieg in Belgien und Frankreich gegen Deutschland. Dort ausgezeichnet mit dem „Military Cross“, wurde er am 3. August 1939 zum Colonel (Oberst) befördert. Während des Zweiten Weltkriegs war Armytage anfangs als Rekrutenausbilder in Großbritannien eingesetzt. Obwohl er Anfang 1945 mit 55 Jahren das Pensionsalter erreicht hatte, ließ sich Armytage erneut auf die „active list“ setzen und war im Stab der 2. Britischen Armee für mehrere Detachments zuständig. Ende April war er an der Befreiung des deutschen Kriegsgefangenenlagers Sandbostel („Stalag X B“) beteiligt und dort für die Versorgung der befreiten alliierten Kriegsgefangenen zuständig.

Elbstrasse 1892 Foto Strumper
Elbstrasse Foto von Wilhelm Dreesen 1901 (Hamburg Staatsarchiv)
Ausschnitt aus dem Foto von Wilhelm Dreesen 1901 Elbstrasse Kinder
Tiere sehen Dich an (1)

Die in der Nacht sich umgedreht . . .

pdfDieüberNachtsichumgedreht

Die über Nacht sich umgedreht. In der Taz hatte ich gelesen: “Die über Nacht sich umgedreht, zu jedem Staate sich bekennen, das sind die Praktiker der Welt – man könnte sie auch Schurken nennen.“ Dort wurde dieses Gedicht dem Herrn von Goethe zugeordnet, was aber nach der Meinung meiner Freundin Sabine, die sich viel mit Literatur beschäftigt, nicht sein kann. Der Geheime Legationsrat Johann Wolfgang von Goethe hätte so was niemals geschrieben war ihre Meinung. Der Dichter Beamte! Heute nun konnte ich Sabine berichten, welche Ergebnisse meine zweimonatige Suche nach diesem Text gehabt haben. Aber Eugen! Natürlich habe ich Dich dabei nicht vergessen! Eugen! Ich weiß, wie wichtig Dir die Antworten auf solche letzte Fragen sind. Auch in Corona Zeiten. So viel Zeit muß sein. Es darf nicht weitere zwölf Jahre bei www.Taz.de liegen, ohne dass jemand Notiz davon nimmt. Durch das Liegenbleiben oder Liegenlassen, das wissen wir beide, wird nichts besser.

Der Leserbriefschreiber aus Pulsnitz hat es den letzten Fragen der taz angedient. Schon am 9. Februar 2008!! Dort hat es nun zwölf Jahre herumgelegen. Die Behauptung, das Gedicht oder der Aphorismus sei von unserem Beamtendichter Johann Wolfgang von Goethe. Geboren am 28. August 1749. Nur nebenbei: Erst ab 1782 verwendet er das von! von Goethe!

Nur noch mal zur Klarheit und damit es keine Mißverständnisse gibt: Wer diesen Text in eine Suchmaschine eingibt: Wer in der Nacht sich umgedreht, den Mantel nach dem Winde . . . landet bei der Suchmaschine Google automatisch auf der Taz Seite mit der Beantwortung der letzten Fragen. Eine Vermutung, der Text stamme nicht von Goethe, sondern von Heinrich Heine führte mich dazu, ein wunderbares Büchlein zu kaufen (Sehr zu empfehlen) „Heine Sämtliche Gedichte“. Dünndruck. (Sämtliche Gedichte in zeitlicher Folge. Herausgegeben von Klaus Briegleb. Insel Taschenbuch 1963). Die 917 Seiten habe ich alle gelesen, aber das gesuchte Gedicht dort nicht gefunden.

Weitere Befragungen (z. B. im Buchladen in der Osterstrasse – 40 Jahre Buchladen Osterstrasse!!) führten mich zu Frage, ob vielleicht Goethe Kenner unter meinen Freundinnen und Freunden seien. Was merkwürdiger Weise nicht der Fall war. Die Buchhändlerin in der Osterstrasse hat mir dann geraten, mich in die HÖB (Hamburger Öffentliche Bücherhalle) am Hauptbahnhof zu setzen und die Gesamtausgaben von von Goethe zu studieren (was ich nicht gemacht habe). Aber dann habe ich im Antiquariat Pabel gefragt, ob sie vielleicht wissen, wem dieser Text zuzuordnen ist. Und heute morgen hat mir die Buchhändlerin mitgeteilt, was sie da herausgefunden hat. Eigentlich eine typisch deutsche Suche. Sie hat herausgefunden, wer diese Zeilen wirklich gedichtet hat und wem diese Zeilen noch so alles zugeschrieben werden. Ich würde sagen: Eine deutsche Suche hat jetzt ein Ende gefunden. Leider: Kein Heine. Kein Wilhelm Busch. Kein Goethe!

