ich hoffe, dass du gut da oben angekommen bist – wie sieht es denn da auf deiner Wolke so aus? Bist du ein wenig glücklich, diesem hier unten waltenden Irrsinn endlich entkommen zu sein? Deine Bea, deine Schauspieler und ich müssen hier noch etwas ausharren. Na gut, wir können hier Sekt, Bier und Wein trinken, um unsere Trauer seit deinem Verschwinden von diesem Kampfplaneten durchzustehen.
Du weißt ja, ich habe viele Jahre nicht weit von Berchtesgaden gelebt. Wenn ich da mal so einen wie dich getroffen hätte, wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass du ein echter Bayer bist. Denn der wirklich echte Bayer ist klein, ja gedrungen, dunkelhaarig und zuweilen dick, na gut, weil er viel Schweinefleisch isst und viel gutes Bier zu trinken vermag. Du warst rothaarig. Und die Rothaarigen sind ja immer etwas den schwarz-, blond-, braunhaarigen und Glatzen stets ein paar Schritte voraus.
Auch
Du! So lange ich noch nicht ganz dement bin, versuche ich mal ein
paar Geschichten aus unserer gemeinsamen Vergangenheit zu erzählen.
Kannst du mich hören und verstehen? Wenn nicht, bringe ich dir
diesen Brief mal später da nach oben mit. Also, kennen gelernt haben
wir uns um 1971. Du kamst, wenn ich nicht irre, mit Rainer März in
meine WG in der Schöneberger Bülowstr. 29. Rainer kannte ich aus
der Kreuzberger Stadtteilgruppe, und wir wohnten ein halbes Jahr etwa
in einer WG von einem Psychiater in der Kreuzberger Görlitzer
Straße. Egal.
Jedenfalls
hast du dich bei uns mit meinen Mitbewohnern Wanda, Cornelius,
Rainer, Ilse, Konrad und dem Luxemburger René schnell eingelebt. Und
noch bis vor ein paar Wochen hast du mir immer wieder, sobald das
Wort Bülowstraße erklang, von deinem selbstlosen Arbeitseinsatz bei
mir erzählt. Du hattest auf meine Bitte hin, Fotos aus
Spiegelheften, Konkret’s, Stern’s usw. ausgeschnitten und in
einen Leitzordner fein säuberlich eingeordnet. Diese Akten habe ich
noch immer. Es handelte sich da meist um politische Motive,
Vietnamkrieg usw. Diese Bilder brauchten wir zuweilen für unsere
Kreuzberger Stadtteilzeitung.
Und da
fällt mir noch etwas sehr Lustiges ein. In diesen linken
Konkret-Heften, die damals in den siebziger Jahren ein Klaus Rainer
Röhl, der damalige Ehemann von Ulrike Meinhof, herausbrachte, wurden
neben politischen Themen immer häufiger auch Nacktfotos
veröffentlicht. Und beim Ausschneiden kam dir eines Nachts, wann
auch sonst, der Gedanke ein gutes Geschäft mit der Produktion von
Pornopuzzles zu machen. Du hast dann einfach diese Sexbilder nebenher
auch ausgeschnitten, dann auf Pappe geklebt und mit der Schere
wahllos zerschnitten.
Dann hast
du, ich weiß nicht mehr in welchem Presseorgan, eine Anzeige mit dem
Text: „Pornopuzzles zu verkaufen, DM 9,99“ aufgegeben, dann
folgte Adresse und Postscheckkontonummer. Und du hast dich über die
ersten Bestellungen sehr gefreut, ja was macht man nicht alles, um in
einer Großstadt wie Berlin zu überleben. Du hast es immer wieder
geschafft. Dann verschwandest du plötzlich mit Rainer nach England.
Clemens Kuby hatte da wohl eine Connection zu einer
britisch-revolutionären Filmcrew mit dem Namen „cinema action“.
Dort in
London sollst du dich nach Aussage von Rainer März in eine hübsche
Brasilianerin verknallt haben. Okay, warum auch nicht, aber du kamst
wieder in die Frontstadt zurück und bewarbst dich an der Film-und
Fernsehakademie am Theodor-Heuss-Platz. Und sie haben dich ohne
Abitur und Studium dort aufgenommen. Diese Akademie stand unter
starken Druck der linken Studenten, und diese bevorzugten Menschen
aus proletarischen Verhältnissen.
Deine
Eltern waren ja, nach deinen Schilderungen, nicht unbedingt Proleten.
Beide Elternteile arbeiteten in der Gastronomie und in der Verwaltung
von Altersheimen. Warum Dein Vater mit dir nicht klarkam, habe ich
erst verstanden als ich von dir hörte, dass du in Berchtesgaden mit
verrückten Kumpels über Autodächern gelaufen bist. Und dann
irgendwann seid ihr betrunken nach dem Besuch in einer Disko gegen
einen Baum gefahren. Du warst der Einzige von vier Mitfahrern, der
dieses Unglück überlebte. Dieses Erlebnis hat lange Jahre bei dir
in der Weise nachgewirkt, dass du eigentlich keine richtige Angst
mehr vor dem Tod hattest. Aber auch vergessen konntest du nie, dass
dein Vater als Strafmaßnahme oft ein Jahr nicht mehr mit dir
gesprochen hat oder er dich oftmals zwang, gemeinsam mit eurem Berner
Sennenhund zu speisen.
Okay,
vergessen wir diese Psychoerziehung deiner Eltern. Nach einer Lehre
als Physiklaborant zog es dich aus der Enge Berchtesgadens nach
Berlin. Dort angekommen musstest du erst einmal deine Brötchen als
Tagelöhner verdienen, hast in zehn Meter Höhe mit einer verrosteten
Motorsäge Bäume von Reichen in Zehlendorf beschnitten und vieles
andere mehr, aber das Medium Film hat dich irgendwie immer
fasziniert. Ich habe um diese Zeit herum in Kreuzberg auf dem
Bethaniengelände mein Medienzentrum aufgebaut, und so hatten wir
auch beruflich eine freundschaftliche Nähe.
Weißt du
noch, 1971 wurde damals ein Schwesternwohnheim, das Martha Maria
Haus, auf diesem Gelände von Trebern und Jugendlichen aus dem
Kreuzberger Kiez besetzt. Es wurde in Georg-von-Rauch-Haus umbenannt,
und bis heute seit 1870 steht auf seinem Eingang der Spruch „Eins
tut not “. Du hast auf der Film-und Fernsehakademie eine Suzanne
Beyeler kennen gelernt, eine Schweizerin, und mit ihr und deinen
alten Kumpel Rainer März, der es ein Jahr später mit deiner Hilfe
auch auf dieser Filmschule geschafft hat, starteten ihr Drei einen
Dokufilm über genau dieses besetzte Haus.
„Allein
machen sie dich ein“, nach einem Rio Reiser Text, habt ihr euren
ersten Schwarz-Weiß-16mm-Film benannt. Ein
paar Jahre später hast du mit einen deiner Mitstudenten, Johannes
Flütsch, einen sehr witzigen Film über einen Automatenspieler
gedreht. Dieser Spieler mit Namen Diethard Wendtland konnte mit
seiner speziellen Begabung Spielautomaten der Marke „Monarch“ in
kurzer Zeit total leerfegen. Für diesen Film, produziert von Regina
Ziegler, hast du mit Johannes einen Bundesfilmpreis erhalten.
Waren
eigentlich bei dieser Preisverleihung deine Eltern nach Berlin
gekommen? Ich glaube eher nicht. Dabei war es doch für dich ganz
wichtig, deinen Eltern in Bad Aibling zu zeigen, dass du kein Looser
mehr bist. Du hast mir erst vor ein paar Wochen erzählt, dass du
richtig Geld erst nach deinem 40. Geburtstag verdient hast. Du
wurdest am 22. September 1944 im Bombenhagel von Augsburg geboren,
und demnach hast du erst in den Jahren 1984/85 so viel verdient, dass
du auch mal in den Urlaub fahren konntest.
1985
haben wir zwei an zwei Projekten gearbeitet, einmal ein Film über
ehemalige Rauchhausbewohner mit Rolf Zacher als Karl Marx und
Marianne Enzensberger als seine Jenny, Musik Rio Reiser, und einen
zweiten Dokufilm über eine Miss Germany, die mit einem Polizisten
verheiratet war. Dieses Eheverhältnis hat dich sehr interessiert,
und Harun Farocki hat das Exposé verfasst. Es war eine
ZDF-Produktion. Und bei diesen Dreharbeiten, du Regie, Kamera David
Slama und Ton ich, haben wir im Grunde jeden Abend nach Drehschluss
nur noch gelacht, weißt du noch, als in Luxemburg dieser
Miss-Germany-Preis verliehen wurde und ein Gunter Sachs im Hotel
erschien und total überschminkt die Kandidatinnen abzutätscheln
versuchte, und die haben sich das auch noch gefallen lassen.
Diese
Preisverleihung wurde vom RTL aufgezeichnet, und wir durften deshalb
für das ZDF nur ganz wenige Bilder nach Deutschland mitnehmen.
Lustig war auch, dass du vor Drehbeginn einen alten Ford für unsere
Dreharbeiten erworben hast. Mit diesem klapprigen Gefährt sind wir
bis Paris gefahren, um eine alternde Miss Germany zu interviewen. Auf
den Weg dahin blieb unser Oldtimer ständig stehen, und unsere
Altmiss hatte im Hinterhof ein kleine Werkstatt, die spezielle
Spionagegeräte herstellte und in Paris an diverse Agenten verkaufte,
abschließend lud sie uns zum Essen ein, sie im Porsche und wir
ständig anschiebend in unserem Freakford als Abgesandte des ZDF’s,
und in dem teuren Restaurant winkte sie ständig dort speisenden
Agenten zu.
Denn das
hier war ihr Vertriebsnetz, wir wollten dann auch nicht mehr wissen,
wie so ehemalige Miss heute ihr Leben finanzieren. Mein
Waterloo-Erlebnis mit dir hatte ich Ende 1989, weißt du noch, ich
wohnte mal für zwei Jahre in Oldenburg. Und irgendwie hatte die
Berliner Delta-Filmproduktion die Idee, einen Kinofilm zum Thema Stau
in Fahrt zu bringen. Du solltest mit mir das Drehbuch entwickeln und
kamst nach Ostfriesland, und wir mieteten dort auf so einem komischen
Freizeitgelände ein kleines Häuschen an und begannen sofort mit der
Arbeit.
Kurz und gut, ich hatte unter anderem die Idee, dass unter anderen Urlaubern auch ein Finne mit einem Holzauto in diesen Superstau in Bayern fährt. Du fandest diese Idee auch sehr charmant und lustig. Aber dann kam der Produzent Richard Claus nach Oldenburg, und als er das mit dem finnischen Holzauto las, fuhr er schnurstracks wieder nach Berlin zurück. Keine Diskussion, Thema verfehlt – setzen, Möbius!
Du hast ja
dann später noch mal sehr komödiantisch abgemildert mit Gerd Weiss
dann doch noch diesen „Superstau“ unter reichlich viel Stress
abgedreht. Aber schon 1990 kamen wir wieder zusammen, und ich
bastelte dann an ein Drehbuch von einem DDR-Autor herum. Der Film
hieß später „Grüß Gott Genosse“. Deine NDR Produzentin Doris
Heinze war ja mit deiner Arbeit immer sehr einverstanden, und so
bekamen wir auch den Auftrag, eine neue Polizeirufserie 110 zu
entwerfen. Es sollte in diesen Filmen kein Mord geschehen. Wir beide
haben uns daran gehalten, aber andere ARD-Sender in ihren Polizeiruf
110-Filmen nicht.
Du hast
dich dann richtig ins Zeug gelegt und einen Polizeiruf nach dem
anderen abgedreht. Und alle diese Filme mit Uwe Steimle und Kurt Böwe
unter deiner Regie waren originell und voller Humor. Ich freue mich
noch heute, dass ich Dir als Drehbuchautor oft bei diesen Streifen
helfen durfte. Ich musste immer wieder über dich staunen, mit
welcher kreativen und gleichzeitig produktivnaiven Art du Szenen und
Bilder in unseren Drehvorlagen gesetzt hast.
Ich kam mir häufig wie ein konservativer Bildungsbürger vor, der sich noch immer nicht von der Dramaturgie eines Shakespeare oder Schiller zu lösen vermochte oder traute. Aber so „trauen“ hatte ja für dich seit deinem Autounfall in Berchtesgaden nur noch wenig Relevanz. Und du hattest ja auch nur sehr wenig Respekt vor diesen Fernsehgewaltigen wie Redakteuren und Produzenten.
Ich
erinnere mich noch über ein Bild aus den neunziger Jahren, als du zu
mir mit einer sehr sehr kurzer Sturmfrisur kamst, auf mein Erstaunen
hin, sagtest du nur: „Ich fahre morgen nach Mainz, und da brauche
ich diese Kampffrisur.“ Humor, ich habe mich immer wieder gefragt,
und ich frage mich noch heute, wo du den immer wieder hergenommen
hast – deine Kind- und Jugendzeit war doch nun wirklich mehr eine
Schauergeschichte als ein Komödienstadel – stimmt’s?
Oder war
sie doch im Umkehrsinn gerade deshalb so inspirierend, weil in deiner
miesen Lage sich dein Humor wie ein Schutzschild um dich bildete?
Aber Manni, du hattest, Gott sei Dank, auch viele tolle und mutige
Mitstreiter. Und einige von diesen sind sogar zum Gedenken an dich
hier in dieser Kapelle. Viele von ihnen haben dir auch durch ihr
hinzufügen ihres „Mutterhumors“ bei deinen Inszenierungen
geholfen, ich sage nur die „Münsterkrimis“. Ich nenne mal ein
paar von vielen hunderten von Mitarbeitern beim Namen;
Deine
genialen Kameraleute wie Michael Wiesweg, David Slama, Jörg Jeshel
und Frido Feindt. Wunderbare Schauspielerinnen und Schauspieler wie
Tilo Prückner, Jan Joseph Liefers, Detlev Buck, Armin Rhode, Pierre
Besson, Günter Maria Halmer, Axel Prahl, Alexander Scheer, Laura
Tonke, Senta Berger, Götz George, Katharina Thalbach, Florian Lukas,
Elke Sommer, Karl Kranzkowski, Sigi Zimmerschied, Nadeshda Brennicke,
Inga Busch und viele, viele mehr. Und nicht zu vergessen, deine
langjährige Regieassistentin Susanne Petersen.
Lieber
Manni, du warst in deinem Leben auf dieser Erde stets ein sehr
bescheidener Mensch, ich habe dich auch nie in einer Talkshow
gesehen, du wolltest immer nur deine Arbeit so professionell wie nur
möglich machen. Das Ergebnis – fast 100 tolle Filme! Aber du
würdest heute ruhig zugeben, dass sich deine Energie auch aus dem
Bedürfnis speiste, deiner Mutter zu beweisen, dass du kein Versager
bist.
Den Beweis
konntest du ihr in einer Form geben, die jeder sofort versteht –
Geld und Gold. Du hast oft größere Summe nach Bad Aibling, dem
Wohnort deiner Mutter geschickt. Und sie hat ein Teil dann großzügig
an nahe und ferne Verwandte weitergeleitet, aber stets mit dem
Hinweis versehen, dass diese schönen Scheinchen von ihrem sehr
erfolgreichen Sohn aus Berlin kamen. Die einen brauchten ein aktuell
neues Hörgerät oder Gebiss, andere arbeitslose Neffen ein neues
Auto oder auch nur einen neuen Satz Autoreifen.
Da
stand ich mal mit deiner Mutter mit einem Produzenten am Filmset, und
auf die Frage des Produzenten, was du denn eigentlich studiert hast,
kam von ihr die prompte Antwort: „Mein Sohn, mein Manfred hat
Physiklaborant studiert“, und dann von ihr die Gegenfrage: „Werden
sie meinen Sohn auch weiterhin beschäftigen?“.
Ja, so einfühlsam und ehrlich können Mütter sein. Nun noch zum Schluss: du hast ja bis in den März und April hinein noch immer gearbeitet, mit mir hast du an einem Treatment für einen Rio Reiser Spielfilm gearbeitet, und dann an einer 8-teilige Kurzserie mit Tilo Prückner, die man sehr bald unter dem Titel „Die Bank“ im Fernsehen sehen wird. Ich hatte irgendwie bei meinen Besuchen bei dir immer das Gefühl, dass du uns noch gar nicht verlassen willst, jeden Sonnenstrahl aus unserem zurzeit unglaublich stahlblauen Himmel hast du noch genossen.
Aber deine
ständigen Schmerzen raubten dir dann doch leider deine letzten
Kräfte. Liebe Bea, seit 1984 war Manni dein Weggefährte und deine
Liebe, Sylvester 1996 habt ihr euch in Las Vergas das Ja-Wort
gegeben. Dein selbstloser professioneller Einsatz, um Mannis letzten
fünf Jahre andauerndes Leiden zu mildern, war ein sehr, sehr großer
Liebesbeweis.
Alle
hier danken dir dafür und fühlen mit ganzem Herzen mit dir und
deiner tiefen Trauer. Auch dir, Alexander Richter, sei hier für
deine gute Beratung und Hilfe sehr gedankt. Lieber Manni, wir werden
dich und dein künstlerisches Werk, das du uns hinterlassen hast, nie
vergessen. Du bist nicht tot, du lebst in deinen Filmen weiter, und
ich freue mich, in Zukunft viele deiner schönen Filme noch einmal
ansehen zu dürfen. Deine gesellschaftlich kritische und
komödiantische Sichtweise auf diese unsere Weltenkugel wird mich in
meiner noch verbleibenden Lebenszeit für immer begleiten. Ich hoffe,
wir sehen uns eines Tages wieder!
Dein Gert
Statt einer Biografie die Rede zur Bestattung von Manfred, die sein Freund Gert Möbius gehalten hat. (Gert Möbius war Manager der Rockband „Ton Steine Scherben“ und Mitbegründer des Berliner Tempodroms). Nach dem Tod seines Bruders Ralf, mit Künstlername Rio Reiser, gründete er das Rio-Reiser-Archiv. Heute wirkt er als Drehbuchautor und Filmproduzent.
Mariannenplatz, Berlin 36
Von links nach rechts: Manfred Stelzer, Marlis Kallweit im Jugenzentrum Hemmoor (Elbabwärts, kurz vor Cuxhaven. Backbord). Rundreise mit dem Film: Allein machen sie dich ein (Georg von Rauch Haus, Berlin) dffb
Es muss so 1968 gewesen sein. Während andere die Auslieferung der Bild Zeitung verhinderten, hatte ich mich abgesetzt, um nicht zur Bundeswehr zu müssen. Meine Antwort war das Seefahrtsbuch. Als Ing. Assi auf mittlere Fahrt. Später sollte es ein Schiffsingenieur werden. Ein Beruf, den mein Vater gerne ergriffen hätte. Die Welt sehen. Vorerst sah ich per Reederei OPDR Marokko, Algerien, Tunesien, DDR und Klaeipeda, was früher Memel hieß, eine Zeit lang zu Deutschland gehörte und jetzt eine Enklave der SU ist. Ein Vier Wachen Schiff: Die MS Ceuta (MS=Motorschiff). Ein doppelt wirkender MAN Dieselmotor, betrieben mit Gasöl. Auf der 12 – 4 Wache der dritte Ingenieur und ich der Offiziersanwärter. Berufsbezeichnung: Schiffsingenieurs Assistent. An Bord kurz Assi genannt. Wir hatten Apfelsinen geladen. In Kisten. Im Februar. Durch den Nord-Ost-See-Kanal, Richtung Rostock. Der dritte Ingenieur und ich wollten zusammen an Land gehen. Rostock besichtigen. Der Hafen eingezäunt, so wie der Freihafen in Hamburg damals. An der Grenzstation des Hafens: Die Kontrolle durch die „Grenzorgane“ der DDR. Mein „Dritter“, wie der dritte Ingenieur bei uns genannt wurde, kam aus Ägypten, Körpergrösse 1,67 m und war naturgemäß mit einer etwas dunkleren Hautfarbe ausgestattet als ich. Seine deutschen Sprachkenntnisse waren meinen weit überlegen.
