Der Bildwerferraum nicht kleiner als 4 qm. Anmerkungen zur Bauentwurfslehre von Ernst Neufert (BEL).

Die erste Auflage erschien 1936, jetzt gibt es die 33. Auflage in deutscher Sprache. Viele Architekten glauben, dass dieses Buch ihnen ermöglicht, heute ein Gefängnis, morgen einen Büroneubau und übermorgen ein Kino zu entwerfen und leider eben auch bauen zu lassen. Die Auflage von 1996 hat fast 600 Seiten und kostet 198,00 DM.

 

PDF Anmerkungen zur Bauentwurfslehre

Anmerkungen zur Bauentwurfslehre von Ernst Neufert. Herr Neufert war ein berühmter Mann. Hoch dekoriert starb er 1986. Was der Dubbel für die Maschinenbauer ist, das ist der Neufert für die Architekten. Ein Handbuch für Alles,  was mit dem Herstellen von Häusern zu tun hat. Wenn Architekten etwas bauen sollen, dann schauen sie zuerst in seine Bibel: Die Bauentwurfslehre.

Die erste Auflage erschien 1936, jetzt gibt es die 33. Auflage in deutscher Sprache. Viele Architekten glauben, das dieses Buch ihnen ermöglicht, heute ein Gefängnis, morgen einen Büroneubau und übermorgen ein Kino zu entwerfen und leider eben auch bauen zu lassen. Die Auflage von 1996 hat fast 600 Seiten und kostete 198,00 DM.

Die Auflage von 1959 ist vergriffen, hatte 445 Seiten und kostete mich im Antiquariat 50,00 DM. Fünf Seiten gibt es in allen Ausgaben für Kinoneubauten. Nicht mehr und nicht weniger. Architekten haben in der Regel die nötige Arroganz, sich bei allen Neubaufragen für kompetent zu halten. Das merkt man Neuferts Bibel an.

Heute ein Gefängnis, morgen ein Büro und manchmal eben auch ein Kino bauen können zu glauben. Kein anderer Berufsstand verfügt über so ein universales, unbelehrbares und von Erfahrungen nicht zu erschütterndes Halbwissen, wie der Berufsstand der Architekten. Würden sie Autos, Schiffe, Eisenbahnen oder Flugzeuge konstruieren: Nicht auszudenken. Kinomacher (Vorführer und Besitzer) haben in den vergangenen 63 Jahren offensichtlich selten in den Neufert reingesehen.

Sie wundern sich in aller Regel nur (so wie ich), woher bei Kinoneubauten die runden Wände an der Leinwandseite, die falschen Filmformate, die Vorführräume nicht kleiner als 4 qm und ähnlicher Schwachsinn kommen. Aus der Bibel von Ernst Neufert.

In der Ausgabe von 1959 sind von sieben möglichen Filmformaten fünf falsch. In der Ausgabe Nr. 33, die nach seinem Tode entstand, ist die Trefferquote etwas besser und es ist der denkwürdige Hinweis eingefügt worden, das, wer als Architekt ein Kino bauen will oder soll, der solle sich mit Fachleuten aus der Kinobranche beraten.IMG_5828

Diesen Hinweis scheinen nur wenige Architekten zu lesen oder gar zu beherzigen. Vielleicht haben sie nicht die 33. Auflage, sondern eine, die der Professor noch selbst betreut hat. Vielleicht gar die von 1936, oder wie ich, die von 1959. Auch ich bin (als Kinomacher) an dieses Standardwerk erst geraten, nachdem ich den viel zu kleinen Vorführraum und die runde Wand an der Bühnenseite des großen Kinos in den Zeise Kinos in Hamburg gesehen hatte.

Ich hatte mich gefragt, wie so etwas zustande kommt. Von Kinoleuten können die Architektenideen nicht kommen, dachte ich mir. Also habe ich gesucht und gefunden. Die Bauentwurfslehre von Ernst Neufert. Seit 1936 ist die “BEL” das Standardwerk für Architekten und Bauherren. Es gibt Ausgaben in portugiesisch, spanisch, englisch, französisch, italienisch, türkisch, serbokroatisch, griechisch, polnisch, russisch, indonesisch und japanisch.