Welche Hilfsmittel ihr geholfen haben, weiß ich nicht. Vermutlich werden auch bei ihr Suchmaschinen mit im Spiel sein. Und jetzt habe ich auch kaum noch Zweifel an den Ergebnissen, wer dieses Gedicht, dass Heine, Goethe und Wilhelm Busch (Max und Moritz) zugeschrieben wird, in Wahrheit geschrieben hat. Also noch mal: Es ist nicht von Heine, nicht von von Goethe oder von Wilhelm Busch. NEIN!

Der Verfasser heißt: Bogislav Freiherr von Selchow. In seinem Gedichtbuch, das 1921 erschienen sein soll, soll es abgedruckt sein. Bogislav Freiherr von Selchow lebte vom 4. Juli 1877 – bis zum 6. Februar 1943 in Deutschland und wurde in Berlin beerdigt.

Von Beruf war Boguslaw, wie er auch genannt wird, Fregattenkapitän. Eugen, du kennst meine Biografie wie kein anderer. Ja, auch ich habe eine Seefahrtszeit hinter mir. Und richtig, auch an der Herstellung einer Fregatte war ich zeitweise beteiligt. Habe sie mitgebaut. Und deswegen war mir der Fregattenkapitän einige Momente lang irgendwie nah. Aber dann doch nicht mehr. Nachdem ich die Bewertung der Uni Marburg (die ihn einst verehrte) im Internet gelesen hatte:

Bogislav Freiherr von Selchow (04.07.1877-06.02.1943), Fregattenkapitän a. D. . Von Selchow kämpfte nach seinem Ausscheiden aus der Marine als Kommandant des Studentenkorps Marburg, einem bewaffneten Zeitfreiwilligenverband der Reichswehr, und als Anführer der paramilitärischen „Organisation Escherich“ in Westdeutschland gegen die Weimarer Republik. In seinen antisemitischen, völkisch-nationalistischen und republikfeindlichen Schriften trat er für den NS-Staat ein. Die Beteiligung an der Ermordung politischer Gegner konnte ihm nicht nachgewiesen werden. In dem bereits 1920 als Justizskandal wahrgenommenen Prozess gegen Mitglieder des Marburger Studentenkorps verteidigte von Selchow jedoch die Erschießung von 15 unbewaffneten Arbeitern nahe Mechterstädt und den anschließenden Freispruch durch das Kriegsgericht in Marburg. Die Ehrensenatorwürde wurde ihm am 09. 07. 1939 im Rahmen des vom Nationalsozialistischen Studentenbund veranstalteten Marburger Studententags „für seinen Kampf für die nationalen Ideale“ verliehen. Die Ehrung ist aus heutiger Sicht untragbar. Der Senat der Philipps-Universität Marburg missbilligt und distanziert sich von der Verleihung der Ehrensenatorenwürde. Er verurteilt das menschenverachtende Wirken von Selchows in der Weimarer Republik auf das schärfste.

Immerhin auf der Internet Seite der betreffenden Uni Marburg gefunden. Das hätten wir doch nicht gedacht oder? Und dieses Wissen verdanken wir der Buchhändlerin vom Antiquariat Pabel. Wieder etwas, was wir eigentlich gar nicht wissen wollten.

PDF Reichstag

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, Ich kenn‘ auch die Herren Verfasser; Ich weiß, sie tranken heimlich Wein. Und predigten öffentlich Wasser. (Aus: Heinrich Heine. Deutschland. Ein Wintermärchen)

Heinrich Heine, Sämtliche Gedichte in zeitlicher Folge, herausgegeben von Klaus Briegleb als Insel Taschenbuch, Dünndruckausgabe, Seite 441. Überschrift: Gegen Tendenzdichter. 3 (1837 – 1844)

 Du singst wie einst Tyrtäus sang,
 Von Heldenmut beseelet,
 Doch hast du schlecht dein Publikum  
 Und deine Zeit gewählet. 
 
 Beifällig horchen sie dir zwar,
 Und loben schier begeistert:
 Wie edel dein Gedankenflug,
 Wie du die Form bemeistert. 
 
 Sie pflegen auch beim Glase Wein
 Ein Vivat dir zu bringen,
 Und manchen Schlachtgesang von dir
 Lautbrüllend nachzusingen. 
 