An der Grenzstation wurde in unserem Beisein ein Hafenarbeiter festgenommen, den man mit einer oder zwei Apfelsinen erwischt hatte, die vermutlich geklaut waren. Ich konnte meinen Dritten nicht davon überzeugen, sich da rauszuhalten. Du bist hier in Deutschland, halt bloß die Schnauze war meine gezischelte Rede. Aber nein. Er fand das empörend. Ich auch: Wegen zwei Apfelsinen! Überall in der Welt schaffen Hafenarbeiter etwas beiseite. Wenn sie dabei erwischt werden, ist das natürlich nicht so gut. Meist wird bei Kleinigkeiten, die Kleinigkeit von zwei Apfelsinen, darüber hinweg gesehen. Für eine Kiste, ein Meter lang, fünfzig Zentimeter breit und hoch zahlten wir an die Reederei OPDR (Oldenburgportugiesische Dampfschiffs Rhederei) damals 10,00 DM. Der Dritte: Er würde morgen eine Kiste vorbeibringen, hat er laut gesagt. Und man solle den Mann doch endlich in Ruhe lassen. Schließlich sei das doch hier ein Arbeiter- und Bauernstaat und wenn dieser Hafenarbeiter zwei Apfelsinen klauen müsste, dann sei das ein Armutszeugnis dieses Staates. Und, und, und.
Ich hatte ihn gewarnt. Es hatte nichts genutzt. Sie haben den „Dritten“ nicht in ihr „Arbeiterparadies“ hineingelassen. Also musste ich alleine die Stadt besichtigen. Rostock völlig vereist. Mein Ingenieur, der Dritte, bekam vom Staat der Arbeiter- und Bauernstaat ein Einreiseverbot für alle Zeit. Wie sich später herausstellte war alle Zeit nicht besonders lang. Als es mit dem Arbeiter- und Bauernstaat zu Ende war, bin ich dann noch mal nach Rostock gefahren.
Der Staat war schon lange weck. Aber das Häuschen war noch da. Das Häuschen an der Grenzstation, wo sie unseren Dritten verhört hatten, weil dieser sich empört hatte. Der Hafen war völlig leer. Ich empfand eine gewisse Genugtuung angesichts des leeren Hafens. Strafe muss sein, fand ich. So ist das eben, wenn man wegen zwei geklauter Apfelsinen so einen Aufriss macht. Und das mit der Kiste, die er morgen als Geschenk vorbeibringen wollte, das hatte mein Dritter ernst gemeint.
MS Ceuta in Oran lädt Apfelsinen Kisten
DDR (2) Der Wald, das Holzbein und die vier Feinde. (1971)
Es gab eine Zeit, da brauchte man mit dem Interzonenzug von Hamburg nach Berlin manchmal sieben Stunden. Das hatte verschiedene Ursachen. Eine war, dass die Russen das zweite Gleis nach Russland geschafft hatten. Ein anderer war, das der Zug zweimal kontrolliert wurde. An beiden Grenzen. Ganz sorgfältig. Drinnen und draußen. Ob sich vielleicht jemand heimlich in die DDR reinschmuggeln wollte? Das sollte auf jeden Fall verhindert werden. Noch mehr Personen, die überwacht werden müssten. In Schwanheide war einer dieser Kontrollpunkte. Dann musste noch allerlei Papierkram ausgefüllt werden. In einem dieser Züge lernte ich auf der Fahrt von Berlin nach Hamburg einen Mann kennen, der sich als ehemaliger Bewohner der DDR zu erkennen gab. Genau genommen hatte der Mann nur zweimal mit mir gesprochen. Während dieser sieben Stunden. Kurz nach dem Passieren der Grenze in Griebnietzsee berichtete er davon, dass die Deutsche Reichsbahn, die diesen Interzonenzug betreibe, vier Feinde hätte: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Das zweite Mal äußerte er sich im Wald von Friedrichsruh. Also nach dem Passieren der Grenze in Schwanheide. Der Kaiser habe die Kriegsteilnehmer des ersten Weltkrieges belohnt. Mit Holz. Er habe vom Kaiser ein Holzbein bekommen und der andere eben einen Wald. Und weil wir grade den Sachsenwald bei Friedrichsruh passierten, war auch klar, von welchem Geschenkeempfänger er sprach.
1.
Von
der Sozialdemokratie zum Nationalsozialismus
Die Aufgabe, um die es seit den letzten Monaten und auch über die augenblickliche Zuspitzung hinaus geht, ist die Rekonsolidierung des bürgerlichen Regimes in Deutschland. Die jetzige Regierung von Papen bedeutet diese Rekonsolidierung noch nicht, obwohl sie selbst es behauptet und obwohl diese Behauptung taktisch richtig und die unerläßliche Fiktion ist, um eine vollgültige Regierungstätigkeit aufrechtzuerhalten. Brächte und enthielte die jetzige Regierung wirklich schon die geforderte Rekonsolidierung, so müßte sie statt zur Neuwahl vielmehr zur völligen Suspension des Reichstags genügend mächtig sein und dürfte nicht befürchten müssen, mit einem solchen Gewaltcoup den Bogen zum Brechen zu bringen. Folglich ist die Regierung abhängig von noch nicht gebändigten, noch nicht in sie einbezogenen Kräften, und die Rekonsolidierung steht mithin in Deutschland zur Zeit noch aus.
Es
ist aber nicht die erste, die im Nachkriegsdeutschland geleistet
würde. Es ist gar kein Zweifel, daß nach den alles in Frage
stellenden Einbrüchen der Revolutions- und Inflationsjahre die
Weimarer Koalition mit der erfolgreichen Durchführung ihres
>großen Wirtschaftsprogramms<, der Stabilisierung von 1923/24,
und gemessen an der Lagerung der Kräfte, die damals gebändigt
werden mußten, durchaus eine Rekonsolidierung des bürgerlichen
Regimes darstellte. Sie hat, politisch gesehen, gehalten bis zum
neuerlichen Kriseneinbruch von 1930. Der allerdings erwies sie als
bloß scheinbare und fehlerhafte Rekonsolidierung und bewirkte im
weiteren Verlauf ihre Auflösung und Sprengung, wie aber auch der
Kriseneinbruch 1918/19, schon das kaiserliche System der Kriegszeit
eingerissen und aufgelöst hatte. Die Geschichte der deutschen
Nachkriegszeit enthält also Vorgänge, die der heutigen Problemlage
dynamisch verwandt sind und aus deren aufmerksamer
Vergleichung sich für die Gegenwartsaufgaben Schlüsse ziehen
lassen. Die Parallelität geht in der Tat erstaunlich weit.
Die
damalige Sozialdemokratie und der heutige Nationalsozialismus sind
sich darin funktionell gleich, daß sie beide die Totengräber
des (Seite 18) vorhergegangenen Systems waren und alsdann die von
ihnen geführten Massen statt zu der proklamierten Revolution zur
Neuformung der bürgerlichen Herrschaft lenkten.
Der
oft gezogene Vergleich zwischen Hitler und Ebert hat in dieser
Hinsicht Gültigkeit. Zwischen den Strömen, die sie >wach<
riefen, besteht die weitere strukturelle Verwandtschaft,
daß beides Volksbewegungen waren — man
hat dies von der Sozialdemokratischen Hochflut von 1918/19 nur
vergessen —, daß beide mit dem Appell
an antikapitalistische Befreiungssehnsüchte die Verwirklichung einer
neuen — >sozialen< bzw.
>nationalen< — Volksgemeinschaft
versprachen, daß weiter die soziale Zusammensetzung ihrer
Anhängerschaft sich in den Massen des Kleinbürgertums, ja sogar
vielfach darüber hinaus, völlig deckt, und daß endlich ihr
geistiger Charakter sich durch eine durchaus verwandte Verworrenheit
und ebenso schwärmerisch-gläubige wie kurzfristige Gefolgstreue
auszeichnet.
Die
Feststellung dieses Parallelismus ist keineDiffamierung
der nationalsozialistischen Idee, sie betrifft überhaupt nicht
Ideen, sondern gilt der rein analytischen Erkenntnis von Funktion und
Bedeutung zweier Massenbewegungen, die im gleichen sozialen Raum in
zwei geschichtlich homologen (*) Augenblicken eine analoge politische
Rolle gespielt haben bzw. noch spielen. Der Parallelismus selbst
besagt, daß der Nationalsozialismus die Sozialdemokratie in der
Aufgabe abzulösen hätte, den Massenstützpunkt für die
Herrschaft des Bürgertums in Deutschland darzubieten. Dies
enthält zugleich, zu seinem Teil, die genauere Problemstellung zur
gegenwärtig gebotenen Rekonsolidierung dieser Herrschaft. Ist der
Nationalsozialismus fähig, diese Funktion der Stütze anstelle der
Sozialdemokratie zu übernehmen, und auf welche Weise könnte dies
geschehen?
Das
Problem der Konsoliderung des bürgerlichen Regimes im
Nachkriegsdeutschland ist allgemein durch die Tatsache bestimmt, daß
das führende, nämlich über die Wirtschaft verfügende Bürgertum
zu schmal geworden ist, um seine Herrschaft allein zu
tragen. Es bedarf für diese Herrschaft, falls es sich nicht der
höchst gefährlichen Waffe der rein militärischen Gewaltausübung
anvertrauen will, der Bindung von Schichten an sich, die sozial nicht
zu ihm gehören, die ihm aber den unentbehrlichen Dienst leisten,
seine Herrschaft im Volk zu verankern und dadurch deren eigentlicher
oder letzter Träger zu sein. Dieser letzte oder >Grenzträger<
der bürgerlichen Herrschaft war in der ersten Periode der
Nachkriegskonsolidierung die Sozialdemokratie.
Sie
brachte zu dieser Aufgabe eine Eigenschaft mit, die dem
Nationalsozialismus fehlt, wenigstens bisher noch fehlt. Wohl war
auch der Novembersozialismus eine ideologische Massenflut und eine
Bewegung, aber (Seite 19)
er
war nicht nur das, denn hinter ihm stand die Macht der organisierten
Arbeiterschaft, die soziale Macht der Gewerkschaften. Jene Flut
konnte sich verlaufen, der ideologische Ansturm zerbrechen, die
Bewegung verebben, die Gewerkschaften aber blieben und mit ihnen oder
richtiger kraft ihrer auch die sozialdemokratische Partei.
Der
Nationalsozialismus aber ist vorerst noch immer nur die Bewegung,
bloßer Ansturm, Vormarsch und Ideologie. Bricht diese Wand zusammen,
so stößt man dahinter ins Leere.
Denn
indem er alle Schichten und Gruppen umfaßt, ist er mit keiner
identisch, ist er in keinem dauernden Glied des Gesellschaftsbaus
soziologisch verkörpert. In diesem bedeutsamen Umstand liegt neben
der oben festgestellten Parallelität beider Massenparteien ihr
fundamentaler Unterschied hinsichtlich ihrer Bedeutung für
die Rekonsolidierung der bürgerlichen Herrschaft.
Vermöge
ihres sozialen Charakters als originäre Arbeiterpartei brachte die
Sozialdemokratie in das System der damaligen Konsolidierung über all
ihre rein politische Stoßkraft hinaus das viel wertvollere und
dauerhaftere Gut der organisierten Arbeiterschaft ein und verkettete
diese unter Paralysierung ihrer revolutionären Energie fest mit dem
bürgerlichen Staat.
Auf
dieser Basis konnte die Sozialdemokratie sich mit einer bloßen
Teilhaberschaft an der bürgerlichen Herrschaft begnügen, ja konnte
sie sogar niemals mehr und wesensmäßig nichts anderes als bloß der
eine Teilpartner derselben sein.
Sie
hätte als Sozialdemokratie zu existieren aufgehört, wenn etwa der
Zufall ihr die ganze Macht über Staat, Wirtschaft und Gesellschaft
hingeworfen hätte, so sehr, daß sich von ihr nach einem bekannten
Worte sagen ließe, die Sozialdemokratie würde die bürgerliche
Gesellschaft, wenn es sie nicht gäbe, erfinden müssen, um zu
bestehen.
In
konträrem Gegensatz dazu bedingt der Mangel an sozialer Hausmacht
den faschistischen Charakter des Nationalsozialismus. Weil er keinen
spezifischen sozialen Grundstock hat, der auch ohne Hitler aus sich
heraus den Nationalsozialismus trüge, kann er nur entweder die
gesamte Macht erobern, um sich durch den Besitz des
Staatsapparats zu schaffen, was ihm aus sozialer Wurzel fehlt, oder
seine Kraft zerbricht an dem Sozialgefüge, das ihm politisch
widersteht und in das er keinen Eingang findet.
Weil
er primär kein Glied dieses Gefüges ist, kann er nicht ohne
grundlegende Verwandlung ein Teilpartner der bürgerlichen Herrschaft
sein, welche auf gesellschaftlicher Macht fußt und der politischen
Stütze einer >Massenbasis< nur aus der Wurzel sozialer
Gliedschaft und Verankerung bedarf.
Hier
liegt die wahre Crux der gegenwärtigen Lage. Die faschistische
Möglichkeit des Nationalsozialismus ist vorüber, seine soziale
Möglichkeit noch nicht gefunden. Davon aber, daß sie gefunden wird,
hängt ab, ob wir (Seite 20)
wirklich
jetzt zu einer neuen und produktiven Rekonsolidierung gelangen oder
ob wir in der Sackgasse der Alternative einer Militärdiktatur oder
einer Rückkehr zur Sozialdemokratie stehen. Die Frage, auf die sich
alles zusammendrängt, ist daher, ob es für den Nationalsozialismus
eine spezifische soziale Möglichkeit gibt, durch die er aus
einer faschistischen Bewegung in ein Teilorgan der bürgerlichen
Herrschaft verwandelt werden kann, so daß er für das Bürgertum die
bisherige Rolle der Sozialdemokratie ersetzen kann. Ihrer Erörterung
soll ein zweiter Aufsatz dienen.
2.
Die Eingliederung des Nationalsozialismus
Man
wird in einer Zeit, der als Lebensfrage die Rekonsolidierung der
bürgerlichen Herrschaft vorgeschrieben ist, dem Faschismus der
nationalsozialistischen Bewegung, wenn nötig, mit Gewalt ein Ende
machen müssen, aber nur, um den Nationalsozialismus selbst
gleichzeitig in ein gesellschaftliches Organ umzuwandeln, das
dieser Herrschaft zur Stütze dienen und in ihre staatliche
Ausgestaltung positiv eingegliedert werden kann.
Die
Möglichkeiten, die sich dafür bieten, können hier nur in
größtmöglicher Kürze angedeutet werden. Die notwendige
Bedingung jeder sozialen Rekonsolidierung der bürgerlichen
Herrschaft, die in Deutschland seit dem Kriege möglich ist, ist die
Spaltung der Arbeiterschaft. Jede geschlossene, von unten
hervorwachsende Arbeiterbewegung müßte revolutionär sein, und
gegen sie wäre diese Herrschaft dauernd nicht zu halten, auch nicht
mit den Mitteln der militärischen Gewalt. Auf der gemeinsamen Basis
dieser notwendigen Bedingung unterscheiden sich die verschiedenen
Systeme der bürgerlichen Konsolidierung nach den zureichenden
Bedingungen, die hinzukommen müssen, um den Staat und das Bürgertum
bis in breite Schichten der gespaltenen Arbeiterschaft hinein zu
verankern.
In
der ersten Rekonsolidierungsära des bürgerlichen Nachkriegsregimes,
in der Ära von 1923/24 bis 1929/30, war die Spaltung der
Arbeiterschaft fundiert durch die lohn- und sozialpolitischen
Errungenschaften, in die die Sozialdemokratie den revolutionären
Ansturm umgemünzt hatte.
Diese
nämlich funktionierten als eine Art Schleusenmechanismus, durch den
der beschäftigte und fest organisierte Teil der Arbeiterschaft im
Arbeitsmarktgefälle einen zwar abgestuften, aber dennoch in sich
geschlossenen erheblichen Niveauvorteil gegenüber der arbeitslosen
und fluktuierenden Masse der unteren Kategorien genoß und gegen die
volle Auswirkung der Arbeitslosigkeit und der allgemeinen Krisenlage
der Wirtschaft auf seine Lebenshaltung relativ geschützt war.
Die politische Grenze zwischen (Seite 21) Sozialdemokratie und Kommunismus verläuft fast genau auf der sozialen und wirtschaftlichen Linie dieses Schleusendamms, und die gesamten, jedoch bis jetzt vergeblich gebliebenen Anstrengungen des Kommunismus gelten dem Einbruch in dies geschützte Gebiet der Gewerkschaften. Da zudem aber die sozialdemokratische Ummünzung der Revolution in Sozialpolitik zusammenfiel mit der Verlegung des Kampfes aus den Betrieben und von der Straße in das Parlament, die Ministerien und die Kanzleien, d. h. mit der Verwandlung des Kampfes >von unten< in die Sicherung >von oben<, waren fortan Sozialdemokratie und Gewerkschaftsbürokratie, mithin aber auch der gesamte von ihnen geführte Teil der Arbeiterschaft mit Haut und Haaren an den bürgerlichen Staat und ihre Machtbeteiligung an ihm (n?) gekettet, und zwar so lange, als erstens auch nur noch das Geringste von jenen Errungenschaften auf diesem Wege zu verteidigen übrigbleibt und als zweitens die Arbeiterschaft ihrer Führung folgt.
Vier
Folgerungen aus dieser Analyse sind wichtig: 1. Die Politik des
>kleineren Übels< ist nicht eine Taktik, sie ist die
politische Substanz der Sozialdemokratie.
2.
Die Bindung der Gewerkschaftsbürokratie an den staatlichen Weg
>von oben< ist zwingender als ihre Bindung an den Marxismus,
also an die Sozialdemokratie, und gilt gegenüber jedem bürgerlichen
Staat, der sie einbeziehen will. 3. Die Bindung der
Gewerkschaftsbürokratie an die Sozialdemokratie steht und fällt
politisch mit dem Parlamentarismus. 4. Die Möglichkeit einer
liberalen Sozialverfassung des Monopolkapitalismus ist bedingt durch
das Vorhandensein eines automatischen Spaltungsmechanismus der
Arbeiterschaft. Ein bürgerliches Regime, dem an einer liberalen
Sozialverfassung gelegen ist, muß nicht nur überhaupt
parlamentarisch sein, es muß sich auf die Sozialdemokratie stützen
und der Sozialdemokratie ausreichende Errungenschaften lassen; ein
bürgerliches Regime, das diese Errungenschaften vernichtet, muß
Sozialdemokratie und Parlamentarismus opfern, muß sich für
die Sozialdemokratie einen Ersatz verschaffen und zu einer gebundenen
Sozialverfassung übergehen.
Der
Prozeß dieses Übergangs, in dem wir uns augenblicklich befinden,
weil die Wirtschaftskrise jene Errungenschaften zwangsläufig
zermalmt hat, durchläuft das akute Gefahrenstadium, daß mit
dem Fortfall jener Errungenschaften auch der auf ihnen beruhende
Spaltungsmechanismus der Arbeiterschaft zu wirken aufhört, mithin
die Arbeiterschaft in der Richtung auf den Kommunismus ins Gleiten
gerät und die bürgerliche Herrschaft sich der Grenze des Notstands
einer Militärdiktatur nähert. Der Eintritt in diesen Notstand aber
wäre der Eintritt aus einer Phase notleidender (Seite 22)
Konsolidierung in die Unheilbarkeit der bürgerlichen Herrschaft.
Die
Rettung vor diesem Abgrund ist nur möglich, wenn die Spaltung und
Bindung der Arbeiterschaft, da jener Schleusenmechanismus in
ausreichendem Maße nicht wieder aufzurichten geht, auf andere,
und zwar direkte Weise gelingt. Hier liegen die positiven
Möglichkeiten und Aufgaben des Nationalsozialismus. Das
Problem selbst weist für sie eindeutig nach zwei Richtungen.
Entweder man gliedert den in der freien Wirtschaft beschäftigten
Teil der Arbeiterschaft, d. h. die Gewerkschaften, durch eine
neuartige politische Verklammerung in eine berufsständische
Verfassung ein, oder man versucht sich umgekehrt auf den
arbeitslosen Teil zu stützen, indem man für ihn unter dem Regiment
einer Arbeitsdienstpflicht einen künstlichen Sektor der
Wirtschaft organisiert.
Durch
ihre Loslösung von der Sozialdemokratie entfällt für die
Gewerkschaften ihre bisherige politische Repräsentation, an deren
Stelle sie in einem nicht oder nur sehr bedingt parlamentarischen
Staat eine neue und neuartige politische Führung brauchen. Wenn es
dem Nationalsozialismus gelänge, diese Führung zu übernehmen und
die Gewerkschaften in eine gebundene Sozialverfassung
einzubringen, so wie die Sozialdemokratie sie früher in die liberale
eingebracht hat, so würde der Nationalsozialismus damit zum Träger
einer für die künftige bürgerliche Herrschaft unentbehrlichen
Funktion und müßte in dem Sozial- und Staatssystem dieser
Herrschaft notwendig seinen organischen Platz finden.