Da ist es besonders erstaunlich, mit welcher Hartnäckigkeit fehlerhafte Angaben von Auflage zu Auflage übernommen werden, insgesamt 33 mal in Deutschland. Es geht leider nicht nur um falsche Filmformate, runde Bildwände, zu kleine Vorführräume, sondern auch um richtigen Schwachsinn, wie z. B. (seit 1959 in jeder Auflage) die “Platzmeldeanlage”. In den 50-iger Jahren wurden solche Platzmeldeanlagen tatsächlich in einigen Kinos eingebaut. Jedes Sitzpolster hatte einen elektrischen Kontakt. Sobald ein Zuschauer auf dem Polster Platz nimmt, leuchtet an der Kasse ein Lampe auf und signalisiert: Der Platz ist besetzt. In den wenigen Kinos, wo das ausprobiert wurde, hat es nie funktioniert. Mal gingen die Lampen nicht wieder aus, wenn die Zuschauer sich erhoben und das ganze Kino war nach kurzer Zeit nur von wenigen belegt. Man hat alles versucht und dann das System als zu unzuverlässig aufgegeben. Doch bei Neufert finden wir es noch heute. In jeder der 33. Auflagen.ernstneufert1

Doch damit nicht genug: Sein “Bildwerferraum im Hohlraum der Empore” lässt jeden Filmvorführer und jeden Kinobesitzer erstarren. Der Projektor ist auf dem Fußboden montiert, der Vorführer guckt durch einen Winkelspiegel auf die Bildwand. So kleine Filmprojektoren, die so auf dem Fußboden zu montieren sind, wie Neufert es vorschlägt, hat es noch nie gegeben. Vielleicht handelt es sich bei dem dargestellten Projektor um einen Super 8 Projektor?

Wir können Herrn Neufert nicht mehr fragen. Doch damit nicht genug. Man ahnt als Kinobetreiber gar nicht, wie viele technische Fehler man auf fünf Seiten Kinobauten unterbringen kann. Das Schema eines Vorführraumes. In der Ausgabe von 1959 gibt es: Zwei Projektoren, einen Tisch, einen Schrank für Filme, eine Schauöffnung, einen Wasseranschluß, einen Verstärker und einen Plattenteller, eine Kleiderablage, einen Scheinwerferraum, einen Lüfter und einen Schalttafelraum. Da ist kein Platz für einen Gleichrichter, keiner für einen Film Umroller. Selbst in der Ausgabe von 1984 sieht der Vorführraum genauso aus, obwohl in den 70-iger Jahre fast überall Tellereinrichtungen und Spulentürme für die kontinuierliche Projektion eingerichtet wurden.

In Neuferts Vorführraum ist dafür kein Platz und wenn der Vorführer einen Film umspulen will, dann muss er höchstwahrscheinlich in den Keller. Dort findet er dann auch einen “Umformerraum” (vermutlich für den Gleichrichter), der mit 8 – 15 qm (1959/1984) bei der heutigen Bauweise von Gleichrichtern (Platzbedarf ca. 0,5 qm pro Gleichrichter) doppelt so groß ist, wie der Vorführraum. Wenn der Vorführer gerade denkt, was hätte man mit den 14 qm freien Raumes alles Schönes machen können, dann muss er auch schon wieder hoch in die enge Butze von 4 qm, in der kaum Projektoren Platz finden und in der man die Filmkartons von 0,40 m x  0,40 m gar nicht bewegen kann.