 Der Knecht singt gern ein Freiheitslied
 Des Abends in der Schenke:
 Das fördert die Verdauungskraft  
 Und würzet die Getränke. 

Nachtrag:

Originalton aus der Taz vom 9. Februar 2008, Letzte Fragen:
“Wer der Zeit hinterherhinkt, wie Erich Honecker: „Der antifaschistische Schutzwall wird noch in hundert Jahren Bestand haben“, oder ihr vorauseilt, wie Giordano Bruno: „Die Erde steht nicht starr im Mittelpunkt der Welt“, hat es schwer in der jeweiligen Zeit. Nur die sich dem Zeitgeist anpassen, wie zum Beispiel Günter Schabowski und Wolf Biermann, kommen ganz gut zurecht. Hier erinnere ich an den Aphorismus von Johann Wolfgang von Goethe: „Die in der Nacht sich umgedreht, den Mantel nach dem Winde hängen und sich zu jedem Staat bekennen, das sind die Praktiker der Welt – man könnte sie auch Schurken nennen!“ von Erhard Jakob, Pulsnitz.


Bleiben ein paar Fragen. Stimmt die Herkunft der Zitate, die von Erhard Jakob aus Pulsnitz den Autoren Giordano Bruno und Erich Honecker zugeordnet werden? Ich habe es nicht überprüft. Wobei der Wechsel vom Freiherr zum Geheimen Legationsrat teilweise der Tatsache geschuldet ist, das die Militärregierung (wie wir das im Westen genannt haben) die Bücher des Fregattenkapitäns Bogislav Freiherr von Selchow auf die Liste der auszusortierenden Literatur gesetzt hatten. Und das hat nicht nur in der SBZ, sondern auch in der BZ (Britische Zone) in Hamburg gut funktioniert. Keine Bücher des Fregattenkapitäns im Katalog der HÖB. Vielleicht unter dem Ladentisch? Wer weiß.


Der Katalog der HÖB (Hamburger Öffentliche Bücherhallen) enthält keine Literatur (auch keine Gedichte) von Bogislav Freiherr von Selchow, aber jede Menge Literatur des Geheimen Legationsrates Johann Wolfgang von Goethe (von Goethe ab 1782). Für die Zukunft merken wir uns: Abschreiben ja. Aber noch mal selber nachsehen. So viel Zeit muß sein.
Howaldtswerke (HDW) am 18. September 1964. Stapellauf des Schiffes Maratha Progress, Heimathafen Bombay. Foto von Jens Meyer

Sonnabend, d. 18.09.1964 Stapellauf bei HDW. Maratha Progress. Foto Jens Meyer

Die Übersetzung der Suchmaschine: „Those who turn around in the night, hanging their cloaks to the wind, these are the practical people of the world, one could also call them scoundrels.“

Hamburg November 1945

Sir Arthur Harris Chef der Bomberpiloten

Holsatia Werke

Holsatia 1912 -1945 . Gründer und Inhaber war Julius Neumann (1869 – 1930). Der zweite Besitzer war Erich Buchholz (1893 – 1932). Julius Neumann und Erich Buchholz waren Juden.

Adressbuch Altona 1930 Straßenverzeichnis Arnoldstraß 16-20
Adressbuch Altona 1930, Straßenverzeichnis Arnoldstraße 16-20

1912 Holsatia Neumanns Spezial Möbel Fabrik Arnoldstrasse 16 – 20 Geschäftsführer Julius Neumann 1925 Holsatia Werke Neumann Arnoldstrasse 22 1926 Holsatia Werke Neumann KG auf Aktien Arnoldstrasse 3/5 1927 Holsatia Werke Neumanns Holzbearbeitungsfabriken Aktiengesellschaft (A. G.) Arnoldstr. 3 /5 1928 Holsatia Werke Neumanns Holzbearbeitungsfabriken Aktiengesellschaft (A. G.) Arnoldstr. 3 /5 1929 Holsatia Werke Neumanns Holzbearbeitungsfabriken Aktiengesellschaft (A. G.) Arnoldstr. 3 /5 1930 Holsatia Werke Aktiengesellschaft (A. G.) Kluckstrasse 4 (E = Grundeigentümer aus dem Adressbuch von Altona) 1933 Holsatia Werke Aktiengesellschaft Kluckstrasse 4 / Kruppstrasse 59 1935 Holsatia Werke Aktiengesellschaft, Kruppstrasse 57/59

Vermutlich ein Foto von Julius Neumann dem Gründer und deren erster Besitzer der Holsatia Holzbvearbeitungsfabrik

Folgende Vermutung liegt nahe: Bei dem Unternehmen, von dem Dimitry Rostowsky (Dimitry Rostowsky Zwangsarbeiter bei der Firma Holsatia; verschleppt aus der Ukraine nach Deutschland) erzählt hat, handelt es sich um die ehemals jüdische Fabrik, die 1912 unter dem Namen Holsatia Neumanns Spezial Möbel Fabrik, von dem jüdischen Unternehmer Julius Neumann, Arnoldstr. 16 – 20, gegründet und betrieben wurde.