Die
Gefahr einer staatskapitalistischen oder gar
staatssozialistischen Entwicklung, die oft gegen eine solche
berufsständische Eingliederung der Gewerkschaften unter
nationalsozialistischer Führung eingewandt wird, wird in Wahrheit
durch sie gerade gebannt. Die vom Tatkreis propagierte >Dritte
Front< ist der Typus einer Fehlkonstruktion, wie sie in Zeiten des
sozialen Vakuums auftaucht; sie ist das Trugbild eines
Übergangszustands, in welchem die Gewerkschaften, weil aus der
bisherigen Bindung freigesetzt und noch in keine neue eingefangen,
den Schein einer Eigenexistenz vorspiegeln, die sie wesensmäßig gar
nicht haben können. Zwischen den beiden Möglichkeiten einer
Rekonsolidierung der bürgerlichen Herrschaft und der kommunistischen
Revolution gibt es keine dritte.
Wohl
aber gibt es, theoretisch wenigstens, neben der ständischen
Eingliederung der Gewerkschaften für die bürgerliche
Rekonsolidierung den zweiten Weg, das arbeitslose Volk durch
Arbeitsdienstpflicht und Siedlung zu organisieren und
an den Staat zu binden.
Dem
inneren, selbst aus keiner organischen Wurzel entwachsenen Wesen des
Nationalsozialismus scheint diese Aufgabe besonders nahe zu liegen,
wie sie dann auch von ihm am weitesten durchdacht worden ist.
Man muß sich aber klar sein, daß die (Kursbuch Seite 23)
beiden
genannten Wege zwei sehr verschiedene Entwicklungsrichtungen der
Gesamtwirtschaft involvieren. Eine nennenswerte Einordnung der
arbeitslosen Massen in die soziale Volksgemeinschaft im Wege der
Arbeitsdienstpflicht ist nur durch weitreichende staats- und
planwirtschaftliche Methoden möglich, die aus ökonomischen wie
finanziellen Gründen den freien Wirtschaftssektor schwächen
müssen.
Weil
dieser Weg nur zu Lasten der frei beschäftigten Arbeiterschaft
gegangen werden kann, müßte ein solches Regime sein soziales
Schwergewicht unvermeidlich auf den agrarischen Sektor verlegen,
würde also durch eine extreme Autarkiepolitik die
Exportindustrie und die mit ihr verknüpften Interessen um jede
Chance bringen, einen Anschluß an eine sich bessernde Weltkonjunktur
unmöglich machen, mithin den arbeitslosen Teil des Volkes wachsend
vermehren und schließlich einen überwiegenden Teil der gesamten
Wirtschaft in dem Zwangssystem einer staatlichen Elendswirtschaft
festlegen. Ob man dies noch als Rekonsolidierung bezeichnen könnte,
muß fraglich erscheinen. Nur partiell daher und in bloß subsidiärer
Bedeutung kann dieser Weg, so etwa, wie er im Wirtschaftsprogramm der
Regierung mit herangezogen ist, den Übergang zu einem System
wirklicher Rekonsolidierung der bürgerlichen Herrschaft erleichtern,
das sich nach wie vor auf den Kernbestand der Arbeiterschaft, die
Gewerkschaften unter neuer Führung, wird stützen müssen.
Alfred
Sohn-Rethel
Quelle:
Kursbuch 21, September 1970, Seite 17 – 23
Ein Wort, das mit unbekannt war habe ich im Fremdwörterbuch nachgeschlagen
(*) homolog = (gr) gleich liegend, gleich lautend
Alfred Sohn-Rethel
EIN KOMMENTAR NACH 38 JAHREN (1932/1970)
Der hier zum Wiederabdruck gelangte Artikel aus den Deutschen Führerbriefen hat zur Zeit seines Erscheinens (16. und 20. September 1932) eine eigenartige Sensation ausgelöst. Er ist seither immer wieder zitiert und erörtert worden, und bis heute hat ihm der Charakter eines ungeklärten Rätsels angehangen. Der Grund dafür liegt nicht in seinem Inhalt. Marxistische Analysen der damaligen Klassenverhältnisse und Machtverlagerungen in Deutschland waren an der Tagesordnung, ohne daß eine be-stimmte Version vor der anderen einen klaren Vorrang hätte gewinnen können. Das Sensationelle dieser besonderen Analyse hing an ihrem Erscheinungsort und an der Tatsache, daß sie vom Interessenstandpunkt des Klassenfeindes, des Großkapitals, aus vorgenommen war. Stand hier ein abtrünniger Marxist im Begriff, die Rolle des deutsche Mussolini anzutreten? (Seite 24). Den Mitgliedern des Parteivorstandes der KPD erschien es beinahe so. Das fehlte gerade noch, daß dem diktaturlüsternen deutschen Großkapital ein Marxist erwüchse, der ihm mit seinen Röntgenaugen den politischen Weg durchs Dunkel der Geschichte erleuchten könnte. Das Rätselraten nahm in der Parteileitung nahezu panische Proportionen an.
Aber als Propagandamaterial für die die kommunistische Wahlkampagne zum 6. November (1932), die gerade begonnen hatte, hätte ihr nichts gelegener kommen können als dieser anonyme Artikel. In allen Tageszeitungen der Partei — und es gab damals mehrere — wurden lange Auszüge daraus abgedruckt und Satz für Satz kommentiert. Schließlich widmete Willy Münzenberg, Leiter der Propaganda Abteilung der Partei, am Vorabend der Wahl die letzte Nummer des Roten Aufbaus dem ungekürzten Text des Artikels zur nochmaligen Einschärfung:
>Die >Deutschen Führerbriefe<, eine Privatkorrespondenz des Finanzkapitals, mitfinanziert vom Reichsverband der Deutschen Industrie, streng geheim und nur zu Information großkapitalistischer Leser bestimmt, sprechen offen aus, was die öffentlichen Zeitungen und Zeitschriften nie aussprechen können. In den Nummern 72 und 73 dieser >Deutschen Führerbriefe< wird . . . mit seltener Offenherzigkeit darüber gesprochen, wie das Finanzkapital zu Rekonsolidierung seiner Herrschaft nach neuen Stützen sucht. Die Rolle der SPD und NSDAP als Stützen der finanzkapitalistischen Herrschaft wird in bürgerlicher Ausdrucksweise, aber dennoch so klar geschildert, das gegenwärtige Hauptproblem der Bourgeoisie, die Rekonsolidierung des Kapitalismus, so klar umrissen, wie es nicht besser getan werden kann. . . . Die Alternative ist klar: Rekonsolidierung der finanzkapitalistischen Herrschaft mit Hilfe der SPD und NSDAP oder kommunistische Revolution, so wird es da formuliert. Den Kommentar kann sich jeder Leser leicht dazu machen.<
>Der Name >Deutsche Führerbriefe< erweckt natürlich Anklänge an Hitler. Zu unrecht. Die Privatkorrespondenz war von Dr. Franz Reuter und Dr. Otto Meynen Ende 1928 in Köln gegründet worden, zu einer Zeit also, als nahezu niemand — niemand mehr und noch niemand — bei dem Wort >Führer< an Hitler dachte. [ . . . ] (Seite 24, Kursbuch) >Ich war weit davon entfernt, dem diktaturlüsternen Finanzkapital als sein marxistischer Mephistopheles ein Licht über die geeignete Klassenbasis aufstecken zu wollen. Vielmehr hat mir selbst erst die Betätigung in jenem Rahmen das nötige Licht verschafft. Und zwar nicht so sehr die journalistische Betätigung und Informationsweise bei den >Führerbriefen<, sondern sehr viel mehr die ganz anders geartete Erfahrung, die die Arbeit beim MWT mit sich brachte (MWT=Mitteleuropäische Wirtschaftstag), Schöneberger Ufer (25) [ . . . ]
(Seite 32 Kursbuch) So kommen wir noch einmal auf die Frage zurück, die damals und seither so viel Erstaunen erweckt hat: Wie kam ein Artikel von so eindeutig marxistischem Inhalt zu jenem kritischen Augenblick ausgerechnet in die Deutschen Führerbriefe? Ein Artikel, dem zu diesem Zeitpunkt gar nichts anderes zuteil werden konnte, als von Ende September bis zum 6. November der kommunistischen Partei als Hauptpropagandamaterial zu dienen? Die Lösung des Rätsels ist denkbar einfach: Der Artikel war von mir einzig zum Zweck dieses Wahlkampfes für die Kommunisten verfaßt worden. Nicht daß die Kommunistische Partei ihn etwa bestellt hätte. Die Partei wußte weder von der Abfassung noch von dem Verfasser des Artikels etwas. Ich schrieb ihn aus eigener Initiative und schickte, nachdem er in den Führerbriefen erschienen war, ein Exemplar an die Rote Fahne. Mehr bedurfte es zur Zündung der Bombe nicht. Aus didaktischen Gründen nahm ich in dem Artikel den Standpunkt des Großkapitals als Blickwinkel ein, um den Arbeitern klar zu machen, daß sowohl die Sozialdemokraten wie die Nazis bloß der Kapitalherrschaft zur Stütze, zum >Grenzträger<, dienten.
Natürlich war der Arbeiterschaft und den massenhaften antikapitalistischen Wählern, die es damals gab, dasselbe viele Male vorher erklärt worden, aber noch niemals aus dem Sprachrohr des Großkapitals selbst und mit dem Anschein unumstößlicher Beweiskraft.
[ . . . ]
(Kursbuch Seite 33)>Freilich bleibt noch der zweite Teil der Frage zu beantworten, wie es nämlich gelingen konnte, die politisch doch keineswegs blöde Schriftleitung der Führerbriefe zu einer ihr so extrem widersprechenden Funktion zu benutzen. Nun, ich kann nur sagen, daß das auch wirklich unbegreiflich wäre, wenn die schlauen Füchse des Kapitals nicht eben doch sehr dumm wären, wo Erkenntnis und nicht bloß Manipulation zu Frage steht. Es muß auch betont werden, daß am Schöneberger Ufer (25) keine Seele etwas davon wußte, daß ich Marxist war, und daß zweitens auch niemand dort wußte, was Marxismus ist und wie er aussieht. Als >Marxismus< war nur die fratzenhafte Entstellung bekannt, die als Schimpfname umging. Auch wird man beim Lesen des Artikels gemerkt haben, daß ich für ein gewisses Oberflächenvokabular gesorgt hatte, das Münzenberg richtig mit >bürgerlicher Ausdrucksweise< betitelt hat und das mir in den Augen der Redaktion wenigstens ein notdürftiges Alibi verschaffen konnte.< [ . . . ]
>Jedenfalls war es fast ein rührender Anblick, die Schriftleiter der >Führerbriefe< am Tage nach der kommunistischen Explosion meines Artikels über Exemplare der Roten Fahne gebeugt zu finden, angestrengt bemüht, aus den in den Text eingesprengten Kommentaren zu verstehen, was in dem Artikel eigentlich steckte. Freilich muß ich gestehen, daß mir dieses Studium eher ominös als rührend erschienen ist. Ich war begreiflicherweise auf das Schlimmste gefaßt, zumal die ausgelöste Wirkung alle meine Erwartungen überstieg. Es ging aber alles erstaunlich gut. Zwar fühlte ich mich von forschenden Blicken verfolgt, wenn ich durchs Zimmer ging, und Redensarten wie die vom Wolf im Schafspelz trafen mein Ohr. Aber was mir die Vergebung der Redaktion und den weiteren Verbleib in ihren Sitzungen eintrug, war mehr als alles andere die Tatsache, daß ich den Führerbriefen zu einer Berühmtheit und einer Reklame verholfen hatte wie noch nie etwas zuvor. Der Kern der großkapitalistischen Macht sieht eben doch anders aus, als viele Zaungäste ihn sich vorstellen. In diesem Kern herrscht bei aller Gerissenheit vollkommene Wirrnis, und nichts kann ihm fremder sein als sein eigener Begriff.< Alfred Sohn-Rethel (1970).
Natürlich hatte ich sie auch noch in meinem Schrank. Zwei Bücher, die mir damals sehr geholfen haben. Entdeckt im Antiquariat. Damals 3,50 DM/4,50 DM. Heute 4,00 Euro. Und ich habe sie beide noch mal gelesen. Wieder mal festgestellt. Sie sind immer noch aktuell. Hilfreich. Im Internet habe ich einen Nachruf von Klaus Wolschner (taz Bremen) aufgespürt. Hier die beiden Bücher: Sie sind beide dünn. Erfreulich dünn. Die >Betriebsfibel< hat 70 Seiten. < >Organisieren oder organisiert werden< hat 95 Seiten. In der Einleitung heißt es: „Es geschieht immer wieder, daß Genossen wie du versuchen, in ihrem Betrieb die Belegschaft zu agitieren. Und von diesen kriegen sie dann gesagt: >Das ist ja alles ganz schön, was du uns da erzählst. Aber mach man so weiter. Dann fliegst du bald raus! Auf deine – einer etwas kurzsichtigen Opferbereitschaft entspringenden – Erklärung: >Das macht mir gar nichts aus!< kommt dann die Antwort:>Uns aber.< Damit ist die Sache eigentlich erledigt. Du konntest dein Anliegen nicht vermitteln. Jetzt bist als Revolutionär isoliert.“
der Arbeitgeber 5 Köln 51. Oberländer Ufer 72
Klaus
Wagenbach Verlag
1
Berlin 31
Jenaer
Str.6
Sehr
geehrte Herren,
in
Ihrem Verlag ist die „Betriebsfibel“ von Herrn Berni Kelb
erschienen, die jetzt auf den verschiedensten
Lehrlingsveranstaltungen kursiert. Mehrere Leser erbitten in diesem
Zusammenhang nähere Einzelheiten über die Person von Herrn Kelb.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir ggfs. einen Lebenslauf oder
sonstige Unterlagen hierzu übersenden würden. Mit freundlichen
Grüßen
(Dr.
Heinrichsbauer)
– – –
1
Berlin 31, den 10.1.73
Jenaer
Straße 9
Berni
Kelb
c/o
Verlag Klaus Wagenbach
An den arbeitgeber – Der Chefredakteur –
Sehr
geehrter Herr Dr. Heinrichsbauer,
ich
beziehe mich auf Ihr Schreiben vom 8.1.73. Der Verlag Klaus Wagenbach
hat – feige, wie es von einem linken Verlag nicht anders zu
erwarten ist – sich vor der Beantwortung Ihrer berechtigten Fragen
zu drücken versucht, indem er Ihren Brief an mich weiterleitete. Ich
werde mich bemühen, Ihnen angemessene Auskunft zu geben.
Ich
stamme also aus einer Familie, die seit vielen Generationen damit
beschäftigt war, Arbeit zu nehmen, obwohl geben nach einem bekannten
Zitat eigentlich viel seliger ist, denn nehmen. Wir lebten davon, daß
wir für die genommene Arbeit auch noch Geld forderten: die ständig
steigenden Löhne. Den Verlockungen eines so bequemen Lebenswandels
konnte auch ich mich nicht entziehen: durch die Erlernung eines
Metallberufes setzte ich die Familientradition fort.
Verschlagen,
wie unsereins ist, merkte ich bald, daß bei den Unternehmern außer
Arbeit und Lohn noch mehr zu holen sein muß. Von da an war ich nur
noch von der Gier getrieben, ihnen alles zu nehmen. Als geeignetes
Mittel dazu erschien mir eine planmäßig ausgeweitete Kumpanei mit
dem Ziel, auf Insubordination gerichtete Zusammenrottungen
hervorzurufen. Das verdichtete sich bei mir zu der ‚Primitivformel
:“Der Feind steht immer oben!“‚, wie Clemens Steindl es auf
Seite 978 der Nummer 23/24-1972 Ihres Organs so treffend
charakterisiert. Das Unbehagen gegenüber dieser Losung und ihre
Ablehnung als Vereinfachung teilen Sie übrigens mit Nikolaus
Neumann, der in der bekanntlich DKP-nahen ‚Deutschen Volkszeitung‘
meint, mein ‚eigentlicher Feind‘ seien die ‚organisierte
Arbeiterschaft, die kommunistischen Parteien und die Gewerkschaften‘.
Ich verstehe die Welt nicht mehr! Sie werfen mich mit den Leuten in
einen Topf, die mich mit Ihnen in einen Topf werfen.
Doch weiter im Lebenslauf. Das schreckliche Ende des letzten Krieges brachte es ja mit sich, daß unsere Gesellschaft von Aufweichungstendenzen demokratischer, liberaler und selbst sozialistischer Art durchdrungen wurde. Auch ich kam mit solchen Liberalen, Intellektuellen und ähnlichen zwielichtigen Gestalten in Berührung (im Vertrauen: manche waren gar Juden!) Sie stifteten mich an, meine bösen Gedanken zum Zwecke der Verbreitung aufzuschreiben.
Das
Ergebnis liegt Ihnen ja vor.
Im
Ernst: Wir haben mit Fleiß darauf verzichtet, Daten zur Person des
Verfassers zu veröffentlichen, wie es sonst bei Büchern üblich
ist. Ich betrachte mich nicht als Schriftsteller. Andererseits habe
ich es abgelehnt, ein Pseudonym zu wählen; denn ich kann zu dem, was
ich geschrieben habe, stehen.
Wenn
Ihnen mein bloßer Name nicht gefällt, hier ein kleiner Tip. Einer
meiner früheren ‚Arbeitgeber‘ wüßte plötzlich über meinen
Lebenslauf sehr detailliert Bescheid. Er ließ auch durchblicken, dan
(s) meine Vermutung, woher er seine Informationen wohl habe, richtig
sei. Was einem einzelnen ‚Arbeitgeber‘ möglich ist, dürfte für
Sie als Verallgemeinerung des ‚arbeitgeber‘ doch sicher keine
nennenswerte Schwierigkeit bereiten.
In
der Hoffnung, Ihnen hiermit gedient zu haben, verbleibe ich
(Ein Nachruf auf Berni Kelb von Klaus Wolschner (Taz Bremen)
1971
veröffentlichte eine „Betriebsfibel“ – das war der
gesammelte Erfahrungsschatz seiner linksradikalen Betriebsarbeit –
zuletzt bei der Maschinenfabrik Kampnagel. „Es geschieht immer
wieder, daß Genossen wie du versuchen, in ihrem Betrieb die
Belegschaft zu agitieren“, fängt das Buch an. Genau darum geht
es: Wie kann man im Betrieb arbeiten, was sollte man lieber nicht
machen? Ganz praktisch – und mit hohem Anspruch: „Unsere Arbeit
gilt der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Sie hat das
Ziel, jede Form der Herrschaft von Menschen über Menschen und die
darauf beruhende Ausbeutung zu brechen.“ Kelb kannte auch den
„inneren Feind“, die linken Funktionäre. Sein Rat: „Trau
keinem, der dafür bezahlt wird!“
Dabei
war Berni Kelb einmal Bestseller-Autor, jedenfalls in linken Kreisen,
und seine Biografie ist ein Stück Zeitgeschichte des 20.
Jahrhunderts: Er stammt aus einer streng kommunistischen Hamburger
Arbeiterfamilie. Sein Name wurde Anfang der 70er-Jahre öffentlich
bekannt über Bücher, in denen er seine eigene kommunistische
Vergangenheit verarbeitete. Schonungslos rechnete er mit dem Pathos
der illegalen KPD der Stalin-Ära ab: „Die Mitglieder hatten
zwar noch ihren blinden Glauben und guten Willen, aber die bezahlten,
illegalen Funktionäre konnten ihnen keine Perspektive aufzeigen. Sie
waren in der Situation einer Drückerkolonne, die Ladenhüter
verkaufen soll.“
Ein
Dokument der Zeitgeschichte aus heutiger Sicht, das damals 4 Mark 50
kostete, heute bei Amazon 39 Cent plus Porto. Irgendwann in den
90er-Jahren stand Berni Kelb dann bei der taz in Bremen auf der
Matte. Ein kleines, schrulliges Männchen, das für die, denen der
Name nichts sagte, aufgrund seiner nackten Füße auffiel. Auch im
Winter.
Natürlich
war er nirgends organisiert, wo auch, war ein Einzelgänger. Und
wollte dennoch etwas sagen. Hin und wieder haben wir einen Text von
ihm gedruckt – zum Beispiel einen Kommentar über das auch damals
diskutierte NPD-Verbot.