Doch es bleiben ihm dafür genau 6 Minuten bis zum nächsten Aktwechsel. 1984 ist die Idealgröße der Bildwand laut Neufert im alten Stummfilmformat von 1:1,33. Die Bildwandgrösse sei günstig und üblich. Er hat sich offenbar keine Gedanken darüber gemacht, wie klein ein Film im CinemaScope Format von 1:2,35 (nicht wie bei Neufert 1:2,55) bei diesem Bildwandformat wird. Mal angenommen die Bildwand wäre 1 m hoch und 1,33 m breit (Stummfilmformat), dann wäre das CS Bild auf gleicher Leinwand 0,56 m hoch. Man müsste knapp die Hälfte der Leinwand mit einem Kasch abdecken.

Selbst bei einer Leinwandgröße (wie nach Neufert üblich) von 4,50 m x 6,00 m (1:1,33) wäre das CinemaScope Bild mal grade 2,50 m hoch. Ob das den 600 – 800 Zuschauern “in der zur Zeit (Ausgabe 1984) günstigsten Anlage” als Bildgröße ausreicht, das ist doch sehr die Frage. Ich denke nein und würde ein solches Kino meiden. Die Architekten Bibel gibt leider auch keinen Hinweis darauf, dass das gepriesene Bildformat seit der Durchsetzung des Tonfilmes in Deutschland (1930) nur selten auf die Leinwand gelangt.

Mit anderen Worten. Drei Jahre vor Erscheinen von Neuferts erster Auflage der Bauentwurfslehre, war dieses Film Format schon aus der Mode und vom heutigen Normalformat abgelöst. (Im Neufert übrigens richtig angegeben, was ist da passiert?).

Auch denkwürdig: Die von Neufert propagierten “Bildabdeckungen, die von Rechteck abweichen, um die plastische Wirkung des Filmbildes zu erhöhen” und die “sich dem jeweiligen Raum anpassen”. Was da gezeichnet erscheint, hat verdammte Ähnlichkeit mit einem Fernseher. Jedenfalls keine mit einem bildformatgerechten Kino.

Fazit: Erstaunt stelle ich fest: Wenn über so lange Zeit (Dreiundsechzig Jahre) technische Fehler nicht korrigiert werden, dann muß das Gründe haben, die nicht nur bei Neufert, sondern auch bei seinen Berufs-Kollegen zu suchen sind. Mehrere Generationen von Architekten haben diese Fehler offensichtlich nicht bemerkt. Von den zurzeit in Deutschland existierenden 4000 Kinos sind ca. 1500 Neubauten, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden sind. Also kann man davon ausgehen, dass nur wenige Architekten nach der Bauentwurfslehre von Neufert Kinos gebaut haben.

Doch finden sich Neuferts Fehler nicht nur in seinem Buch, sondern auch in der Realität wieder, in diesen 1500 Neubauten wieder. Wie bei der U-Bahn manchmal die Eingänge vergessen werden, so vergessen Architekten bei Kinos häufig die 4 qm für den “Bildwerferaum”, wie er ihn nennt, also den Raum, der ein Kino in der Hauptsache zu einem Kino macht.

In Dubbels zweibändigen “Taschenbuch des Maschinenbaus” gibt es solche Fehler wie bei Neufert nicht. Die Maschinen, die dort fahren, benötigen Räder, einen festem Rumpf, einen Propeller. Dann können sie immer noch das Ende der Titanic finden oder gegen einen Baum fahren. Aber der Propeller wird an der richtigen Stelle angebaut und die Räder rollen auch meistens. Da muss einem doch Angst und Bange werden, wenn man selbst die Absicht hat, ein neues Kino bauen zu lassen.

Nur gut, dass Architekten keine Schreibmaschinen nach der Bauentwurfslehre von Professor Neufert konstruieren. Da würden bestimmt die Buchstabentasten fehlen und dann sähe dieser Artikel echt alt aus. Jens Meyers Anmerkungen zur Bauentwurfslehre

Zeise
Architekt Peter Wiesner. Medium. In der Zeise Halle. Architekt der Zeise Kinos.
Berliner S-Bahn auf dem Weg zum Buch

Fotos Jens Meyer