Der spätere Fabrikbesitzer Heinz Meyer (Firma: Holsatia-Werke Heinz Meyer KG Hamburg) wollte von ihm nach 1945 einen Persilschein*, dass er immer gut zu den 700 „Ostarbeitern“ gewesen sei. Diesen Schein hat Dimitry R. nicht unterschrieben. Heinz Meyer wohnte in Flottbek / Othmarschen, Noerstrasse 11. (Im Adressbuch von Hamburg, Strassenverzeichnis 1951 ist als Eigentümerin des Grundstücks eingetragen: Meyer, I. später: 1952-1965: Meyer, Frau Irmg.). Als Mieter: Meyer, Heinz, Fabrikt.). Heinz Meyer ist später gestorben. Hat aber seine Fabrik zurückerhalten, die sein Sohn später übernommen hat. Nach weiteren Recherchen stellt sich heraus: Die Firma hiess: >Holsatia-Werke Heinz Meyer KG< in Hamburg.

Tier
Zeichnung Helga Bachmann

Out of the past – Ich hatte das ganz vergessen- Ein Beitrag zur Abgabenordnung (AO) (Vor knapp 30 Jahren- und doch klingt es wie heute)

Abschrift eines Briefes an das Finanzamt für Körperschaften Hamburg Ost, Abteilung Vereine, in 20045 Hamburg- und gleichzeitig an den RTL in Köln (an die Sendung “Wie bitte“) 5000 Köln mit gleicher Post. Es schreibt der bis dahin Gemeinnützige Verein: Medienberatung & Vermitlung e. V. Bartelstrasse 12, 20357 Hamburg an das Finanzamtfür Körperschaften Hamburg Ost und kündigt an, dass er selbiges Schreiben auch an den Sender RTL, Redaktion “Wie Bitte“ 5000 Köln schicken will. (Leider erinnere ich nicht mehr, ob er (der Verein) tatsaechlich geschickt hat, oder ob nur damit gedroht wurde). Inzwischen ist das Gebäude von RTL in Köln Junkersdorf abgerissen. Medienberatung & Vermittlung e. V. Steuernummer 17/434/01367

Hamburg, d. 26.08. 1994 Sehr geehrte Redaktion, Sehr geehrte Finanzbeamte, seit dreieinhalb Jahren wird der Verein Medienberatung & Vermittlung e. V. vom Finanzamt für Körperschaften Hamburg Ost traktiert. Das ist ja an sich nichts besonderes, das das Finanzamt die Leute traktiert. Davon kann eine große Anzahl von Literaturproduzenten seinen Lebensunterhalt bestreiten, wenn sie veröffentlichen, wie Finanzämter Leute schikanieren.

Aber was hier vom Finanzamt Hamburg Ost veranstaltet wird, geht dann doch über das übliche Maß hinaus. Ich will versuchen, den Fall so anschaulich wie möglich zu schildern: 1983 fanden sich zehn Kinonarren zusammen, die die Filme des amerikanischen Komikers W. C. Fields besonders liebten und bedauerten, dass diese niemals in Hamburger Kinos gezeigt wurden. Da weder Verleiher noch Kinobesitzer zu überzeugen waren, die insgesamt 20 Filme nach Deutschland zu bringen und zu veröffentlichen, beschlossen diese Kinonarren einen Verein zu gründen, der Filmkopien importieren und diese Filme öffentlich zugänglich machen sollte. Es wurde der Verein Medienberatung & Vermittlung e. V. gegründet. Die Satzung wurde so gestaltet, dass sie nach einigen Schwierigkeiten mit dem Finanzamt 1984 als gemeinnützig anerkannt wurde. In einem 40 Plätze Cafe in Hamburg Altona, das inzwischen (1991) abgerissen wurde, überließ die Besitzerin dem Verein eine nicht genutzte Abstellkammer von ca. 15 qm, in denen der Verein tagen und sich Filme ansehen konnte.