Ich
habe den Namen Kelb über sein anderes Buch kennengelernt:
„Organisieren oder organisiert werden. Vorschläge für Genossen
links unten“ der Titel. Als die Reste der 68er-Bewegung
autoritäre Organisationen gründeten, packte Kelb aus – zur Freude
aller antiautoritär gesinnten, undogmatischen Spontis.
Berni Kelb, in den 50er-Jahren strammer Kommunist und bei der illegalen KPD, in den 70ern ein Einzelgänger und Theoretiker der Spontis, ist gestorben. Ein „barfüßiger Prophet und gefallener kommunistischer Erzengel“ war Berni Kelb, ein „Anarcho-Kommunist und Querulant“, das hat der frühere taz-Kolumnist „Urdrue“ einmal geschrieben. Am 5. 12. 2011 ist Berni Kelb gestorben, bitterarm, auch in Walle unbekannt. Bescheiden wie er war, hat er sich auch in seine Einsamkeit gefügt.
„Hitler
kam an die Macht, weil die Industrie ihn finanziert hat“, war
vor elf Jahren sein Argument. In der NPD sammeln sich dagegen „nur
ein paar Psychopathen, wie es sie in jeder Gesellschaft gibt.“
Und dann sein Gedanke: „Antidemokratischen Parteien und
Organisationen kommt man mit innerorganisatorischer Demokratie bei.“
Es müsste ein Parteiengesetz geben, das Maßstäbe für Transparenz
und innerorganisatorische Demokratie setzt – die dann auch für eine
NPD gelten würden.
Klaus
Wolschner 9.12. 2011 Taz Bremen
Eine
neue Heimat hat Berni Kelb seit den 90er-Jahren in einer Kultur
gefunden, in der er aufgewachsen ist: bei den „Plattdeutschen“
und ihren Alltagsproblemen. Wie mit seiner Mutter in der Küche sang
er im hohen Alter gern die plattdeutschen Lieder. Rund 50
Theaterkritiken über Aufführungen der niederdeutschen Bühne im
Waldau-Theater finden sich im taz-Archiv unter seinem Künstlernamen
Bani Barfoot. Und er hat das Schauspiel Rose Bernd von Gerhart
Hauptmann ins Niederdeutsche gebracht, eine Tragödie voller
Sozialkritik, menschlicher Einsamkeit und erotischer Verstrickung.
Foto: G. Klaut
von Barni Barfoot, erschienen in der Taz Bremen Drama un Komedie
„De Witwenclub“ vun Ivan Menchell: Premiere in de Komödie Bremen (vormals Niederdeutsches Theater)
Aff
un an geevt se dor in Walle doch noch wat op Platt. Nu: „De
Witwenclub“ vun den Amerikoner Ivan Menchell, na de düütsche
Fassung vun Karin Kersten op Platt vun Hans Timmermann. Nich bloots
de Autor, ok de Rejiessör (Thomas Wilberger), un de Dorsteller vun
den eenzigen Keerl in’t Speel, den verwitweten Slachter Theo (Peter
Wohlert) sünd Gäste. Kannst lang över nadenken!
Twee
Szenarien gifft dat, – vun Bojan Boev bühnenbildnerisch excelent
drapen – op de de Szenen afwesselnd speelen dot. De Komödie vun de
dree Witfroons, de dat Stück den Namen verdanken deit, speelt in de
Wahnstuuv vun Ida (Elfie Schrodt). Dat Drama – de deepere Sinn vun
dat Stück – speelt op ’n Karkhoff.
Dor
dreept se sick jümmers, de Dree. Jedeen vun jem truuert op eer eegen
Oort. De Een, Doris (Ingeborg Heydorn) föhlt sick verlaaten, de
anner, Luzie (Isolde Beilé), bedragen, un de drütte, Ida, eenfach
alleen laten.
Un
denn kummt de Witwer Theo, de bloots dat Graff vun sien Froo besöken
will, jem in de Mööt. Ida kennt em as Kundin, bloots so. Doris
kennt em ok. Se meent, dat harr mol meist ’n Afeere warden kunnt.
Is dat aver nich worden. Un Luzie, de em gor nich kennt, smitt sick
an em ran.
Doröverhen
geiht de Fründschaft vun den Witwenclub (in’t Original: Cemetery
Club) natüürlich eerst mol koppeister. Man se koomt doch jümmers
wedder tohoop. Op’t End op den Karkhoff, as Doris dootbleven is.
Fazit:
Dat Stück is ’n vigelienschen Balace-Akt twüschen Komedie un
Drama. Wat dor an seelischet Eelend sick afspeelen deit bi den
gröttsten Deel vun de Minschheit, wat in dat Öller de Witwen jo
sünd is meisterhaft mookt.
Besünners
Ingeborg Heydorn speelt eer swore Rull, de so simpel utsüüt, heel
inföhlsam. Elfie Schrodt speelt eern Deel meisterhaft, as wi dat vun
eer wennt sünd. Isolde Beilé hett eer egens dankbore Rull as Luzie,
de an’t Enn leer utgahn deit, ’n beten wat övertrocken. ’N
sporsomere Gestik harr mehr brocht.
Technisch:
’n Rejissör schull mehr Moot opbringen, in’n Vörweg ’n poor
Överlängen in de Dialogen to strieken. De Soufflöse (Ingrid
Frana-Sieweke) hett ’n scheune Stimm, de drägen deit. Un Mildred
(Sabine Junge) – dat weet wi nu (dank Lore Schnabel, Kostüme)
endlich nau – hett ’n wunnerscheun’n Rüggen.
»Selbst in realen Gebrauchswerten, die sie (die Leute) bekommen, wohnt oft eine unheimliche Macht der Zerstörung. Das Privatauto – bei Vernachlässigung der öffentlichen Transportmittel – zerpflügt die Städte nicht weniger wirksam als der Bombenkrieg und schafft Entfernungen erst, die ohne es nicht mehr zu überbrücken sind.« (Wolfgang Fritz Haug, im Kursbuch Nr. 20/1970, Seite 156 in dem Beitrag »Zur Kritik der Warenästhetik.«)
2. Lage des Arbeiterkindes im 19. Jahrhundert 2.1. Wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland 2.1.1. Veränderung in der Sozialstruktur Deutschlands im 19. Jahrhundert
2.2. Kinderarbeit und Gesetze zum Schutz der Arbeitskraft Kind
2.3. Wohnverhältnisse der Arbeiterfamilien
2.4. Entwicklung des Bildungssystems
3. Kinderbuchproduktion im 19. Jahrhundert 3.1. Entwicklung der Drucktechnik
3.2. Entwicklung des Vertriebssystems
3.3. Inhalte der Kinderbücher und deren Veränderung durch gesellschaftliche Einflüsse
4. Beispiele zur Kinderbuchproduktion des 19. Jahrhunderts
4.1. Bilderbogen 4.2. Grimms Märchen 4.3. Der Struwwelpeter
4.4. Max und Moritz
5. Versuch einer Übersicht über Bilderbuchproduktion von 1870 1910 6. Die Arbeiterbewegung und ihre Auseinandersetzung mit der Kinder- und Jugend
Keine Art von Literatur war wohl jemals “Wert in sich selbst“; Kinder- und Jugendliteratur, wie jede literarische Erscheinung, hat zu tun mit den Produk-tionsbedingungen, mit den jeweils vorhandenen kulturellen Institutionen und den Erziehungs- und Kommunikationsverhältnissen. Bisher gibt es keine Gesamtdarstellung der Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur, die die gesellschaftlichen Faktoren der behandelten Zeitepochen miteinbezieht, deshalb möchte ich in meiner Arbeit mit dem Thema: Darstellung der Realität im Kinderbuch – Leseprobleme von Arbeiterkindern im 19. Jahrhundert – versuchen, den gesellschaftlichen Kontext, in den die Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts eingebettet ist, darzustellen.
In der folgenden Arbeit möchte ich
1. einige Faktoren der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts herausarbeiten, insbesondere interessiert mich die soziale Lage des entstehenden, breiten Proletariats, und zwar vornehmlich die soziale Lage der Arbeiterkinder
2. einen Überblick über die Kinderbuchproduktion des 19. Jahrhunderts geben
3. aufzeigen, welches Realitätsbild und welche Wertvorstellungen diese Bücher enthielten, wem sie nützten, wem nicht und welche Interessen dahinter standen.
Diese Frage stellt sich besonders, wenn man bedenkt, daß die heile Kinderwelt-Ideologie, die im 19. Jahrhundert entstand, noch heute, trotz Veränderung im politisch – ökonomischen Bereich, einen wesentlichen Teil der Kinderbuchproduktion prägt. Dieter Richter sagt dazu in seinem Buch “Die heimlichen Erzieher“: “Kennt man die ökonomisch-historischen Wurzeln der Kinderwelt-Ideologie, dann versteht man auch die bedrohliche Geste, mit der sie bis heute verteidigt wird. Man versteht, welchen massiven Herrschaftsinteressen auch sie zum Schleier dient.“ Diese vom Bürgertum geprägte Ideologie der heilen Kinderwelt, die auch die Inhalte der Kinderbücher des 19. Jahrhunderts bestimmte, wirkt unwahr, wenn man sie mit den materiellen Lebensbedingungen der großen Masse der Arbeiterkinder konfrontiert. Der Rückgriff auf das 19. Jahrhundert (in dem so weit verbreitete Bücher wie Struwwelpeter und Nachkommen entstanden) hat die Funktion, den Zusammenhang zwischen Gesellschaft, Kind und Ideologieproduktion deutlicher zu machen, als er sich dem unbefangenen Betrachter heute bei der Besichtigung des Kinderbuchmarktes ergibt.
2.Lage des Arbeiterkindes im 19. Jahrhundert
2.1.Wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland
Mitte des vergangenen Jahrhunderts drängte eine neue Klasse die alte feudale Ordnung zurück – das Bürgertum war an der Macht, mit ihm kam eine wirtschaftliche Entwicklung, die es in einem solchen Tempo in Deutschland noch nicht gegeben hatte. Seit 1840 war die verfügbare Leistung der Dampfmaschinen von 40 000 Ps im Jahre 1872 auf 2 450 000 Ps gestiegen. Die Zahl der Aktiengesellschaften (vorwiegend Verkehrsaktiengesellschaften) stieg von 1849 – 7 (mit 43 Millionen Mark Kapital) auf 1870 – 259 (alle zusammen 2.400 Millionen Mark Kapital). Während 1840 die Länge der Eisenbahnstrecken noch 500 Km betrug, waren es 1870 – 19.600 km. Die Anzahl der Arbeiter in der Kruppschen Gußstahlfabrik in Essen erhöhte sich von 241 im Jahre 1850 auf 13.000 Arbeiter im Jahre 1875. Der Lohnindex stieg von 1850 bis 1870 in der Bauindustrie von 44 auf 61, in der Druckereiindustrie von 58 auf 74, im Bergbau von 54 auf 77, in der metallverarbeitenden Industrie von 43 auf 66. Die in diesem Zusammenhang steigenden Lebenshaltungskosten für Industriearbeiter stiegen ebenfalls von 1850 – 49 auf 1870 – 83 (1900 = 100%). Von 1844 bis 1847 stiegen die Lebenshaltungskosten um 50%. Während sich jedoch in der ersten Phase die Lebenshaltungskosten bei vermehrter Arbeitslosigkeit und in einer größeren wirtschaftlichen Krise erhöhten, stieg von 1850 – 1854 die Lebenshaltung um über 70%, dies ging aber in einer Phase des vorsichtigen wirtschaftlichen Aufschwungs vor sich. Da die Löhne in dieser Zeit nicht in gleicher Weise stiegen wie die Lebenshaltungskosten, sank der Bruttoreallohn von 1850 bis 1855 von Index 88 auf Index 55 ab und erreichte 1870 elf Punkte weniger als 1850.(1) Für die Arbeiter bedeutete also die vermehrte Produktion die “sog. technische Revolution“ ein gleichzeitiges Absinken ihres Lebensstandards. Woran das im einzelnen lag, ist hier nicht Gegenstand der Untersuchung. Festzuhalten bleibt lediglich, dass trotz vermehrter Warenproduktion und Intensivierung der Arbeitsprozesse, also vergrößertem Bruttosozialprodukt, der Lebensstandard der Arbeiter im Gegensatz dazu abnahm. Ein kurzes Beispiel aus dieser Zeit führe ich an: 1868 erschien in der offiziellen Zeitschrift des “Königlich Preußischen Statistischen Bureaus“ ein Artikel von L. Jacobi über die Löhne in Niederschlesien. Jürgen Kuczynski zitiert und kommentiert diese statistische Erhebung: “So stellt er zum Beispiel für den Kreis Landshut, damals wie heute ein Zentrum der Leinen Industrie, fest, daß das Existenzminimum auf dem Lande 120 und in der Stadt 150 Thaler für eine Familie war. Sodann bemerkt er, daß die Löhne unter dem Existenzminimum lagen. Wie kommt es nun, daß die Arbeiter trotzdem weiterleben? Dazu bemerkt Jacobi ganz einfach, daß sie in Wirklichkeit das Existenzminimum gar nicht brauchen, weil sie das Holz in den Wäldern sammeln können, weil sie ihre Kleidung meistens durch Betteln erhalten, und weil sie, wenn sie nicht genug zu essen haben, einfach hungern . . .“ Für den Kreis von Glogau stellt Jacobi wieder mutig fest, daß “die Löhne von Mann und Frau zusammengerechnet nur etwa zwei Drittel des Existenzminimums decken“. Und wie kann der Rest beschafft werden? Auf dreierlei Weise: “besonders intensive Stückarbeit und Kinderarbeit; Nahrungsmittelgenuß unter dem Existenzminimum auf Kosten der Gesundheit der Eltern oder der Kinder; oder schließlich irgendeine unehrliche Weise, etwas zu verdienen.“(2) Die Fabrikarbeit, die Tätigkeit in der Landwirtschaft und Heimarbeit, die ständige Unterernährung hatte u.a. auch zu Folge, daß immer mehr Jugendliche den Anforderungen des Militärdienstes nicht mehr genügten. Dieses Beispiel aus Saalfeld verdeutlicht das:
1878/79/80 Herzoglicher Landrat in Saalfeld
Musterungspflichtige 544
untauglich befunden 54
wegen zu schwachen Körperbaus zurückgestellt 282
Insgesamt wurden also 336 Jugendliche nicht zum Militärdienst genommen, das sind 62% aller Wehrdienstpflichtigen dieser Jahrgänge.(3)
In den sogenannten Gründerjahren um 1871 nach dem gewonnenen Frankreichfeldzug, kam es zu einer fieberhaften Investitionstätigkeit, die schließlich 1873 zu einer Überproduktionskrise und zu einem Rückgang der Produktion führte. Nach dem sogenannten “Gründerkrach“ erreichte die Zahl der Aktiengesellschaften bis 1900 den Stand von 1872 nicht mehr wieder. In dieser Zeit, zwischen 1870 und 1900 entstanden in den großen industriellen Ballungszentren die Arbeitersiedlungen und Mietskasernen mit 3 oder 4 Hinterhöfen (heute noch im Berlin bekannt). Es waren Viertel, in denen es eine enorm hohe Bevölkerungsdichte gab und die extrem schlecht mit sanitären Anlagen ausgerüstet waren. In Berlin z. B. wuchs die Einwohnerzahl von 900 000 im Jahre 1871 auf 2,7 Millionen um die Jahrhundertwende. Angezogen von der Aussicht auf Arbeit kamen jährlich Zehntausende aus allen Gegenden Deutschlands nach Berlin.
2.1.1.Veränderung in der Sozialstrukturim 19. Jahrhundert
Die Zuwachsrate der Bevölkerung nahm rasant zu. Allein von 1800 bis 1850 stieg die Bevölkerungszahl um 13 Millionen auf 36 Millionen, bis 1870 weiter auf 41 Millionen, schließlich erreichte sie um 1900 endlich 56 Millionen. Den höchsten Kinderreichtum hatte das Proletariat zu verzeichnen, für das jedes Kind nicht nur ein zusätzlicher Esser, sondern auch ein weiterer Versorger der Familie war. Die Bevölkerungsstruktur Deutschlands wandelte sich in den letzten dreissig Jahren des Jahrhunderts enorm, ähnlich den Strukturveränderungen in der Industrie. Die arme Landbevölkerung siedelte um in die entstehenden industriellen Ballungszentren Deutschlands, ins Ruhrgebiet, nach Berlin und nach Oberschlesien. Besonders die Schwer- und Produktionsmittelindustrie band einen großen Teil der Industriearbeiterschaft an sich. Das Zunftwesen, lange Zeit noch für die handwerklichen Berufe maßgebend gewesen, zerfiel zusehends. “Wie alle Länder dieser Zeit war Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts vornehmlich auf Ackerbau eingestellt.“ (4). Von den 10 Millionen Einwohnern Preußens lebten am Anfang des Jahrhunderts nur etwa 2,7 Millionen in den Städten. 80% der Bevölkerung arbeiteten in der Landwirtschaft oder standen mit ihrer Arbeit in direkter Abhängigkeit von der Landwirtschaft. Doch bis 1860 stieg die Industrieproduktion um das 5½fache. Erst in dieser Zeit entstand in Deutschland ein regelrechtes Industrieproletariat. Für 1882 gibt Jürgen Kuczynski von allen hauptberuflich Erwerbstätigen schon 3% Angestellte und 60,5% Arbeiter an. 1895 nahm der Prozentsatz der Arbeiter und Angestellten weiter zu: 67,7% Arbeiter, und 4,9% Angestellte. 1907 betrug der Anteil bereits 71,6% Arbeiter und 8,1% Angestellte. Damit verdiente 79,7% der hauptberuflich Erwerbstätigen seinen Unterhalt als Arbeiter oder Angestellter. Dennoch entfielen 1895 von 1.000 erwerbstätigen Arbeitern immerhin noch 237,7 auf die Landwirtschaft, also rund ein Viertel. Bis 1907 sank der Anteil der Arbeiter in den Landwirtschaft jedoch weiter auf 233,4 pro 1.000 Erwerbstätiger. Die Zahl der Selbstständigen ging in Industrie und Landwirtschaft ebenfalls zurück und zwar in allen Bereichen. Nur in dem Bereich, der von Anfang an eine bestimmte Kapitalmenge erforderte (Bergbau und Hütten), steigerte sie sich von 1895 bis 1907 leicht von 0,1 auf 0,2 von je 1.000 Erwerbstätigen. (5) Besonders zusammenhängende Familien wurden durch die Beschäftigung in der Industrie und durch die großen Umstrukturierungen in der Wirtschaft aus ihren sozialen Bindungen herausgerissen, die immer eine wichtige Hilfsfunktion in Notlagen hatten. Nun mußte sich jede Familie alleine durchschlagen.
2.2.Kinderarbeit und Gesetze zum Schutz der Arbeitskraft Kind
Mit der Durchsetzung des Kapitalismus in Deutschland, vermehrte sich auch der Anteil der in der Produktion beschäftigten Frauen und Kinder. Kinder ab dem fünften Lebensjahr wurden in Bergwerke, Hüttenwerke und Glasfabriken geschickt. Sie arbeiteten als Hilfskräfte in der Textilindustrie und in der Landwirtschaft. Während die Periode der Manufaktur noch die Qualifikation und den körperlichen Einsatz des einzelnen Arbeiters erforderte, war mit dem zunehmenden Einsatz von Maschinen auch die Dequalifikation des Arbeiters und das Absinken des Wertes der Arbeitskraft verbunden. Die Senkung des Wertes der Arbeitskraft zwang nun andrerseits die gesamte Arbeiterfamilie, für den Erhalt der Familie zu sorgen. Häufig kam es dann auch vor, dass erwachsene Arbeiter entlassen wurden, um den Arbeitsplatz für billigere Arbeitskraft(Frau, Kind) freizumachen: “mit der Senkung des Familienlohnes und dem Zwang zur Mitarbeit der kindlichen und weiblichen Familienmitglieder machte das Kapital den Arbeiter zum Sklavenhändler: “Er verkauft jetzt Weib und Kind“. (6) Zum Ende des 19. Jahrhunderts verbesserte sich die Situation der Kinder der Arbeiterklasse. Das hatte mehrere Gründe:
1. Eine Kinderschutzgesetzgebung wurde 1839 verabschiedet, fand jedoch erst Ende des Jahrhunderts langsam Beachtung. 2.Veränderung der Produktionsweise. 3. Benötigung von gesunden Rekrutenkontingenten.
In Preußen, das zu dieser Zeit das sozial fortschrittlichste Land Deutschlands war, wurde 1839 “die Kindernachtarbeit, die Einstellung von Kindern unter 9 Jahren, sowie von Analphabeten unter 16 Jahren in Fabriken ‚Berg-, Hütten- und Pochwerken‘ untersagt.“ (7) Die Analphabeten wurden in sogenannten Fabrikschulen unterrichtet, ca. 2 Stunden am Tag, oder, wenn das dem Unternehmer zu teuer war, in den Sonntagsschulen. Gesetzlich war er verpflichtet, den Kindern etwas beizubringen, sonst durfte er sie nicht beschäftigen. Dieses Kinderschutzgesetz blieb jedoch weitgehend wirkungslos, da erst 1861/62 in anderen industrialisierten Ländern wie Sachsen und Württemberg ähnliche Gesetze in Kraft traten; außerdem hatten die Unternehmer bei Verstößen gegen das Gesetz nur mit lächerlichen Strafen zu rechnen. Doch auch nach der nationalen Einigung 1871 wußte der Staatssekretär des Reichsamtes des Innern in einem Schreiben an den Kaiser 1902 zu berichten, das bei den im Jahre 1898 vorgenommenen Erhebungen über 500 000 schulpflichtige Kinder als außerhalb der Fabriken gewerblich tätig ermittelt worden seien. Zugleich sei festgestellt worden, daß die Kinder vielfach in gesundheitsgefährdenden Betrieben zu späten Abend- und frühen Morgenstunden und bis zu zehn Stunden täglich beschäftigt seien. Schulpflichtig war man im allgemeinen bis zu einem Alter von vierzehn Jahren. Fachleute gehen von der Schätzung aus, daß um 1900 mehrere Millionen Kinder arbeiteten, einschließlich der in der Landwirtschaft Tätigen. Mit dem Erstarken der Arbeiterklasse nahm die SPD, namentlich die sozialdemokratischen Frauen, den Kampf gegen die Kinderarbeit auf. Sie gründeten die sogenannten Kinderschutzkommissionen (bis zum Weltkrieg über 200), die sich selbst um die Beachtung der bestehenden Kinderschutzgesetzgebung kümmerten.
2.3.Wohnverhältnisse der Arbeiterfamilien
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verschlechterten sich die Wohnverhältnisse in den industriellen Ballungszentren. In den Jahren 1861 bis 1910 stieg der Prozentsatz der Hinterhauswohnungen ohne Licht und Sonne (heute in Berlin mit dem Tarnausdruck Gartenhaus belegt) von 28% auf 48% aller Wohnungen in Berlin. Setzt man die Zahl der Hinterhauswohnungen in Bezug zu den kleinen Wohnungen, die in der Regel den Arbeiterfamilien zur Verfügung standen, steigt der Anteil der Hinterhauswohnungen auf 70%. 585 der Wohnungen hatten z.B. in Berlin keine Toilette in der Wohnung. Die Wohnung waren in der Regel überfüllt, in Einraumwohnungen befanden sich nach Auskunft der Historiker oft mehr als sechs Personen. Betten wurden von den Arbeitern an ärmere Schichtarbeiter vermietet, tagsüber schlief jemand darin, der auf Nachtschicht ging – ein anderer mietete das Bett für die Nacht. Man mietete einen Schlafplatz. “Die Verschlechterung (der Wohnverhältnisse, Anmerk. I. Meyer) hatte vor allem deswegen solch Ausmaß erreichen können, weil die Fortschritte auf dem Gebiete der Medizin den Ausbruch von Seuchen verhinderten und so den Reichen kein Grund gegeben schien, irgendwie sich um die Wohnverhältnisse der Armen zu kümmern.“ (8) Ebenfalls stiegen in dieser Zeit die Mieten schneller als die Löhne, was bedeutet, daß für eine Wohnung ein größerer Lohnanteil ausgegeben werden mußte. Aus einer zeitgenössischen Erzählung kann man folgende Darstellung der Arbeiterwohnungen erkennen: “In den engen Stuben umspülte die stickige, verbrauchte Luft vieler Menschen in einem Raum die Gesichter der Schlafenden. Treppen, Flure, Stuben, Quer- und Hinterhäuser, das war alles unerträglich dicht zusammen. Kaum Wände und Luft dazwischen. Einer spürte den schweren, unruhigen Atem des anderen. Der Geruch der Menschen drang durch Wände, Spalten und Verschläge. Mieter, Untermieter, Schlafburschen und der Fluch dieser Gasse – die Kinder, von denen es kaum eins gab, das in einem eigenen Bett schlafen konnte . . .“ (9) Berücksichtigt man, daß der Roman von Klaus Neukrantz im Jahre 1929 spielt und sich die “Wohnverhältnisse von 1900 bis 1914 ganz leicht verbessern“,(10) so muß man annehmen, daß eine Schilderung der Wohnverhältnisse für die Zeit um 1900 ähnlich schlecht ausgefallen wäre. In einer Denkschrift der Berliner Arbeiter Sanitätskommission aus dem Jahre 1893 findet sich folgende Darstellung einer typischen Arbeiterwohnung im Bezirk Berlin 61, Urbanstraße: “Die Wohnung besteht aus einer kleinen Stube und einer kleinen Küche, darin sechs Personen (zwei Erwachsene, vier Kinder). Die eine Wand ist eine Giebelwand, daher feucht und mit Schimmel bedeckt. Die Küche ist so klein, daß darin kein Bett stehen kann. Demnach ist alles in der feuchten Stube zusammengepfercht.“ (11) Statistisches Material über Wohnverhältnisse aus dieser Zeit ist wenig vorhanden, auch die Differenzierung nach bestimmten Bevölkerungsschichten erfolgt in der Regel nicht. In Berlin “kamen im Jahre 1860 schon 45 Personen auf ein Haus, 1870 waren es bereits 51 Personen und 1872 56 Personen pro Haus. Aber diese Zahlen werfen noch ein mildes Licht; denn die leeren Salons der Bourgeoisie nahmen in der Statistik ja mit auf, was in den Mietskasernen aus den Fenstern quoll. Aufschlußreicher sind diese Zahlen: im Jahre 1867 waren 11% aller Wohnungen in Vorderhäusern und 15% aller Wohnungen in Hofgebäuden und Hinterhäusern ohne eigene Küche; vier Jahre später, 1871, hatten schon 16% aller Wohnungen in Vorderhäusern und 23% der Wohnungen in den Hinterhäusern keine eigene Küche mehr. Sie waren bloße Schlafbehältnisse für Proletarier.“ (12)
2.4.Entwicklung des Bildungssystems
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kämpfte das Bürgertum um die Einrichtung eines bürgerlich-demokratischen Bildungs- und Erziehungswesens. Die fortschreitende kapitalistische Produktionsweise verlangte eine neue Struktur der Volksbildung. Es wurde für die industrielle Entwicklung mehr Wissen und weniger religiöser Glauben gebraucht. Wichtige Teilforderungen der erstrebten Demokratisierung des Bildungswesens waren: strikte Durchführung des Schulzwanges, besser gebildete Lehrer, die Einführung von Fortbildungs- und Berufsschuleinrichtungen und technischen Lehranstalten, die Beseitigung der Monopolstellung des Gymnasiums und die Errichtung von Realschulen. Obwohl schon 1619 in Weimar, 1649 in Württemberg, 1717 in Brandenburg-Preußen, 1763 – 1765 in Sachsen der staatliche Schulzwang eingeführt wurde, blieb die Erziehung der Arbeiterkinder in den Schulen weit hinter der öffentlichen Erziehung der bürgerlichen Kinder zurück. Im Zuge der industriellen Revolution und der starken Zunahme der Kinderarbeit wurde das Bildungssystem wieder wesentlich eingeschränkt. Für die städtischen Arbeiterkinder wurden die Fabrikschulen eingerichtet, u. a. bedingt durch Gesetze “über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“, die die Beschäftigung von Analphabeten in Fabriken untersagten. In diesen Fabrikschulen “erhielten die Kinder nach einer langen und ermüdenden Arbeitszeit von 11 bis 14 Stunden noch am späten Abend – im Winter von 19.30 Uhr bis 21.00 Uhr oder gar von 20.30 Uhr bis 22.00 Uhr, im Sommer von 19.00 Uhr bis 20.30 Uhr in sogenannten Abend-schulen einen sehr kümmerlichen Unterricht. Andere mußten ihren einzigen arbeitsfreien Tag der Woche opfern, um in Sonntagsschulen ein geringes Maß an Bildung zu erwerben. Vielfach konnten die gesetzlichen Bestimmungen auch deshalb nicht erfüllt werden, weil für den Unterricht keine Räume vorhanden waren.“ (13) Zur Zeit der bürgerlichen Revolution 1848 begann auch die Arbeiterbewegung sich zu formieren. Sie war an einer Verbesserung des Schulunterrichts und an einem Abbau der Kinderarbeit bei gleichzeitigen Lohnerhöhungen interessiert. Doch die Arbeiterbewegung war zu schwach, um derartige Forderungen gegen konservative und klerikale Interessen durchsetzen zu können. Peter Reichensperger, ein Vertreter der katholischen Fraktion in der preußischen Kammer, artikulierte 1848 die Interessen der Klerikalen so: “Ich behaupte, daß man die unteren Klassen und den Armen von einem Recht auf Bildung ebensowenig als von einem Recht auf Lebensunterhaltung sprechen darf.“ (14) “Das aufstrebende Bürgertum hatte zwar aus ökonomischen Gründen kein Interesse an der Ausbildung der Arbeiter, um aber die Arbeiterschaft als politischen Bündnispartner gegenüber der Feudalklasse zu gewinnen, schäumt der Liberalismus vor edlem Zorn über die äußere und innere Rückständigkeit der Schule. In schwungvollen Worten preist er die Notwendigkeit allgemeiner Volksbildung, kühn fordert er die Einheitsschule, die Befreiung der Schule von der Herrschaft der Kirche, voller Edelmut verlangt er für die Kinder schöne Schulhäuser und für die Lehrer eine anständige Besoldung“. (15) Aber ernst gemeint waren diese Forderungen nicht, wie sich nach der Niederlage des Kampfes um die nationale Einigung 1849 herausstellte, als der Liberalismus über Schulfragen ab 1866 nun “mit verletzender Gleichgültigkeit . . . hinweg“ ging. (16) Der Prozeß der Herausbildung der Arbeiterpartei vollzog sich schwierig und nur unter Rückschlägen. Unter der Führung von Stephan Born entstand 1848 die erste deutsche “Arbeiterverbrüderung“, die 1848 ein umfangreiches Bildungsprogramm aufstellte. Dieses Programm enthielt u. a. die Forderungen: Trennung von Kirche und Schule, Unentgeltlichkeit des Unterrichts, Verbot der Kinderarbeit bis zum 14. Lebensjahr, Einrichtung staatlicher Lehrwerkstätten. Für die Durchsetzung dieses Programms wurden keine Pläne entwickelt. 1860 entstanden Arbeiterbildungsvereine, die weitgehend nur Elementarbildung vermittelten. Unter Führung von Ferdinand Lassalle wurde 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet. “Das Programm dieser Partei, von Lassalle 1863 verfasst, vertrat die bildungspolitische Ansicht, das der Staat, wenn er unter die Herrschaft der Idee des Arbeiterstandes gebracht sei, seine Aufgabe auch darin sehe, die ‚Erziehung und Entwicklung des Menschengeschlechtes zur Freiheit zu fördern.‘ Lassalle verzichtete damit auf die Entwicklung einer sozialistischen Bildungspolitik unter kapitalistischen Verhältnissen.“ (17) 1869 wurde in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands gegründet, die in ihrem Programm auch noch keine sozialistische Bildungs-politik auf dem Hintergrund der industriellen Revolution erstellte, sondern die demokratischen Forderungen der “Arbeiterverbrüderung“ von 1848 aufnahmen. “Die Übernahme des Ausbildungssektors durch den Staat, die durch die am 11. März 1872 erlassenen Schulgesetze bestätigt wurde, führte in den 70er Jahren zur Auseinandersetzung zwischen den Parteien der herrschenden Klasse.“ (18) Der Streit der Parteien um Einfluß auf die Schule nahm in dem Maße ab, wie sich die Sozialdemokratie als gemeinsamer Feind der herrschenden Klasse stärker profilierte. Mit der Kabinettsorder vom 1. Mai 1889 schlichtete der deutsche Kaiser Wilhelm II die Auseinandersetzung zwischen den bürgerlichen Parteien: “Schon längere Zeit hat mich der Gedanke beschäftigt, die Schule in ihren einzelnen Abstufungen nutzbar zu machen, um der Ausbreitung sozialistischer und kommunistischer Ideen entgegenzuwirken. In erster Linie wird die Schule durch die Pflege der Gottesfurcht und der Liebe zum Vaterlande die Grundlage für eine gesunde Auffassung auch der staatlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu legen haben. Aber ich kann mich der Erkenntnis nicht verschließen, daß in einer Zeit, in welcher die sozialdemokratischen Irrtümer und Entstellungen mit vermehrtem Eiferverbreitet werden, die Schule zur Förderung der Erkenntnis dessen, was wahr, was wirklich und was in der Welt möglich ist, erhöhte Anstrengungen zu machen hat. Sie muß bestrebt sein, schon der Jugend die Überzeugung zu verschaffen, daß die Lehren der Sozialdemokratie nicht nur den göttlichen Geboten und der christlichen Sittenlehre widersprechen, sondern in der Wirklichkeit unausführbar undin ihren Konsequenzen dem Einzelnen und dem Ganzen gleich verderblich sind.“ (19)
3.Kinderbuchproduktion im 19. Jahrhundert
3.1.Entwicklung der Drucktechnik
Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann die Industrialisierung des Verlagswesens unter anderem durch Angliederung von graphischen Nebenbetrieben an größere Verlage, die sich auch auf Papierfabriken und Schriftgießereien erstreckte. Auf dem Drucksektor war ebenfalls eine starke Entwicklung der Produktivkräfte zu verzeichnen. Durch die Erfindung und Anwendung der Schnell-presse, die kürzere Druckzeiten und damit geringe Kosten ermöglichte (1811), durch Erfindung der Setzmaschine Linotype von Mergenthaler (1884) und Monotype von Lanston (1897) konnte der Buchdruck weiter rationalisiert werden. Horst Kunze weiß in seinem Buch “Schatzbehalter“ auch anzumerken: “Die Anfänge des Offsetdrucks boten zugleich eine technische Hilfe zur Verbesserung der Qualität des Druckes, denn dieses mit einem Raster arbeitende Verfahren, bei dem die Farbe von der Druckplatte nicht direkt auf das Papier gelangte, sondern zunächst auf einem Gummituch “abgesetzt“ (“off-set“) wurde, vermochte die Wärme und Leuchtkraft der Farben weitgehend zu erhalten.“ (20) Dennoch “geht es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf weiten Strecken dem Verfall des künstlerischen und typographischen Kinderbuches entgegen. Zu dem Heer der unbedarften Vielschreiber von Jugendschriften gesellt sich jetzt ein Sintflut minderwertiger Zeichner, deren Produkte von rührigen, nur nach Gewinn strebenden Verlagen schnell und billig, das heisst schlecht und mangelhaft hergestellt werden.“ (21) Heinrich Wolgast lehnte den “Buntdruck“ generell ab, bedingt durch seine Unkenntnis über vorhandene technische Möglichkeiten. So traten er und andere weiter für den Holzdruck in Kinderbüchern ein. “Das war eine Verwechslung von Ursache und Wirkung, die Wolgast selbst, nach dem er über den wirklichen Sachverhalt informiert war, berichtigt hat.“(22) Ein weiterer Widerspruch war ein Beleg dafür, daß es keinesfalls an den Möglichkeiten der damaligen Drucktechnik gelegen hat, daß die Kinderbücher schlecht in Gestaltung, Inhalt und Farbe waren. Wolgast selbst wies 1906 darauf hin. “daß England und Frankreich im ‚Bilderbuch-Buntdruck‘ viel weiter seien als Deutschland. Er übersah dabei, daß mehrere dieser englischen Kinderbücher, die er im Auge hatte, den Vermerk ‚Made in Germany‘ trugen. Das heißt, dieselben Firmen, die für Deutschland Schund und Minderwertiges fabrizierten, waren sehr wohl in der Lage, Vorzügliches zu leisten.“ (23) Die Entwicklung der Drucktechnik in Deutschland war also mit entscheidend für den Preis eines Buches und damit für seine Verbreitung.