Man hat sich diesen Abstellraum ungefähr so vorzustellen: ohne Fenster, den geliehenen 16 mm Projektor im Raum aufgestellt, eine feuchte Außenmauer, eine Bildwand, 10 Stühle von Sperrmüll. Später wurde es dann etwas komfortabler: Eine Projektionskabine, alte Kinostühle, ein Fenster, eine Klappleinwand. Zwei mal im Monat wurden die Kopien der Filme gezeigt, die man aus den USA importiert hatte.“My little Chikadee“, “Never give a sucker an even break“, “The big broadcast“, “The old fashioned way“. Um neue Freunde zu gewinnen, wurde einmal monatlich ein DIN A 4 Zettel mit den Filmtiteln und Beschreibungen kopiert und im “Oelkers Cafe“ in 50 Exemplaren ausgelegt. Wenn man die Stühle recht eng rückte, dann konnten 19 Personen Platz finden. Da das Werk des Komikers Fields endlich ist (es gibt ungefähr 20 Filme mit ihm), begann man später auch, andere Filme bei 16 mm Verleihen in Deutschland auszuleihen und vorzuführen. Es handelte sich um Filme, die im Kino nicht, bzw. nicht mehr gezeigt wurden und die die Vereinsmitglieder gerne mal auf einer Leinwand wiedersehen wollten.

Die dafür nötigen Gelder wurden durch Spenden und Mitgliedsbeiträge aufgebracht.

Die Menge der Vorführungen und die Anzahl der importierten Kopien richtete sich nach den vorhandenen Geldern des Vereins. Eine Filmkopie in den USA kostet ca. 400 USD, der Ausleih einer 16 mm Kopie zwischen 150 und 300 DM für einen Tag. Die vorhandenen Vereinsmittel waren jährlich unterschiedlich – je nach Spendenaufkommen – bewegten sich aber in der Regel zwischen 5.000– und 10.000,– DM jährlich. Da keine Raummiete zu entrichten war, konnte die Vereinsarbeit damit gemacht werden. Der Mitgliedsbetrag wurde auf 5,– DM im Monat festgesetzt.

Alle drei Jahre werden die Vereine nachträglich auf ihre Gemeinnützigkeit überprüft. Die erste Prüfung durch das Finanzamt Hamburg Ost nach drei Jahren Gemeinnützigkeit ergab keine Beanstandungen. Da das Kind einen Namen brauchte, nannten wir es eingedeutscht nach dem Geburtsnamen des Komikers William Claude Dukinfield das “Duckenfeld im Oelkerscafe“. Diese Überprüfung macht das Finanzamt mithilfe eines 4-seitigen (vierseitigen) Fragebogens. Der Fragebogen reicht über drei Jahre. In diesem Fall von 1986/87/88. Durch eine größere Spende, war der Verein 1988 in der Lage, einen größeren Projektor und eine gute Tonanlage (zusammen ca. 15.000,– DEM) anzuschaffen und eine Mitarbeiterin auf Teilzeitbasis für die bisher nur ehrenamtliche Arbeit zu bezahlen. Insgesamt gab es 1988 Einnahmen von fast 40.000,– , denen Ausgaben von 41.000,– (für Projektor/Tonanlage und Honorare auf 590,– DM Basis gegenüberstanden, so daß die kleineren Rücklagen aus den Vorjahren angegangen werden mussten.

Diese 40.000,– DM aus 1988 müssen im Finanzamt grelle Fantasien ausgelöst haben. Ich stelle mir das so vor, wie in Billy Wilders Film “Manche mögens heiß“. Die Gangsterbosse aus ganz Amerika machen in Florida eine Konferenz und nennen ihren Verein “Die Freunde der italienischen Oper“.

Jedenfalls begann hier der Ärger mit dem Finanzamt Hamburg Ost, der sich bis heute hinzieht: Am 26. Februar 1991 teilte ein Herr Fischer von Finanzamt mit, das er nach der Prüfung des Fragebogens für die Jahre 86/87/88 zu der Meinung gelangt sei, daß der Verein mit seinen 19 Stühlen und den Vorführungen an den Wochenenden in die Konkurrenz zu anderen gewerblichen Kinos trete.