3.2.Entwicklung des Vertriebssystems
Ein eigenes Vertriebssystem für Kinderbücher gab es Ende des 19. Jahrhunderts nicht. Die Bücher wurden über Buchhandlungen oder direkt durch Handlungsreisende vertrieben. Besonders die Landbevölkerung wurde durch Handlungsreisende – auch “Kolporteure“ genannt – beliefert. Während des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts war dieser “Kolporteur“ der “mächtigste Lesestofflieferant.“ (24) Vertrieben wurde alles, was der Markt hergab: Kalender, Almanache, Handbücher, Romane und auch die berühmten Einblatt-Bilderbogen, die es einfarbig und später auch koloriert gab. Diese Bilder-bogen kann man als Vorläufer der modernen Comic-Strips ansehen. Der Preis lag bei 10 Pfennig, farbig kosteten sie 20 Pfennig. Vor der Entstehung des modernen Mehrfarbendruckes wurden sie in der Regel von Kindern der Armen handkoloriert. Die Literaturwissenschaft hat sich bisher kaum soziologisch mit dem Kinderbuch auseinandergesetzt, so daß wir heute nur vermuten können, welche Bücher von Arbeiterkindern gelesen wurden. In der Regel begnügt sich die Literaturwissenschaft mit dem Hinweis, “daß der Geschmack der unteren Volksschichten bedauerlicherweise minderwertig gewesen sei!“ (25) Mitte des Jahrhunderts waren die “Heftchen“ – von Rittern, Räubern und allgemeine Gruselliteratur sehr verbreitet. Der stationäre Buchhandel entwickelte sich in den großen Städten besonders rasch, aber nur dort in bestimmten Vierteln; für die Verteilung auf bestimmte Viertel habe ich jedoch keine Zahlenangaben gefunden. 1832 gab es in Preußen 296 stationäre Buchhandlungen in 81 Städten, 1834 kam in Berlin auf 3.000 Einwohner eine Buchhandlung. Wien hatte zur gleichen Zeit bei 300 000 Einwohnern insgesamt 43 Buchhandlungen. Erst nach der 48iger “Revolution“ entwickelte sich der Buchhandel sprunghafter. Im “Allgemeinen Adressbuch für den deutschen Buchhandel“ wurde 1881 sogar für den Ort Künzelsau eine Buchhandlung vermerkt. Im Königreich Württemberg kamen auf zwei Millionen Einwohner 127 Buchhandlungen, davon waren allein 60 in Stuttgart. In Sachsen war das Zahlenverhältnis besser: hier gab es auf 2,8 Millionen Einwohner immerhin schon 550 Buchhandlungen. Bayern hatte dagegen nicht so viele Buchhandlungen – auf 5,3 Millionen Einwohner gab es hier nur 310 Buchhandlungen. Dennoch sagen diese Zahlen wenig über die Verbreitung bestimmter Bücher bei bestimmten Schichten des Volkes aus; hier bleibt man weitgehend auf Vermutungen angewiesen, die allerdings aufgrund bestimmter Fakten, nämlich wegen der Preise der Druckschriften und der unterschiedlichen Kaufkraftmöglichkeiten verschiedener Schichten sehr gut gestützt werden können. In einem späteren Ab-schnitt werde ich genauer darauf eingehen. Der potentielle Leserzuwachs stieg in hundert Jahren (von 1770 – 1870) von etwa 15% bis zu 70% der stark wachsenden Bevölkerung. Dieser potentielle Leserzuwachs rekrutierte sich aus den finanziell leistungsschwächsten Schichten. “Diese können ihre Lesekenntnisse nur anwenden, wenn ihnen der Lektüre-Markt billigst Ware liefert.“ (26)
3.3.Inhalte der Kinderbücher und deren Veränderungdurch geselllschaftliche Einflüsse
Im Gegensatz zum Bildungsgedanken der Aufklärung (18. Jahrhundert), der vor allem Wissen vermitteln wollte, wurde im 19. Jahrhundert (Romantik) die bisherige Kinderliteratur als zu lehrmeisterhaft abgelehnt. Es wurde die Idee der schutzbedürftigen, pardiesischen, naiven Kindheit propagiert. Das Elend der Stadt und Landbevölkerung, die Ausbeutung des Menschen durch lange Arbeitszeiten, schlechte Arbeitsbedingungen und niedrigen Lohn führte dazu, daß das neue Zeitalter als volksschädigend und verderbend abgelehnt wurde. Die politischen und wirtschaftlichen Unruhen, die nationalstaatlichen Bestrebungen des Bürgertums, der Kampf des Proletariats und des Bürgertums gegen den Adel in der Zeit von 1820 – 1848 fand keinen Niederschlag in der Kinderliteratur. Das Bürgertum hatte sich nach der Revolution völlig ins Privatleben zurückgezogen und kultivierte sein Heim und seine Gefühle. Heinrich Heine faßte diese Kultur in die Worte: “Man übte Bescheidenheit und Entsagung, man beugte sich demütig vor dem Unsichtbaren, haschte nach Schattenküssen und blauen Blumengerüchen, entsagte und flennte.“ (27) Die Seelenhaltung des Biedermeiers, verwaschen und wehleidig, schlug sich auf die Kinderbücher nieder. Die Inhalte sind beschaulich und niedlich, die fremde Welt ist nicht mehr Gegenstand der Betrachtung, sondern die dörfliche Idylle mit Hund, Kind und Katze. Solche Darstellungen finden wir u.a. von dem Illustrator Ludwig Richter. Kennzeichnend für diese Haltung sind auch die Märchenbücher, mit weinerlichen und rührseligen Inhalten, die unter den Titeln wie: “Nesthäkchen“, “Trotzkopf“, “Herzblättchen“, “Backfischchen“, “Blumenkörbchen“ erschienen. Es entstand auch erstmals ein großes Interesse an der Volkskunst. Märchen wurden gesammelt, Sagen, Lieder und Reime aufgeschrieben und veröffentlicht. Die bekanntesten Märchensammler sind die Gebrüder Grimm, die ihre “Kinder- und Hausmärchen“ erstmals 1812 veröffentlichen. Neben den überlieferten Märchen kamen auch Kunstmärchen in Mode, und fast alle Dichter der Romantik haben solche Märchen geschrieben, z. B. Andersen, E.Th.A. Hoffmann, Brentano, Möricke und Hauff. “Des Knaben Wunderhorn“, herausgegeben von Brentano und Achim von Arnim, beinhaltet alte Lieder und Reime aus dem Volksmund. Zu den erwähnten Tugenden Bescheidenheit, Bravsein, Fröhlichsein und Zufriedenheit kamen in den sechziger und siebziger Jahren noch vaterländisch-militaristische Züge. Nationales Selbstbewußtsein, Tapferkeit und Edelmut waren die neuen Tugenden. Gegen Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte sich die aus privater Initiative entstandene Jugendschriftenbewegung, deren Mitglieder hauptsächlich Pfarrer, Lehrer und Pädagogen waren. Sie gaben verschiedene Verzeichnisse mit kritischen Auswahlen und Empfehlungen für Bücher heraus, deren gemeinsame Forderungen verstärkte Vermittlung von Kenntnissen und Tugendmustern waren. Die Jugendschriften sollten: “unterhalten, belehren und veredeln“. Die Qualität dieser Forderungen änderte sich zum Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei sahen die Autoren als wichtigstes Moment im Kinder- und Jugendbuch die ästhetische, künstlerische Erziehung an. Es vollzog sich die “Wende zum Kind,“ damit zur Irrationalität und Realitätsflucht. Tendenzfreie Literatur wurde gefordert, um die sich verstärkenden Widersprüche innerhalb des Kapitalismus von den Lesern fernzuhalten. Die diversen Theorien und praktischen An-sätze, die sich unter den Strömungen der Reformpädagogik subsummieren lassen, suchten im Prinzip nach Lösungsmöglichkeiten der kapitalistischen Bildungskrise, wie sie sich um 1900 in Deutschland ergab, und waren andererseits auch Produkt dieser Krise: “Diese Bildungskrise war durch den Wider-spruch zwischen den steigenden Anforderungen der Industrie an die Bildung des Menschen und den ängstlichen Bemühungen der herrschenden Klassen, eine wirkliche Erhöhung des Bildungsniveaus der Volksmassen zu verhindern, hervorgerufen worden.“ (28) Ein Teil der “Reformer“ versuchte der Misere durch Flucht in die Ideologie der “unpolitischen“, “heilen“ Kinderwelt, der “Parteinahme“ für das abstrakte Kind zu entgehen. Ein besonderer Vertreter innerhalb der Diskussion war Heinrich Wolgast, der aus der reformpädagogischen Kunsterziehungsbewegung kam. Besonders mit der Schrift “Das Elend unserer Jugendliteratur“ forderte er wertvolles Schriftgut für die Jugend, das ihrer seelischen Reife entsprach, vom Kinderlied zur Volksdichtung und zur deutschen Literatur führt. Heinrich Wolgast forderte “Die Jugendschrift in dichterischer Form muß ein Kunstwerk sein“ . . .“ Und die Dichtkunst “kann und darf nicht das Beförderungsmittel für Wissen und Moral sein.“ (29) Wolgast meinte in diesem Zusammenhang, die Befreiung der Literatur von nationalistischen, militaristischen und klerikalen Zügen. “Was bereits genügte, den Ausschüssen von Seiten der konservativen Presse den Vorwurf einzutragen, die Sozialdemokratie bediene sich ihrer als Mittel zur Zersetzung des Staates.“ (30)
Lesebücher wurden neu gestaltet und eine künstlerisch wertvolle, ästhetischen und pädagogischen Kriterien folgende Kinder- und Jugendliteratur entwickelt. Die Reformpädagogik war aber letztlich nicht in der Lage, der organisierten Abrichtung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen auf den ersten Weltkrieg einen ernst zu nehmenden Widerstand entgegenzusetzen.
4.Beispiel zur Kinderbuchproduktion des 19. Jahrhunderts 4.1. Bilderbogen
Die Einführung neuer Druckverfahren brachte im 19. Jahrhundert einen neuen Aufschwung für die Bilderbogenherstellung. Neue Produktionszentren entstanden, gleichzeitig erschienen neue Blätter in Massenauflagen und boten eine Ausweitung des Angebots für Kinder. Städte wie Neuruppin, München, Nürnberg, Stuttgart und Wien wurden als Druckorte wichtig. “Religiöse Darstellungen sind auch im 19. Jahrhundert, wie Statistiken und Kataloge zeigen, die populärsten. Alte Motive halten sich mit großer Zähigkeit. Einzelanalysen erhellen jedoch auch einen orts- und zeitgebundenen differenzierten Konsumentengeschmack: Die griechischen Helden Kanaris, Miaulis, Kolokotroin und der Kotzebue-Mörder Sand hingen in bunten Effigies (Bildnisse) 1822 in allen Berliner Buchbinderläden. 1837 zeigten die Elsässer große Neigung zu Pin-ups (Anheftmädchen) und Napoleons. Um 1850 – um nur ein anderes Beispiel zu nennen – war in Baden Heckers Porträt weit verbreitet. Der Konsum unterliegt im einzelnen Modeströmungen und aktuellen Problemstellungen. Die Verlagskataloge erlauben Rückschlüsse auf den Konsumentgeschmack aller Bevölkerungsschichten, Geschmacksträger waren keineswegs nur die niederen Volksklassen.“ (31)
Die bekanntesten Bilderbogen sind die Neuruppiner (1825) und die Münchner (1849). Während die Neuruppiner Bilderbogen, gegründet in einer kleinen Druckerei von Gustav Kühn, von anonymen Zeichnern stammten und sich an weite Kreise des Volkes wandten, arbeiteten bei dem Verlag Braun & Schneider in München namhafte Künstler mit. Zu den Münchner Bilderbogen, die einem hohen künstlerischem Niveau entsprachen, schreibt Horst Kunze in dem Buch “Schatzbehalter“: “Sie wandten sich überwiegend an die Jugend und wurden von ihr mit Spannung erwartet. Ein- bis zweimal im Monat kamen neue Bilderbogen heraus. Feste Preise waren garantiert: zehn Pfennig der schwarzweisse, zwanzig Pfennig der kolorierte Bogen. Von 1849 bis 1898 erschienen insgesamt 1056 Nummern. Wilhelm Busch ist an dem Unternehmen mit 50, Lothar Meggendorfer mit 66 Bogen beteiligt; zu den Mitarbeitern an den “Münchner Bilderbogen“ zählten ferner Adolf Oberländer, Franz von Pocci, Moritz von Schwind und Otto Speckter.“ Die Inhalte waren: “Darstellungen fremder Völker, wilder Tiere, Ansichten von Städten und Ländern, kulturhistorischen Bildern, wobei Kostüme vergangener Zeiten bevorzugt waren, aber ganz besonders für Kinder bestimmt waren Szenen aus dem Kinderleben, die umso beliebter waren, je lustiger es zuging. Märchen, Sagen, Fabeln, Legenden, Sprichwörter, bildlich dargestellt und mit kurzen, meist gereimten Texten versehen, fehlten nicht, so daß die Lust am Abenteuer, alle Spielarten der Phantasie, Freude am Spaß und Schabernack reichlich Nahrung fanden.“ (32)
Das künstlerische Niveau der Münchner Bilderbogen wurde von den Neuruppinern niemals erreicht und auch nicht angestrebt. Schon im Jahre 1832 wurden über 1 Million Neuruppiner Bilderbogen umgesetzt, in den Kriegsjahren 1870/71 steigerte sich der Umsatz auf etwa 3 Millionen Blätter. Die ungeheure Verbreitung dieser Dreipfennigbogen “beruhte auf der geschickten Ausnützung des Publikumsgeschmackes, und zwar aller Schichten des Publikums gemeinsam, sie beruhte darauf,’in jedem Augenblick zu wissen, was obenauf schwimmt, was das eigentliche Tagesinteresse bildet‘. Diese leuchtend bunten Bogen wurden von dem Lumpenhändler in Stapeln mitgeführt, um in Stadt und Land gegen Knochen und anderen Trödel eingetauscht zu werden.“ (33)
4.2. Grimms Märchen
Die Gebrüder Grimm begannen Ende des 18. Jahrhunderts Volksmächen zu sammeln und schriftlich zu fixieren. 1812 wurde der erste Band publiziert. Für die ersten Ausgaben mag man den Brüdern Grimm noch glauben, wenn sie 1819 im Vorwort schrieben: “Wir haben nämlich aus eigenen Mitteln nicht hin-zugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen hatten.“(34) Aber schon damals war diese Behauptung nachweislich nicht mehr zutreffend. Hierzu möchte ich zwei Beispiele anführen:
Marienkind
Ursprüngliche Fassung: (1812) “Das Kind nahm die Schlüssel und öffnete jeden Tag eine andere Tür und freute sich über den Anblick aller der himmlischen Wohnungen.“ Fassung von 1819: “Als die Jungfrau Maria weg war, fing sie an und besah die Wohnungen des Himmelreiches: jeden Tag schloß es eine auf, bis die zwölfe herum waren. In jeder aber saß ein Apostel und war von großem Glanz umgeben, und es freute sich über all die Pracht und Herrlichkeit und die Englein, die es immer begleiteten, freuten sich mit ihm.“ (35)
Der Gevatter Tod
In der Erstfassung verschmäht der arme Mann, der für sein dreizehntes Kind einen Gevatter sucht, den sich ihm anbietenden lieben Gott mit den Worten: “Ich will dich nicht zum Gevatter haben, denn du gibst den Reichen und läßt die Armen hungern.“ Wilhelm Grimm fügte in der zweiten Ausgabe daran den Satz: “Das sprach der Mann, weil er nicht wußte, wie weislich Gott Reichtum und Armut verteilt.“ (36)
So änderte sich diese ehemalige Volksliteratur unter der Feder von W. Grimm doch immer mehr zum Märchen des Bürgertums, während die ursprünglichen Geschichten als Ausdruck der ländlichen Unterschichten (abhängige Bauern, Knechte, Tagelöhner, Bettler) verstanden werden konnten. Mit dem Zugriff des Bürgertums auf diese Märchen wurden die Figuren verniedlicht, das Kulissenstereotyp (der dunkle Wald, die alte Linde) wurde immer wichtiger und die Handlungsmotivationen der dargestellten Personen änderten sich. Die Märchen wurden mit “runden“ Schlüssen versehen, mit Schlüssen, die der etablierten Moral entsprachen. Während die Märchen mündlich weitergegeben wurden, waren sie verknüpft mit der isolierten, hoffnungslosen Lage der ausgebeuteten ländlichen Unter-schichten, die keinen Ausweg hatten, ihre Lage jemals zu verbessern. “Nur als Märchen war ein besseres leben utopisch träumbar. Das deutsche Volksmärchen reflektierte diese Situation in seiner Grundstruktur: Zu Beginn gibt es einen Helden in hoffnungsloser Lage, er ist der Jüngste, der Dummkopf, der Knecht, die Stieftochter u.s.w..Die eigentliche Handlung verändert dann aber radikal seine Lage, um ihn unerwartet ins Märchenglück zu führen.“ (37) Dieser Held verhielt sich im entscheidenden Moment richtiger, d.h. gerechter und mitleidsvoller als die Herren, die Reichen, die Großen. Tiere und Zauberer oder seine Bauernschläue halfen die Wendung zum Guten herbeizuführen. Für die ursprünglichen Märchenhörer besaßen die Märchen einen konkreten Sinn, es waren Vorgänge ihrer gesellschaftlichen Umwelt und mit der sinnlichen Wahrnehmung eng verbunden. Für das bürgerliche Kind, auf das die Märchen – wie schon erläutert – zugeschnitten wurden, “wird dieser Zusammenhang weitenteils zerschnitten, so daß sie fast ausschließlich als Trauminhalte begriffen werden. Die Fremdheit des historisch fernen Bildmaterials, mit dem die Volksmärchen arbeiten, erlaubt kaum noch, diese Symbole mit der eigenen Erfahrung in Beziehung zu setzen.“ (38)
4.3. Der Struwwelpeter
1845 wurde das Buch, “Der Struwwelpeter“ – geschrieben und illustriert von dem Arzt Dr. Heinrich Hoffmann – erstmals gedruckt. Kein Bilderbuch hat derartig viele Auflagen und Abwandlungen erreicht. Schon 1876, 31 Jahre nach dem Erscheinen der Erstauflage, wurde die 100. Auflage verlegt, im Jahre 1896 kam die 200. Auflage heraus, 1908 zählt man die 400. und 1939 bereits die 593. Auflage. Der Verfasser, Dr. Heinrich Hoffmann, berichtet um 1890: “Ja, ich kann mit Befriedigung sagen, der Schlingel hat sich die ganze Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergießen, und die bösen Buben sind weiter auf der Erde herumgekommen, als ich . .“ (39) Dieses Kinderbuch vermittelt nicht, wie die Bücher der Aufklärung, Sach- und Weltkunde, sondern die gängigen Sozialisationspraktiken und Ziele der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Für den kritischen Betrachter ist dieses Buch gleich-zeitig die komplexe Darstellung bürgerlicher Erziehungsnormen wie: Ruhe und Ordnung, Sauberkeit, Pflichterfüllung, Gehorsam, Häuslichkeit, Schutz des bürgerlichen Eigentums und Triebverzicht. Diese Normen werden in dem Buch nicht von Eltern gefordert (im Gegensatz zu der alltäglichen Erziehungspraxis), sondern es werden Sachzwänge dargestellt, die das Kind belehren. Erst von der 3. Auflage an trägt das Buch den uns geläufigen Titel: “Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder.“ Drollig und lustig aber geht es beim Struwwelpeter nicht zu, sondern grausam, die Geschichten enden mit Krank-heit, Verstümmelung oder Tod. Wer nur ins Wasser fällt, wie Hans-Guck-in-die-Luft, kommt noch glimpflich davon. Oberstes Erziehungsziel dieses Gebrauchsbüchleins ist die Verinnerlichung von Zwängen, die nicht mehr durch “Autoritäten“ vermittelt werden, sondern anhand sogenannter Sachzwänge, die sich bei näherer Betrachtung allerdings als autoritäre Verhältnisse darstellen. Durch Übertreibung wird die Darstellung falsch und das Erziehungsziel durchsichtig. w.z.B. bei der Geschichte vom Suppenkaspar: Kein überfüttertes Kind stirbt nach vier Fastentagen (dies wußte Dr. Hoffmann als Arzt sicher auch). Hier ist auch nicht das Verhungern gemeint, sondern das Verbot des Lustgewinns des Kindes beim Essen. Auch bei Paulinchen geht es um die Verinnerlichung von Zwängen (Erhalten des Besitzes), die durch den “Sachzwang“ Feuertod vermittelt werden soll (die beiden Katzen können sich retten, Paulinchen nicht). Konrad übertritt das Gebot des Triebverzichts (Verzicht auf orale Befriedigung – Daumenlutschen) und wird durch eine bisher unbekannte Person schwer verletzt (Schneider mit der Schere). Kastrationsängste bei Triebbefriedigung werden dem Kind schon früh vermittelt. In der Geschichte vom Zappel-Philipp muß die Familie hungern als Folge kindlichen Eigensinns, unvernünftigen Verhaltens in Form von ungehemmten Bewegungsdrang. Der böse Friedrich, von dem man annehmen kann, daß er nicht von “Natur aus böse“, sondern so “erzogen“ worden ist, kommt mit einem Biß davon. Drei Geschichten vermitteln soziale Ächtung des Außenseiters durch die Gesellschaft: Struwwelpeter, Mohr und Hans-Guck-in-die-Luft werden aufgrund von Aussehen oder Handeln diskriminiert. Rassische Minderheiten werden zwar geduldet (Geschichte vom Mohr, aber in dem Begriff der Duldung des Anders-artigen schwingt schon mit,“daß es um ein Zugeständnis geht, um ein Ertragen des anderen, der sozusagen nicht über einen Anspruch verfügt, den ihm etwa Massenhaftigkeit oder materielle Macht verleihen.“ (40) Wenn das Kind nicht gegen soziale Normen, den herrschenden Lebensstil und sittliche Orientierungen verstößt, kündigt der Vorspruch vom “Struwwelpeter“ als Belohnung für Wohlverhalten das Buch selbst an.
Wenn die Kinder artig sind, kommt zu ihnen das Christkind; wenn sie ihre Suppe essen und das Brot auch nicht vergessen, wenn sie, ohne Lärm zu machen, still sind bei den Siebensachen, beim Spazierengehn auf den Gassen von Mama sich führen lassen, bringt es ihnen Gut’s genug und ein schönes Bilderbuch.
4.4. Max und Moritz
“Max und Moritz, eine Bubengeschichte in sieben Streichen“, von Wilhelm Busch, gehört ebenfalls zu den Büchern, die heute noch weit verbreitet sind. Allerdings hat dieses Buch, dessen Geschichten auch als Bilderbogen erschienen (1865), nicht annähernd eine so große Verbreitung gefunden, wie der “Struwwelpeter“. 1870 erfuhr dieses Buch die vierte Auflage. Die Geschichten von Max und Moritz spielen auf dem Lande und handeln von zwei Brüdern, die in ihrer Freizeit der Dorfbevölkerung allerhand Streiche spielen. Das Kleinbürgertum (Müller, Schneider, Bäcker, Schulmeister) und die gesamte Dorfbevölkerung ist am Ende froh, daß beide auf relativ heimtückische Weise umgebracht werden. Und das, obwohl ihnen normalerweise keine Kapitalverbrechen vorzuwerfen sind, sondern Mundraub, Diebstahl und grober Unfug. Die Familienverhältnisse der Brüder sind reichlich unklar, Eltern scheinen die beiden nicht mehr zu haben. Niemand, auch nicht der auftauchende Verwandte, Onkel Fritze, weint am Schluß über ihren Tod. Das Buch “Max und Moritz“ ist auch ein Beispiel zum Thema des männlichen Rollenverhaltens, “Max und Moritz“ ist eindeutig als Bubengeschichte gekennzeichnet – Mädchen durften sich solche Streiche damals gar nicht einmal ausdenken. Im Gegensatz zum “Struwwelpeter“ findet man bei “Max und Moritz“ nicht die Verinnerlichungstendenzen von bestimmten Zwängen. Zwar folgt auch hier die Strafe für sieben Streiche, jedoch nicht unpersönlich als Sachzwang dargestellt, sondern ausgeführt von zwei Personen des Dorfes, die durch “Max und Moritz“ geschädigt worden sind. Beide “Buben“ sind die Störenfriede der Dorfbewohner, die ihre Ordnung durcheinander bringen. Das moralische Postulat oder bürgerliche Erziehungsvorstellungen wie beim “Struwwelpeter“ sind hier nicht Gegenstand der einzelnen Geschichten. So ist es auch zu verstehen, daß dieses Buch sich nicht nahtlos in der Reihe der anderen Bilderbücher einfügen ließ, sondern Widersprüche hervorrief: “Die für den ersten Anblick ganz harmlos und belustigend erscheinenden Caricaturen auf manchen “Münchner Bilderbogen“, in Max und Moritz und in anderen Büchern von W. Busch und dgl. sind eins von den äußerst gefährlichen Giften, welche die heutige Jugend, wie man überall klagt, so naseweis, unbot-mäßig und frivol machen.“ (41) Das schrieb 1883 der Pädagoge Friedrich Seidel in Friedrich Fröbels “Mutter und Koselieder“ über Wilhelm Busch. Vermerkt wird in den Buch “Schatzbehalter“ von Horst Kunze ebenfalls, daß die Bemühungen der Pädagogen, dieses Buch “umzubiegen“, wenig Erfolg gehabt haben, “und die Jugend vor dem ersten Weltkrieg nicht daran gehindert hat, ihn zu verschlingen; auch in Arbeiterbildungsbibliotheken zählte er zu den meistgelesenen Autoren.“ (42)
5.Versuch einer Übersicht über dieBilderbuchproduktion von 1870 – 1910
Ein Verzeichnis der in den Jahren 1870 – 1910 erschienenen Bilderbücher in “Das Bilderbuch“, einer Zusammenstellung des Institutes für Jugend-buchforschung der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt am Main, nennt 296 Bilderbuchtitel für diese Zeit.
In einer entsprechenden Bibliographie, herausgege-ben von Heinz Wegehaupt, sind für Kinder der Arbeiterklasse für die Zeit von 1870 – 1918 fünfundachtzig Titel aufgeführt. Diese Titel beziehen sich aber auf Kinder- und Jugendbücher, das bedeutet, Bilderbücher sind darin eingeschlossen und von daher wird ihr Anteil verschwindend gering sein. Die folgende Zusammenstellung von Bilderbuchtiteln nach den Unterlagen des Instituts für Jugendbuchforschung, Frankfurt, in “Das Bilderbuch“, läßt erkennen, daß die Autoren hauptsächlich die sogenannte “heile Kinderwelt“ in ihren Büchern beschrieben.
Titel der Bilderbücher 1870
Aus dem Kinderleben Bilderbibel für die Jugend Deutsche Bilderbogen für Jung und Alt (Nr.151-250) Frau Kätzchen. Ein Märchen dem Volksmunde nacherzählt Fünfzig Fabeln für Kinder von Wilhelm Hey Gute Sprüche, weise Lehren, muß man üben, nicht bloß hören Lustige Bilder und fröhliche Lieder für kleine Leute Max und Moritz (4. Auflage) Naturgeschichte der Vögel Der schwarze Peter. Ein Bilderbuch für artige Kinder (2. Auflage)
Titel der Bilderbücher 1880 Deutscher Kinderfrühling in Wort, Klang und Bild Freud und Leid der Kinderzeit Gute Freundschaft. Eine Geschichte für Damen, aber für kleine (5. Auflage) Hans Haenschen das Etwas werden wollte Kinderlust und Kinderfreuden Neues Verwandlungs-Bilderbuch Orbi pictus (3. Auflage) Der Pegasus. Klassisches Bilderbuch für die Jugend Unterm Märchenbaum (3. Auflage) Veilchen im Walde Titel der Bilderbücher 1890 Aus aller Welt Das Deutsche ABC‘ Buch Durch Feld und Wald durchs Haus und Hof Herzblättchens Naturgeschichte (3. Auflage) Das Kind und seine kleine Welt (2. Auflage) Kleiner Märchengarten Lustiges Automaten-Theater Das Militärbuch (2. verbesserte Auflage) Scherz und Ernst in Wort und Bild für Kinderstube und Kleinkinderschule (2. Auflage) Till Eulenspiegel lustige Fahrten und Schwänke (3. Auflage) Vom Hänschen, der Alles besser weiß Zwölf Kindergeschichten
Titel der Bilderbücher 1900 Das deutsche Heer Federspiele (2. Auflage) Fitzebutze Der gestiefelte Kater Im Frühling. Ein Bilderbuch für große und kleine Kinder (3. Auflage) Im Winter. Ein Bilderbuch für große und kleine Kinder (3. Auflage) Struwwelpeterbuch Unser Liederbuch Wen soll ich malen?
Titel der Bilderbücher 1910 Blumen aus Garten und Flur Brüderchen und Schwesterchen Bruder Straubinger Dideldumdei! Verse für die Kleinen Elschens Geburtstag Kinderheimat in Liedern von Friedrich Güll Kunterbunt. Mit lustigen Versen und Erzählungen Märchenstrauß für Kind und Haus Niki. Eine drollige Hundegeschichte Osterbuch. Mit Versen von Christian Morgenstern Ringel-Rangel-Reih. Ein lustiges Allerlei Von Drachen, Puppen und Soldaten Der Wolf und die sieben jungen Geißlein
Bilderbücher mit mehr als 2 Auflagen in der Zeitvon 1870 – 1910 Über Auflagenhöhen und Verbreitung von Bilderbüchern gibt es keine gesicherten Statistiken, auch das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, das zu dieser Zeit bereits existierte, verfügt nach meinen Recherchen über solche Daten nicht. Um herauszufinden, welche Bücher eine stärkere Verbreitung fanden, habe ich mir die Mühe gemacht, aus den Angaben des Deutschen Instituts für Jugendbuchforschung, Frankfurt am Main, in “Das Bilderbuch“ von K. Doderer diejenigen Bücher herauszuschreiben, die mit mehr als zwei Auflagen dort bibliographiert sind. Bis zu einer bestimmten Zeit erfolgte die Sammlung von Kinderbüchern unsystematisch, und es erscheint daher durchaus nicht gesichert, daß nur diese Bücher und keine anderen mit mehr als 2 Auflagen erschienen sind, dies ist bei der Aufstellung zu berücksichtigen. 146 Bastian der Faulpelz, Heinrich Hoffmann, 1866, 3. Auflage 156 Bilder zur Jobsiade, Wilhelm Busch, 1874, 4. Auflage 256 Im Winter, Meggendorfer, München 1883, 8. Auflage 262 Eine Kätzchengeschichte, A. Hoppe, 1845, 7. Auflage 273 Kindergarten, Gedichte, Löwenstein, Hosemann, 1873, 3. Auflage 283 Die Kinderstube, Flinzer, Lausch, 1886, 4. Auflage 286 Der kleine darmstädtische Catechismus des Dr. Martin Luther, Elwert 1851, 6. Auflage 288 Kleines Volk, Pletsch, Oldenburg, Leipzig 1879, 5. Auflage 290 Der kluge Quötzelhahn, J. J. Kummer, Erfurt 1884, 6. Auflage 318 Mancherlei aus des Lebens Mai, Pletsch, Schanz, Leipzig, 1864, 3. Auflage 330 Naturgeschichte der Amphibien, Esslingen, 1871, 8. Auflage 333 Naturgeschichte der Vögel, Esslingen, 1870, 6. Auflage 334 Naturgeschichte für die Jugend, Leipzig, 1864, 11. Auflage 351 Orbis pictus, Leipzig,1883, 5. Auflage 362 Robert Reinickes Märchen, Lieder und Geschichtenbuch, Robert Reinick, Bielefeld, 1889, 9. Auflage 363 Robinsons Thierbude, Zähler und Flinzer, 1867, 3. Auflage 384 Struwwelpeter, Dr. Heinrich Hoffmann, 1876, 100. Auflage, 1896, 198. Auflage 395 Till Eulenspiegel’s lustige Fahrten und Schwänke, Muldener, Ramberg, Leipzig, 1890, 3. Auflage 400 Unterm Märchen, Klimsch, Oswalt, Frankfurt, 1880, 3. Auflage 504 Die fleißige Puppenschneiderin, Lutz, Heyde, Stuttgart, 1902, 5. Auflage 567 Im Frühling, Kepter, Holzhausen, Lahr, 1900, 3. Auflage 571 Im Winter, Kepter, Holzhausen, Lahr, 1900, 3. Auflage 723 Die schönsten Fabeln für Kinder, W. Hey, Stuttgart, 1909, 4. Auflage
6. Die Arbeiterbewegung und ihreAuseinandersetzung mit der Kinder- undJugendliteratur Erst mit der verstärkten Organisierung der Arbeiterklasse in Parteien und Gewerkschaften entstand in der Sozialdemokratie langsam das Bewußtsein vom Kinderbuch als Medium politischer Erfahrung und sozialen Lernens. Die Diskussion um das Kinderbuch und Aufnahme der Produktion von Kinderliteratur entwickelte sich nur zögernd und hatte zu leiden: – unter der sozialdemokratische Auffassung, die meinte, Kultur- und Erziehungspolitik sei eh nur eine Nebensache – innerhalb der verschiedenen politischen Richtungen und Fraktionierungen – unter der Fixierung an den bürgerlichen Begriff von Erziehung und Literatur Aus dem Bewußtsein heraus, daß für Arbeiterkinder keine geeignete Literatur existierte, gaben Clara Zetkin und Käthe Duncker eine Kinderbeilage zur sozialdemokratischen Wochenzeitung “Die Gleichheit“ heraus (ab 1905). Vereinzelte Versuche der Sozialdemokraten, Kinderliteratur herauszugeben, konnten jedoch nicht das Angebot der bürgerlichen Kinderliteratur aufwiegen. Clara Zetkin mußte auf dem Parteitag der Sozialdemokraten 1906 konstatieren, daß die Versuche, eine sozialistische Kinderliteratur zu schaffen, “beim Proletariat durchaus nicht die Berücksichtigung und Unterstützung gefunden haben, die sie verdienen. Die Verlagsinstitute der Partei haben von neuerlichen Versuchen in dieser Richtung abgesehen, nachdem sie die Erfahrung gemacht, daß unsere Literatur die Konkurrenz nicht bestand mit der ganz minderwertigen, billigen bürgerlichen Kinderliteratur, die auf den Markt geworfen wird.“ (43) Auch innerhalb der Führung der Sozialdemokratie war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, welche Rolle sozialistische Kinderliteratur bei der Änderung der bestehenden Verhältnisse haben könne. Das “Bilderbuch für große und kleine Kinder“ erschien 1893 als eines der ersten Bücher der Sozialdemokraten im Partei-Verlag Dietz, Stuttgart. “Es enthielt Gedichte, Märchen und Erzählungen, die zum einen dem “bürgerlichen Erbe“ entstammten, zum anderen jedoch Soziales und Historisches vom Standpunkt des Sozialismus aus vermitteln wollten . . . ein starker sozialsentimaler Zug herrschte vor, das politische Ideal ist die Versöhnung der Klassen und der Sozialismus erscheint als die selige Endzeit, die dereinst kommen wird.“ (44) Im Gegensatz zur bürgerlichen Kinderliteratur war jedoch in diesem Buch die Rede von Sozialem und Politischem, “Arm und Reich, von der Gemeinheit der Mächtigen, von der Brüderlichkeit der Unterdrückten, von einem besseren Leben.“ (45) Insgesamt typisch für die Haltung des Sozialdemokraten ist die Erwiderung von Karl Kautskys auf Besprechung dieses Kinderbuches in der “Neuen Zeit“. Kautsky erkannte zwar das Bedürfnis der Arbeiter nach einer geeigneten Lektüre für ihre Kinder an, aber einer spezifisch sozialistischen Jugendliteratur stand er insgesamt ablehnend gegen-über. Dieter Richter faßt diese Haltung der Parteiführung in folgenden Punkten zusammen:
“1. Jugendliteratur habe frei zu sein von politischenInhalten, auch sozialistischen. 2. Jugendliteratur sei kein Mittel politischer Agitation. 3. Das kämpfende Proletariat sei notwendigerweise kulturell unproduktiv. 4. Das Proletariat habe auch auf dem Gebiet der Jugendliteratur das – gereinigte – kulturelle Erbe der Bourgeoisie anzutreten.“ (46) Die Auffassung der sozialdemokratischen Führung, pädagogische Fragen mußten im Grunde nach der (mittels Stimmzetteln erhofften) Machtübernahme des preußischen Staates durch die Arbeiterpartei in Angriff genommen werden, sollte sich spätestens bei Kriegsausbruch als gefährliche Fehleinschätzung herausstellen. Dennoch hat es nicht an Versuchen gefehlt, diese Haltung der Sozialdemokraten, die da mit dem Klassengegner das Feld der Kinder- und Jugendbuchproduktion überließ, zu verändern. Die regelmäßig niedergestimmten Anträge, insbesondere von Karl Liebknecht, zielten darauf hin, “die Partei zur Entfaltung einer breiten, anti-militaristischen Propaganda unter der Jugend zu veranlassen.“ (47) 1912 kam es beim Erscheinen des Jugendbuches “Das Menschenschlachthaus“ von Wilhelm Lamszus, Mitglied der SPD, zu einem politischen Skandal. Das Jugendbuch, das den Untertitel trägt, “Bilder vom kommen-den Krieg“, war das erste deutsche Antikriegsbuch. Auf 111 Seiten schildert Lamszus Fronterlebnisse des 1. Weltkrieges: Die Materialschlacht und das Massensterben.“Das Erschütternde an diesem Kriegsbericht ist, das er von einem Krieg berichtet, der noch gar nicht stattgefunden hat – der aber zwei Jahre später stattfinden sollte.“ (48) Wilhelm Lamszus wurde wegen dieses Buches von der Hamburger Oberschulbehörde als Volksschullehrer beurlaubt. Die Verteidiger des Buches argumentierten gegen die entfesselte öffentliche Anti-Lamszus-Kampagne merkwürdig defensiv:
“1. Das Buch ist keine Tendenzschrift, sondern ein literarisches Kunstwerk und als solches zu dulden. 2. Lamszus habe dieses Buch nicht in seiner Eigenschaft als Lehrer, sondern als Schriftsteller geschrieben. 3. Selbstverständlich werde auch ein Mann wie Lamszus im Zweifelsfall seiner “vaterländischen Pflicht“ genügen und zu den Waffen greifen.“ (49) Erst in den 20iger Jahren kam es zu einer bewußten Gestaltung sozialistischer Kinderliteratur, unter anderem durch Alex Wedding (Pseudonym von Grete Weiskopf / Margarete Bernheim) mit dem Buch “Ede und Unku“ ein Jugendroman; Hermynia zur Mühlen, die neue Kindermärchen schrieb (Was Peterchens Freunde erzählen, 1921; Es war einmal und es wird sein, 1930). Im Jahre 1924 wurde Hermynia zur Mühlen wegen Hochverrats angeklagt, weil sie mit ihrer Erzählung “Schupoman Karl Müller“, die Moral der Polizei untergraben haben soll. (1926 wurde sie freigesprochen). Auch die Kinderfreunde Bewegung, in der Andreas Gayk mitarbeitete, gab in den 20iger Jahren Bücher heraus. Anhand des Buches “Lesebuch der Republik“ von Oskar Hübner wurde erst in den Jahren 1922/23 eine intensive Auseinandersetzung mit den antidemokratischen und antiproletarischen Inhalten der Schulbücher von der Arbeiterbewegung geführt. Zusammenfassend ist zu sagen, daß sich innerhalb der Arbeiterbewegung allmählich die Erkenntnis durchsetzte, daß Erziehung politisch sei, und das die Medienproduktion bestimmten politischen Interessen unterliegt.