Niemand sonst, der die Abstellkammer und das Programm einmal gesehen hatte, konnte auf eine solche Idee kommen. Kein einziger Kinobesitzer in Hamburg, schon gar nicht die drei Kinomarktführer Riech (Ufa), Flebbe und Union mit fast 20.000 Sitzplätzen pro Tag waren jemals auf die Idee gekommen, das das “Duckenfeld im Oelkerscafe“ eine Konkurrenz für sie darstelle. Zumal sie an den gezeigten Filmen aus ökonomischen Gründen auch völlig uninteressiert waren. Aber Finanzbeamter Fischer meinte dies und forderte einen ausführlichen Tätigkeitsbericht des Vereins an. Dieser wurde abgefasst und übersandt, befriedigte jedoch den Beamten nicht, so daß kurze Zeit später mehrere Steuerbescheide, allerdings mit Nullsummen (d. h. es sollte kein Geld bezahlt werden) erfolgten und dem Verein für die vergangenen drei Jahre (86/87/88) die Gemeinnützigkeit versagt wurde. Die Bescheide tragen das Datum vom 18.03.1992. (Körperschaftssteuer / Gewerbesteuer für 1988).

Wir fanden uns dagegen durchaus gemeinnützig und legten Widerspruch gegen die Bescheide ein. Aufgrund dieses Widerspruchs erhielt ich von der Widerspruchsstelle des Finanzamtes einen Anruf von einem Herrn Klein. Er bat mich >zur Klärung des Sachverhaltes< zu einem persönlichen Gespräch ins Finanzamt für Körperschaften. Dort erklärte mir der Finanzbeamte Klein, dass er demnächst auf eine andere Dienststelle versetzt werden würde. Dies wäre sozusagen sein letzter Fall und der mache ihm viel Arbeit. Außerdem wäre unser Widerspruch ohne Aussicht auf Erfolg und auch ohne finanzielle Nachteile. Die Spender hätten ihr Geld bereits vom Finanzamt erstattet bekommen, Steuern müsste der Verein nicht bezahlen. Kurz: ob der Vorstand des Vereines den Widerspruch nicht zurücknehmen könne? Der Gedanke gefiel mir (auch im Hinblick auf die Überlastung der Finanzbeamten, von denen man immer wieder in der Zeitung lesen kann) und ich versprach, mich beim Vorstand des Vereins für diese Lösung einzusetzen. Der Finanzbeamte Klein hatte jedoch verschwiegen, dass das Finanzamt mit Wegfall der Gemeinnützigkeit jährliche Steuererklärungen (Körperschaft / Gewerbe u. a.) fordern würde, die dem vierseitigen Fragebogen alle drei Jahre bei weitem überstiegen und eine umfangreiche Arbeit erforderten. Die entsprechenden Formulare wurden als Paket übersandt. (Das gab es damals noch). So hatte ich mir die Arbeitsentlastung des Finanzbeamten Klein jedoch nicht vorgestellt. Der Vorstand nahm daraufhin seinen Widerspruch auch nicht zurück. Aber das Finanzamt schickte auch keinen Bescheid, gegen den eine Klage beim Finanzgericht möglich gewesen wäre. Herr Klein war inzwischen in eine andere Dienststelle aufgestiegen und mit dem Fall nicht mehr befasst.

Zwischenzeitlich war ich in den Vorstand des Vereines gewählt worden und so schrieb ich am 16. Mai 1994 eine Mahnung (per Einschreiben) an das Finanzamt, wo denn der Widerspruchsbescheid bleibe? Es meldete sich der Finanzbeamte Albinger, der uns aufforderte den Berg von Papier endlich auszufüllen. Der Widerspruch würde – inzwischen seit einigen Jahren – von einer anderen Abteilung beantwortet werden. Gleichzeitig erfolgten Steuerbescheide mit Zahlungsaufforderung in einer Gesamthöhe von zusammen 20.000,– DM für die vergangenen Jahre. Gleichzeitig erlaubte sich der Finanzbeamte Albinger noch den Hinweis, dass wir uns mit dem Widerspruchsbescheid in Geduld fassen sollten. Um die Unsinnigkeit solcher Forderung (20.000,– DM bei 19 Mitgliedern, die pro Monat 5,– DM zahlen sollen) deutlich zu machen, übersandte ich Anfang 1994 dem Finanzamt die Gewinn und Verlustrechnung des Vereins für die Jahre 1991/1992/1993 (10.000,–/6.000,–/4.000,– Gesamtumsatz) als Überschuß blieben: jeweils 276,–/330,–/3.000,–DM). Die Zahlen machten auf den Finanzbeamten Albinger keinen Eindruck, sondern führten nur zur Übersendung eines weiteren Fragebogens, mit der Frage, nach welchem Buchführungssystem wir arbeiten würden.