7. Zusammenfassende Betrachtung
Betrachtet man nach dem vorliegenden Material die Preise der Bücher, Freizeitprobleme der Arbeiterkinder und Lebensverhältnisse und die davon abhängige Beeinträchtigung der Verbreitung des Kinderbuches bei Arbeiterkindern, so kommt man zu folgender Überlegung: Die Verbreitung bestimmter Bücher bei Kindern hing mit verschiedenen Faktoren untrennbar zusammen. Hauptfaktor war der Preis des Buches und die zur Verfügung stehende Geldmenge einer Familie für solch eine “Kulturausgabe“. So kostete beispielsweise der Struwwelpeter 59 Kreuzer (Erstauflage), damit machte der Preis dieses Buches 25% des Wochenverdienstes einer Arbeiterfamlie aus. Da einer Familie vom Wochenlohn, abzüglich Miete, Abgaben, Lebensmittel, Licht und Feuerung noch 16 Kreuzer wöchentlich für sonstige Ausgaben blieben, durfte eine Familie sich für vier Wochen keine anderen Ausgaben leisten, um z.B. den Struwwelpeter kaufen zu können. (50). Zweiter sehr wichtiger Faktor ist gerade angesichts hoher Kinderarbeitszahlen (Siehe 2.2.) die zur Verfügung stehende Freizeit und Aufnahmefähigkeit des Kindes. Beide Faktoren müssen für das Arbeiterkind so beantwortet werden, daß weder genügend Geld, noch genügend Zeit zur Verfügung stand, die Kinderbücher des 19. Jahrhunderts zu rezipieren. Eine weitere Beeinträchtigung in der Kinderbuchrezeption erfuhr das Arbeiterkind durch die sich zum Ende des 19. Jahrhunderts verschlechternden Wohnverhältnisse der Arbeiterfamilien (wie in 2.3. dargestellt). Es waren noch 2 weitere Faktoren, die eine Verbreitung des Kinderbuches verhinderten: einerseits die Erkenntnis der besitzenden Klassen, daß eine breite Volksbildung ihre Macht gefährden könne. Dies ist aus folgendem ersichtlich: Die Arbeiterklasse dieser Zeit glaubte weitgehend, daß sie mit Büchern und Bildung ihre aussichtslose, schlechte Lage nicht ändern könne. In diesem Zusammenhang ist die Aussage von H. Mehner von 1887 über eine Leipziger Arbeiterfamilie interessant, in der er beschreibt, daß ausschließlich billige Monatsschriften und Kolportageromane die Lektüre einer Familie bildeten, wo der Mann als Knochenstampfer in einer Dünge-mittelfabrik arbeitete und die Frau in der gleichen Fabrik als Knochensortiererin. Befragt, warum sie diese Lektüre bevorzugen, antworteten sie: “Fortkommen thut man nicht und eine Unterhaltung muß man haben.“ (51). Erst mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung und der Gründung von Arbeiterbildungsvereinigungen setzte sich die Losung von Wilhelm Liebknecht durch: Wissen ist Macht. (Nicht zu verwechseln mit Wissen ist Nacht). Die besitzenden Klassen dieser Zeit sind aber an einer allgemeinen Bildung der Arbeiterklasse nur insoweit interessiert (wie in 2.4. dargestellt), als es um die Qualifikation der Arbeitskraft geht. So ist F. Schaubach 186 der Meinung, “es werde zu viel gelesen; doch tröstet der Gedanke, daß wenigstens das Proletariat, ermüdet von Arbeit und Schnaps, keine Lesebedürfnisse hat: auf der untersten Stufe der Leser steht die Classe der Besitzlosen, allerdings nicht das eigentliche Proletariat der Städte, denn dieses findet nach der anstrengenden Handarbeit des Tages seine Erholung im Schlaf, seinen Genuß in Kartoffeln und Branntwein, und ist darum so ziemlich der einzige Theil der Bevölkerung, welcher nicht nach Büchern verlangt . . .“ (52) Da die Eltern der Arbeiterkinder jener Zeit, wenn sie lasen, sich wohl fast ausschließlich mit Kolportageliteratur befaßten, nehme ich an, daß die Arbeiterkinder, wenn sie nicht diese Literatur ihrer Eltern mit rezipierten, keine Möglichkeit und Unterstützung fanden, andere Literatur zu lesen. Habe ich bis jetzt Faktoren genannt, die einer Verbreitung der Kinderliteratur hinderlich waren, so möchte ich jetzt Gründe nennen, die sie förderten: Mit der langsamen Entwicklung des Bildungssystems, die aufgrund gestiegener Qualifikationsanforderung an das Industrieproletariat erfolgte, der ent-stehenden Selbstorganisation der Arbeiterschaft in Parteien und Gewerkschaften und der damit einhergehenden Gründung von Arbeiterbibliotheken und Publikationen, verbesserte sich das Angebot und die Nachfrage geeigneter Literatur für Arbeiterkinder. Der zweite Faktor für eventuell vermehrte Kinderbuchrezeption ist der Rückgang der Kinderarbeit, der mehr Freizeit für Arbeiterkinder bedeutete. Dieser Rückgang folgte aus ökonomischer Ver-änderung und politischem Druck von sozialdemokratischen Frauenverbände am Ende des 19. Jahrhunderts. Eine Schwierigkeit meiner Arbeit war es, das sich die traditionelle Kinderbuchforschung aufs “gute“ bürgerliche Kinderbuch fixiert und kaum in der Lage ist, das Kinderbuchangebot schichtspezifisch zu untersuchen. Weder die Publikationen des “fleißigen“ Institutes für Jugendbuchforschung an der Johann Wolfgang Goethe Universität, Frankfurt, noch Horst Kunze, Bettina Hürlimann oder Irene Dyhrenfurth-Graebsch unternehmen den Versuch, eine Beziehung zwischen Kinderbuch und gesellschaftlicher Realität zu finden. Wie weit sich deren “kunstbetrachtende“ Geschichtsschreibung des Kinderbuches von der gesellschaftlichen Realität entfernt, sei an der Erstauflage des Struwwlpeters und seines Preises (25% des Wochenlohnes eines Arbeiters) noch einmal bei Irene Dyhrenfurth-Graebsch gezeigt: Ihre Aussage zum Preis: “Hoffmann hatte richtig gerechnet, daß jedermann sagen würde: Das kostet ja nicht einmal einen Gulden.“ (Anm.: wie viel war das für einen Arbeiter!) Man kommt daher unschwer zu der Annahme, daß das Arbeiterkind den Struwwelpeter nur durch die Fertigung (Kolorieren durch Schablonen) kennengelernt hat, nicht jedoch durch eigenes Lesen. (53) Versucht man Inhalt und Darstellungsform des Kinderbuches am Ende des 19. Jahrhunderts mit der sozialen Realität des Arbeiterkindes in Beziehung zu setzen, so kann man davon ausgehen, daß besonders das Kind des Industriearbeiters kaum Identifikationsmöglichkeiten mit den Inhalten und Formen des Kinderbuches gehabt hat. Arbeiterkinder träumen nicht “von großen schneeweißen Schimmeln, die sie auf Flügeln über die schlafende, stille Stadt tragen,“ sondern“ von einem Paar neuer Stiefel.“ (54). Dabei zu berücksichtigen ist noch, daß das Arbeiterkind viel stärker mit den Bedingungen der industriellen Produktion und dem Lebensunterhalt der Arbeiterfamilien verbunden war, als beispielsweise im folgenden Jahrhundert. Die Ideologie der “heilen Kinderwelt“ im Kinderbuch, als Produkt der bürgerlichen Gesellschaft, konfrontiert mit den materiellen Lebensbedingungen der Arbeiterkinder, ist geradezu ein Hohn. “Nicht vom ‚Elend der Jugendliteratur‘ war da primär zu reden, sondern vom Elend der Jugend, insbesondere vom Elend der Arbeiterkinder (Brecht: Wollen sie behaupten, daß unsere Jugend etwa der Buffalo-Bill-Hefte wegen verelendet?) (55). So entsprachen Inhalt und Form der Kinderbücher nicht dem Lebensmilieu der Arbeiterkinder. Wie in 4.2. dargestellt, änderte sich das Märchen der unteren Volksschichten mit dem Zugriff durch das Bürgertum. Während Märchen früher in der mündlichen Weitergabe Ausdruck und Hoffnung unterer Volksschichten gewesen waren und sich ständig nach den Bedürfnissen der armen Leute veränderten, wurden durch die schriftliche Fixierung feststehende Begriffe, wie z. B. der dunkle Wald und der böse Wolf, zu Leerformeln, die nichts mehr mit der früheren Bedeutung zu tun hatten. Wie von der Literaturforschung z.B. festgestellt ist, lebten in dem “dunklen Wald“ die Räuber, die Aufständischen, diejenigen, die sich gegen die Obrigkeit des feudalen Staates zur Wehr setzten. Selbst in den Bearbeitungen der Gebrüder Grimm kann der Leser eine Reihe von Merkmalen einer feudalen Gesellschaft finden, aus der ihrer bearbeiteten Märchen schließlich stammten. In dem Märchen “Sechse kommen durch die ganze Welt“ gibt es einen Mann, der dem König brav und tapfer im Krieg dient und der, als der Krieg zu Ende ist, entlassen wird und einen lächerlichen Lohn (3 Heller Zehrgeld) für seine Dienste bekommt. Dieser Mann ist zu Recht wütend über die schlechte Behandlung durch den König und spricht:“Das laß ich mir nicht gefallen, finde ich die rechten Leute, so soll mir der König noch die Schätze des ganzen Landes herausgeben.“(56). Dieser Mann geht zielstrebig an den einzigen Ort, wo er die die richtigen Leute finden könnte: in den Wald. Das Kind, dem das Märchen vorgelesen wird, kann aber mit dem Begriff Wald z.B. nur eine Naturlandschaft verbinden, und nicht seine ursprüngliche Bedeutung erfassen. Obwohl diese Märchen mit ihren verschiedenen Symbolen vom Arbeiterkind kaum richtig verstanden werden konnten, fürchteten sich die herrschenden Klassen vor einer großen Entfaltung der Phantasie der Arbeiterkinder. “Die Märchenwelt, sowie alles ausser dem gewöhnlichen Lebenskreis liegende, muß den Kindern der Armen verschlossen bleiben; sie dürfen sich nicht nach wohltätigen Feen sehnen, nicht nach den Gaben eines Zauberstabs, nicht nach Gold- und Silberpalästen . . . Sie sind auf ihre eigenen Kräfte angewiesen, und was ihnen als vollkommene Glückseligkeit vorgespiegelt wird, muß nicht über die Glücksgüter hinausgehen, die sie sich erwerben können. Man nenne ihnen die warme Kleidung statt des Putzes, das Stück Fleisch statt Leckerbissen . . . Man hüte sich, in den Kinderherzen Wünsche zu erwecken, die das Leben nicht gewähren kann, in der Kinderbrust ein Sehnen einzupflanzen, welche sie mit den gegebenen Verhältnissen unzufrieden macht.“ (57). Diese Anweisung über die in “Kinderbewahranstalten“ zu verwendenden Lesestoffe aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts läßt den Standpunkt derer erkennen, die kein Interesse daran hatten, diesen Zustand überhaupt zu ändern. Sie sahen den Zusammenhang von Unterdrückung und Phantasie einerseits und Phantasie und Veränderungswunsch und erkannten, daß das “Sehnen in der Kinderbrust“ unzufrieden machen könnte mit den gegenwärtigen Verhältnissen. Mit der Rolle der Phantasie in der Literatur, besonders mit ihrer Rolle in der sogenannten “Trivialliteratur“ setzten sich bisher nur wenige Publikationen auseinander. Abgesehen von bürgerlichen Kinderbuchspezialisten, die schon seit der Reformpädagogik Phantasie als Wert an sich lobten und in Bereiche des Irrationalismus, des Harmlosen, Naiven, Ungefährlichen, “Kindlichen“ abdrängten, fand ich nun eine Schrift aus neuerer Zeit, die sich kritisch mit der Rolle der Phantasie auseinandersetzt. (Dieter Richter, Johannes Merkel, Märchen, Phantasie und soziales Lernen). Horst Kunze verweist auf ein Buch von Johann Wilhem Appell, der sich schon im 19. Jahrhundert mit der Phantasie der Trivialliteratur beschäftigte. In seinem Buch, “Die Ritter-Räuber-und Schauerromantik“, Leipzig 1859, begründet er, warum diese “Trivialliteratur“ sich einer ungeheuren Popularität erfreut: “Ihr utopischer, ihr antiklerikaler und nicht zuletzt ihr politisch-oppositioneller Zug,“ seien dafür notwendige Voraussetzungen gewesen. “Der Drang zur Auflehnung gegen das verrottete Leben an den deutschen Höfen und Höfchen, gegen Kabinettsjustiz, Beamtendruck, fürstliche Blutsaugerei . . . (ist) in dieser Literatur überall spürbar.“ (58). Auch in späterer Zeit waren diese vom Volk geliebten Bücher und Heftchen kaum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung, die Literatur-forschung ordnete sie kurzerhand als Schmutz und Schund ein. Die Rolle dieser Trivialliteratur im Leben der Arbeiterkinder wird bei den von mir gelesenen Autoren nie erörtert.Von den Künstlern oder Schrifstellern der Kinderbücher des 19. Jahrhunderts ist mit einiger Sicherheit zu behaupten, daß sie unbewußt Arbeiterkinder mit ihrer Literatur von vorneherein ausschlossen, und ebenso die Welt aus einer Sicht darstellten, die dem Standpunkt und der Machtstellung des Bürgertums entsprachen.
Anmerkungen:
(1) Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1880 bis in die Gegenwart. Seite 103
(2) Jürgen Kuczynski, s.o. Seite 107
(3) Jürgen Kuczynski, Studien zur Geschichte der Lage des arbeitenden Kindes in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart. Seite 103
(4) Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1800 bis in die Gegenwart. Seite 20
(5) Jürgen Kuczynski, Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1900 bis 1917/18 Seite 311.
(6) Lutz von Werder, Sozialistische Erziehung in Deutschland von 1848 – 1973, Seite 45
(7) G. Heinsohn, Vorschulerziehung in der bürgerlichen Gesellschaft, Seite 45
(8) nach Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1800 bis in die Gegenwart, Seite 103
(9) Klaus Neukrantz, Barrikaden am Wedding, Internationaler Arbeiter Verlag Berlin 1931, zitiert nach dem Nachdruck vom Dezember 1970, Oberbaum Verlag Berlin, Seite 8
(10) Jürgen Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1800 bis in die Gegenwart, Seite 221
(11) H. Bartel, Geschichte 8, Seite 106
(12) H. G. Helms, Zur politischen Ökonomie des Transportwesens, In Architektur und Städtebau im 20. Jahrhundert (Hrsg. J. Petsch), Seite 80
(13) K.H. Günther, Geschichte der Erziehung, Seite 236
(14) O. Uhlig, Die Volksschule, Seite 366
(16) H. Schulz zitiert nach Lutz von Werder, s.o., Seite 34
(17) Lutz von Werder, s.so. Seite 37
(18) Lutz von Werder, s.o. Seite 69
(19) K. H. Günther, Quellen zur Geschichte der Erziehung, Seite 269
(20) H. Kunze, Schatzbehalter, Seite 90
(21) H. Kunze, s.o., Seite 89
(22) H. Kunze, s.o., Seite 90
(23) H. Kunze, s.o., Seite 92
(24) R. Schenda, Volk ohne Buch, Seite 267
(25) H. Kunze, s.o., Seite 32
(26) R. Schenda, s.o., Seite 473
(27) (Das Zitat stammt aus einem Brief Heinrich Heines aus Paris an Karl August Varnhagen von Ense vom 3. Januar 1845. Heinrich Heine schreibt über Lassalle:
“ . . . Herr Lassalle ist nun einmal so ein ausgezeichneter Sohn der neuen Zeit, der nichts von jener Entsagung und Bescheidenheit wissen will, womit wir uns mehr oder minder in unserer Zeit hindurchgelungert und hindurchgefaselt. Dieses neue Geschlecht will genießen und sich geltend machen im Sichtbaren; wir, die Alten, beugten uns demüthig vor dem Unsichtbaren, fischten nach Schattenküssen und blauen Blumengerüchen, entsagten und flennten und waren doch vielleicht glücklicher, als jene harten Gladiatoren, die so stolz dem Kampftode entgegengehen. Das tausendjährige Reich der Romantik hat ein Ende und ich selbst war sein letzter und abgedankter Fabelkönig. Hätte ich nicht die Krone vom Haupte fortgeschmissen, sie hätten mich richtig geköpft . . . “)
(28) K. H. Günther, Geschichte der Erziehung, Seite 423.
(29) H. Wolgast,Das Elend unserer Jugendliteratur, Seite 22 + 25
(30) D. Richter, Das politische Kinderbuch, Seite 30
(31) R. Schenda, s. o., Seite 272
(32) H. Kunze, s.o., Seite 274
(33) I. Dyhrenfurth-Graebsch, Geschichte des deutschen Jugendbuches, Seite 145
(34) Gebrüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, Kassel 1819, Vorwort
(35) D. Richter, J. Merkel, Märchen, Phantasie und soziales Lernen, Seite 70
(36) D. Richter, J. Merkel, s.o., Seite 115
(37) J. Merkel, Die heimlichen Erzieher (D. Richter Hrsg.) Seite 65
(38) D. Richter, J. Merkel, s.o., Seite 63
(39) Elke und Jochen Vogt, Und höre nur wie bös er war, Seite 11, in: Die heimlichen Erzieher (Hrsg. D. Richter)
(40) Elke und Jochen Vogt, Und höre nur wie bös er war, Seite 17 in: Die heimlichen Erzieher (Hrsg. D. Richter)
(41) H. Kunze, s.o., Seite 347
(42) H. Kunze, s.o., Seite 347, nach Gustav Hennig, zehn Jahre Bibliotheksarbeit, Geschichte einer Arbeiterbibliothek, Leipzig 1908
(43) C. Zetkin, zit. nach D. Richter, Das politische Kinderbuch, Seite 75
(44) D. Richter, Das politische Kinderbuch, Seite 28
(45) D. Richter, s. o., Seite 28
(46) D. Richter, s. o., Seite 28
(47) D. Richter, s. o., Seite 31
(48) D. Richter, s. o., Seite 33
(49) D. Richter, s. o., Seite 34
(50) Lebenshaltungskosten, errechnet nach Jürgen Kuczynski, Studien zur Geschichte der Lage des arbeitenden Kindes in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart, Seite 117
(51) H. Mehner, Der Haushalt und die Lebenshaltung, Leipzig 1887, zit. nach R. Schenda, Volk ohne Buch, Seite 448
(52) F. Schaubach, Zur Charakteristik der heutigen Volksliteratur, Hamburg 1863, zit. nach R. Schenda, Volk ohne Buch, Seite 448
(53) Fertigung des Struwwelpeters, nachzulesen bei I. Dyhrenfurth-Graebsch, Geschichte des deutschen Jugendbuches, Seite 146
(54) K. Neukrantz, s.o., Seite 8
(55) D. Richter, Die heimlichen Erzieher, Seite 36
(56) Märchen der Gebrüder Grimm, Th. Knauer, Seite 261
(57) G. Heinsohn, s.o., Seite 48
(58) J.W. Appell, zit. nach H. Kunze, Schatzbehalter, Seite 33
FÜR BERTHOLD, den ich in der dffb kennenlernte. Berthold Podlasy war Mitautor und Schauspieler in unserem dffb Film von 1971: »Deine Freizeit gehört dir noch nicht«. Eine Gruppenarbeit von Michael Mosolff (kein dffb Student, Gasthörer), Martin Streit, Berthold Podlasly und mir. Ein Still aus einer Filmkopie, wie man das heute nennt. Wir haben einfach Foto gesagt. Denn wenns nicht still gewesen wär, wärs ja verwischt worden.
Kuchekäschtle. Wir mochten uns. Martin Streit und ich. Später kam noch Berthold Podlasly dazu. An Martin denke ich manchmal. An Berthold auch. Wir hatten eine ähnliche Biografie vor der dffb. Waren auf der Proletenwelle in die Akademie gespült worden. Wir wollten viel und schnell lernen, um damit weg von den Proleten zu kommen. Viele Mitstudenten wollten grade dahin, wo wir grade von weg wollten. So haben wir uns zusammengetan. Ich erinnere mich an einen Grundkursfilm mit einer langen Kamerafahrt. Der Film hatte den Arbeitstitel >Inga<*, so hieß die Frau, mit der ich damals verheiratet war. Etwas besseres war uns zu dem Zeitpunkt nicht eingefallen. Inga arbeitete als Pädagogin in einem Jugendfreizeitheim. Das sollte auch unser Film behandeln. Er ist sehr lang geworden und sollte den Zusammenhang von Arbeit und Freizeit darstellen. Eine lange Kamerafahrt sollte um einen Häuserblock stattfinden. Auf der einen Seite ein Regierungsgebäude, auf der gegenüberliegenden Seite ein Jugendfreizeitheim. Unsere Kamerafahrt sollte optisch den inhaltlichen Zusammenhang von beiden Einrichtungen zeigen. Zehn Minuten, eben so lange, wie eine 120 m Kassette in einer 16 mm Kamera (Arri BL) reichte. Die Wirkung, die wir uns davon erhofft hatten, trat beim Publikum aber nicht ein.
Die beste Geschichte, die sich immer wiederholt hatte und die Martin Streit mir immer und immer wieder erzählen mußte war die, von der Autobahn, die bei Magdeburg über die Elbe querte. Er war Besitzer eines alten Buckel Volvo mit Schweizer Kennzeichen. Und er war Besitzer eines Schweizer Passes, weil er in der Schweiz geboren und aufgewachsen war. Manchmal, aber eher selten, sprach er auch so, wie die da sprechen. >Kuchekäschtle<** hat mir immer besonders gut gefallen. Die Geschichte mit dem Buckel Volvo, der Autobahn und der DDR ging so. Dazu muß man wissen, daß wir beide (Martin und ich) den DDR Sozialismus, den real existierenden, wie sie ihn nannten, nicht sehr mochten.
Das war in der dffb mehrheitsfähig. An der Magdeburger Autobahnbrücke gab es eine Geschwindigkeitsbegrenzung. 30 Std/kmh waren ausgeschildert. Ohne jeden ersichtlichen Grund. Das Schild diente vorwiegend der Devisenbeschaffung des Arbeiter- und Bauernstaates. Und jedes Mal wenn Martin an diese Stelle kam, beschleunigte er auf die Höchstgeschwindigkeit, die der Buckel Volvo noch schaffte. (Hundertzwanzig km/h). Hinter der Brücke lagen die Volkspolizisten, wie sie genannt wurden, auf der Lauer und stoppten den Buckel Volvo in freudiger Erwartung auf das viele Westgeld, dass sie jetzt kassieren würden.
Aber Martin hatte nie >Devisen< bei sich. Sie mussten ihn jedes Mal laufen lassen, notierten seine Schweizer Anschrift und sein Kennzeichen. Geld haben sie nie bekommen. Irgend wann haben sie sich das nicht mehr gefallen lassen und er musste jedes Mal das Flugzeug nehmen, wenn er nach >Westdeutschland< Berlin verlassen wollte. Den Buckel Volvo haben sie nicht mehr reingelassen. Und den Schweizer Bürger auch nicht.
Vermutlich waren ihnen die Verwaltungskosten zu hoch geworden. Er hat nach der dffb viele Filme fürs Fernsehen und bei anderen Filmen die Kamera gemacht. Wir haben uns nicht aus den Augen verloren. Selbst an dem Tag, als er sich eine Überdosis gab, haben wir noch miteinander telefoniert. Ob die Geschwindigkeitsbegrenzung an der Magdeburger Autobahnbrücke noch besteht, weiß ich nicht. Ich fahre immer mit der Bahn nach Berlin und zurück. In dem Heft >dffb volljährig< von 1984, wo vorne das Bild einer Schauspielerin und das von Heinz Rathsack zu sehen ist, antwortet Martin Streit auf die Frage, ob er noch Utopien habe. (Wenn möglich, ausführlich beschreiben): >Ich möcht‘ einer gewesen sein wie Petersen einmal einer sein wird.***<
Ps: * Der fertige Film trägt den Titel: >Deine Freizeit gehört dir noch nicht< Im Vorspann sind die Filmemacher genannt: Berthold Podlasly, Michael Mosolff, Martin Streit und ich (Jens Meyer). Natürlich alphabetisch geordnet, wie sich das gehört.
** Kuchekäschtle = Küchenschrank
*** Gemeint hat Martin Streit vermutlich den Wolfgang Petersen, dessen dffb Abschlußfilm den Titel trug: >Ich werde dich töten, Wolf<. Auch der zweite aus unserem Grundkurstrio, Berthold Podlasly, hat sich umgebracht. So bin ich der Übriggebliebene dieses Trios. Auch dieser Satz kommt aus dem Kino: >Die Besten sterben immer zuerst< Und aus welchem Film ist dieser Satz? Hah, da kommt ihr nie drauf! Da könnt ihr lange raten! Huch, ich hatte ganz vergessen, ihr habt ja jetzt Maschinen, die für euch suchen! Na, dann mal los!
Jens Meyer 4. November 2018
Und hier ist des Rätsels Lösung: Sie stammt aus der deutschen Synchronisation von „Fanfan, der Husar“ (Fanfan la tulipe) von Christian-Jaque und wird dem Schauspieler Gérard Philipe in den Mund gelegt. Das ist seine Antwort auf den Satz seines Vorgesetzten, der behauptet hatte, man hätte ihm im Krieg schon vier Pferde unter dem Arsch weggeschossen. 26. Oktober 2021.
Tonmann Günther Thews in einer Arbeitspause Foto Jochen Hergersberg Berlin 1979