1991 wurde das Oelkerscafe geschlossen und 1992 abgerissen. Der Verein verlor damit auch seinen kostenlosen Abstellraum “Duckenfeld im Oelkerscafe“. Seit dieser Zeit lagern die Filmkopien bei verschiedenen Vereinsmitgliedern. Für die Anmietungen von Räumen reicht das Geld nicht und auch die Spendenbereitschaft ist sehr zurück gegangen. Die Aktivitäten des Finanzamtes dagegen nahmen in der Folgezeit rasant zu. Zwar warten wir bis heute noch auf einen klagefähigen Widerspruchsbescheid, aber eine Vorstandskollegin aus unserem Verein erhält jede Woche eine Mahnung vom Finanzamt an ihre Privatanschrift. Mal Körperschaftssteuer für das erste und zweite Quartal 94 in Höhe von 800 DM, mal Gewerbesteuer, mal dies mal das. Am Telefon vom Finanzbeamten Albinger ist ein Anrufbeantworter, der darauf hinweist, daß er an drei Tagen in der Woche telefonisch von 8-12 Uhr zu erreichen sei und dass das Gerät anschließend abschaltet. Nur erreichen kann man ihn nicht und wenn man doch einmal das zweifelhafte Vergnügen hat, eine menschliche Stimme am Telefon zu hören, dann bekommt man nur die immer gleich lautende Auskunft, zunächst seien die Steuerklärung vollständig ausgefüllt zu übersenden. Vorher könne er gar nichts für einen tun. Davon, dass eine solche Arbeit schon aufgrund der vorgelegten Zahlen völlig unsinnig sei und mit Sicherheit aus diesem Verein mit seine jährlichen Überschüssen von 150,– DM – 300,– DM keine geschätzten 25.000,– DM herauszuholen seien, das möchte der Sachbearbeiter (welche Sache wird dort eigentlich bearbeitet?) nicht hören. Dagegen vermutet der fleißige Sachbearbeiter offensichtlich eine geheime, unerschöpfliche Geldquelle des Vereins, die er angesichts der Haushaltslöcher des Hamburger Senats zu erschließen gedenkt.

In einem Schreiben fragt er an, welche Verbindungen der Verein zum 3001 Kino hat. Doch dieses Unternehmen ist – das müßte er als Finanzbeamter doch leicht herausbekommen – eine GmbH. Das steht schon an der Eingangstür des Kinos. Vielleicht sollte man es mal mit einer Dienstaufsichtbeschwerde versuchen, die auch das Finanzamt und seine Beamten und Angestellten wieder auf den Boden der Realitäten zurückbringen könnte. Aber vorher erscheint es mir doch sinnvoller den Fall in die Öffentlichkeit zu bringen. Wie Bitte von RTL – ist, nachdem ich die Sendung öfter gesehen habe, meiner Meinung nach, der richtige Ort dafür. Auch im Hinblick auf eine stille Hoffnung, es gäbe möglicherweise mir unbekannte Mitarbeiter in der Finanzverwaltung, die diesem unsinnigen Treiben einiger Beamter auch ein Ende machen könnten. Man soll ja die Hoffnung nie aufgeben. Bei unserem Vorbild wäre der Verdacht der Steuerhinterziehung angebracht gewesen, aber für das Finanzamt Hamburg Ost sicher nicht erreichbar.

Als W. C. Fields am 24.12.1946 starb, stellte man fest, das er in 30 verschiedenen Ländern fast 200 Konten mit nicht unbeträchtlichen Beträgen auf seinen Namen eröffnet hatte. Außerdem fanden sich große Mengen Dosenbier und Konserven in seinem Haus, weil (er) beständig Angst hatte, vom Hunger oder vom Durst überrascht zu werden. Leider sind der Medienberatung und Vermittlung e. V. von diesem Geld- und Warenbeständen keine Erlöse zugeflossen. Auf dem Postscheckkonto des Vereins sind gerade mal 39,50 DM.

GIB EINEM TROTTEL KEINE CHANCE: Mit der Filmkopie “Never give a sucker an even break“ frei übersetzt (vornehm) – es gibt auch noch eine andere Variante, “Gib einem Trottel keine Chance“ kann das Finanzamt sicher auch nichts anfangen. Sie haben offensichtlich an sich selber genug, freundliche Grüße Jens Meyer (Anbei noch Foto des Komikers, damit wir wissen, wovon die Rede ist.)

Grafik aus dem Vorspann von The Bank Dick. New York 1972. Edited by Richard J. Anobile
Buchumschlag des Buches: W. C. Fields and me. Carlotta Monti. GB 1974 London Jacket design Ken Caroll

Carlotta Monti (25. Januar 1907 – 8. Dezember 1993)

Oelkers Cafe
Nilpferd
Zeichnung Helga Bachmann

Jäger des verlorenen Schatzes oder Mein Freund der Rechtsanwalt

Neulich erhielt ich Post von meinem Freund, dem Rechtsanwalt. Er hatte mal wieder telefonischen Kontakt mit der freundlichen Dame vom Grundbuchamt. Aber, leider, leider, die entsprechenden Blätter aus dem Grundbuch sind nicht auffindbar. Zufällig handelt es sich um zwei Grundstücke, auf denen früher Kinos standen. Heute sind es die so genannten Sahnegrundstücke der Hamburger Innenstadt: Dammtorstrasse 14 und Gänsemarkt 43. Die Kinos hiessen Waterloo Theater und Lessing Theater und es wird behauptet, daß sowohl die Grundstücke, als auch die Kinos die darauf standen, den Kinobesitzern selber gehörten.

Nur beweisen kann man es nicht, solange die entsprechenden Grundbuchblätter fehlen. Dagegen sind die Grundbuchblätter ab 1938 für die entsprechenden Grundstücke vorhanden. Aber auch die sind nicht jedermann zugänglich. Der Datenschutz, versteht sich. Das war nicht immer so. Bis 1970 waren die Grundbesitzer in den Adressbüchern abgedruckt. Merkwürdig, wie sie und warum daraus verschwunden sind. Da heißt es entsprechende Vollmachten zu besorgen und wer kann sich schon Vollmachten besorgen von Menschen, die von deutschen Bürgern umgebracht wurden?

Und genau da beginnt die Sache mit der Geschichte der Hamburger Kinos schwierig zu werden. Inzwischen sind seit jener Zeit zwei Generationen vergangen. Die Opfer sind tot, die damaligen Täter, die ihren Kindern eingeredet hatten, dass Sie ein Opfer ihrer Zeit waren und keineswegs Täter, und auch die Kinder, die ihrerseits zur Legendenbildung beigetragen haben, ihre Väter hätten das enteignete Eigentum rechtmäßig erworben, sind inzwischen verstorben. So ist ein nüchterner Blick auf die Hamburger Kinogeschichte heute eher möglich, als noch vor zwanzig Jahren, als ich mit den Recherchen zur Geschichte der Hamburger Schauburg Kinos begonnen habe.

Der Eigentümer, so behaupte ich, der Grundstücke Gänsemarkt 48, Büschstrasse 1, belegen im Grundbuch Neustadt Nord, Band XVI, Blatt 776, Flurbuch Nr. 818 , Grösse 270 qm und Gänsemarkt 46 und Büschstrasse 2, belegen im Grundbuch Neustadt Nord XVII, Blatt 818, Flurbuch Nr. 861, war Jeremias genannt James Henschel, geboren in Hamburg, am 5. Februar 1863, Staatsangehögikeit: deutsch, Religion: jüdisch, verheiratet mit Friderike Henschel, geb. Blumenthal, drei Kinder. James Henschel ist von Beruf Kaufmann. Im August 1938 flüchtet das Ehepaar zu Ihrer Tochter Bianca nach Holland, die sich dort mit einem portugiesischem Konsul verheiratet hat und seit dem Bianca Kahn heisst.

Ein Jahr später – am 26. August 1939 – stirbt Jeremias Henschel im Exil in Scheveningen/Holland. (Wohnanschrift von James und Frida Henschel bei ihrer Tochter Bianca Kahn und Dr. Isidor Kahn, Scheveningen, Kapelplein 7 am 8. September 1939) Am 13. Juni 1939 beantragt der Oberfinanzpräsident Hamburg bei der GESTAPO die Ausbürgerung von Jeremias Henschel. Im Monat darauf am 7. Juli 1939 beantragt die GESTAPO Hamburg bei der GESTAPO Berlin die Ausbürgerung von Friederike Henschel, geb. Blumenthal. Am 16. September 1939 ist die Bekanntmachung der Ausbürgerung von Jeremias Henschel und Friderike Henschel durch den Reichsminister sowie sofortiger Beschlagnahmung des gesamten Vermögens. Wer sich auf die Suche nach den Kinoeigentümern macht, denen die Kinos früher – vor 1933 – gehört haben, hat es nicht leicht. Die Spuren sind gründlich verwischt, die Quellen werden gehütet. So werden die nicht auffindbaren Seiten der Grundbücher zum Hüter der verlorenen Schätze und haben damit fast Kinoqualität. Jens Meyer 9. Dezember 2004