Briefe an Eugen: Apropos Joseph Roth (LXXIX-79)

Joseph Roth. Bild im Klappentext des Buches Berliner Saisonbericht. Der Fotograf wird dort nicht genannt.
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PDF Briefe an Eugen Apropos Joseph Roth (LXXIX- 79)

(Zeichen 3.692) Briefe an Eugen Apropos Joseph Roth (LXXIX-79)

Hallo Eugen, wieder ein Buch aus dem Antiquariat, das ich Dir empfehlen möchte. Josef Roth. Berliner Saisonbericht. Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920 —39. Herausgeben und mit einem Vorwort von Klaus Westermann. Erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch 1984. Schon seine Biografie hatte mich neugierig gemacht, als ich im Antiquariat Pabel den Klappentext las: „Joseph Roth. 1894-1939 wuchs in Galizien auf und studierte in Lemberg und Wien Germanistik. nahm am 1. Weltkrieg teil. Ab 1918 war er Journalist in Wien. reiste später als ständiger Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung durch Europa. 1933 ging Roth nach Frankreich ins Exil: er starb 1939 in Paris.“

Eiffeltum (genietet)
Foto Jens Meyer

Hallo Eugen, ja, Du hast Recht. Natürlich stimmt Deine Vermutung. Joseph Roth war Jude. Und fast bin ich geneigt zu schreiben: Als Reflex beim Lesen des letzten Satzes dieses Textes stellte sich mir unwillkürlich der Halbsatz „eines natürlichen Todes“ in den Weg. Hab ich natürlich nicht gemacht.

Ab Seite 379 berichtet Roth aus Prag und schreibt am 6. September 1933 im »Prager Mittag« auf Seite 380: „Als österreichischer Monarchist, konservativer Mann und unerbitterlicher Feind jeder Regierung, an deren Spitze ein Tapezierer steht, erwidere ich dem Verleger, daß ich darauf verzichte, im »Dritten Reich« derzeit genannt Deutschland, zu erscheinen.“ ( . . .)

Ab Seite 381: „Wir deutschen Schriftsteller jüdischer Abstammung müssen in diesen Tagen, da der Rauch unserer verbrannten Bücher zum Himmel steigt, vor allem erkennen, daß wir besiegt sind. Erfüllen wir, die wir die erste Welle der Soldaten bilden, die unter dem Banner des europäischen Geistes gekämpft haben, die edelste Pflicht der in Ehren besiegten Krieger: erkennen wir unsere Niederlage.“ ( . . .)

Ab Seite 385 schreibt Roth: „Man kann sagen, daß seit etwa 1900 diese »Oberschicht« der deutschen Juden zu einem großen Teil das künstlerische Leben Deutschlands bestimmt, wenn nicht beherrscht hat. Gerechterweise muß man feststellen, daß sie sowohl Qualitäten und Tugenden als auch Fehler hatten. Selbst ihre Irrtümer waren manchmal heilsam. Im ganzen weiten Reich mit einer Bevölkerung von sechzig Millionen Menschen, unter all den vielen Industriellen, gab es, von individuellen Ausnahmen natürlich abgesehen, keine einzige Schicht, die aktives Interesse an Kunst und Geist bekundet hatte. Was die preußischen »Junker« angeht, so weiß die zivilisierte Welt, daß sie gerade schreiben und lesen können; einer ihrer Repräsentanten, der deutsche Reichspräsident Hindenburg, hat öffentlich bekannt, daß er in seinem Leben niemals ein Buch gelesen hat. ( . . .)

Auf Seite 400 unter der Überschrift. DIE VERTRIEBENE DEUTSCHE LITERATUR schreibt Roth: „Ich sage absichtlich: vertriebene deutsche Literatur und nicht deutsche Emigrationsliteratur, weil der Begriff Emigrationsliteratur einen eigenen historischen Beigeschmack besitzt. Aber wenn man es genau nimmt, dann haben wir es heute weniger mit einer Emigrationsliteratur als vielmehr mit einer vertriebenen Literatur zu tun, weil die in der Emigration lebenden deutschen Schriftsteller heute in Wirklichkeit keine Emigranten, sondern eben Vertriebene sind. ( . . . )

Auf Seite 403: (II) Zwischen der jetzigen vertriebenen Literatur und der Emigrationsliteratur früherer Epochen besteht ein grundsätzlicher Unterschied: Die Bücher der Schriftsteller, die damals in der Fremde leben mußten, wurden in der Heimat herausgegeben, honoriert, gelesen und verbreitet. Vertrieben war nur der Autor — als Person. Seine Werke konnten aber sogar während der dunkelsten Zensur unter Napoleon oder Metternich in der Heimat erscheinen, Sowjetrußland, Mussolini-Italien und Hitlerdeutschland haben die Schriftsteller nicht nur physisch vertrieben, sondern auch geistig. Heine und Börne haben Honorare aus Deutschland erhalten, Chateaubriand, Victor Hugo und George Sand aus Frankreich. Nur das 20. Jahrhundert kann sich rühmen, einen Schriftstellertyp geschaffen zu haben, der in der Welt Gehör findet, aber für seine Heimat gestorben ist. (Die geringe Anzahl von Büchern, die nach Deutschland hineingeschmuggelt wird., spielt praktisch keine Rolle.) ( . . . )

(Aus Nasza Opinja (Lwów), 7. März 1937.

Hallo Eugen, und jetzt kommst wieder Du. Meine Frage ist nur: Konnte ich Dich neugierig machen? J.

Zeichnung Helga Bachmann
Foto Jens Meyer

Leute seid vernünftig lasst die Frau durch

Leute seid vernünftig, lasst die Frau durch, denn sie will noch schnell mal in Schauburg – Zur Geschichte eines jüdischen Kinokonzerns in Hamburg.

Video von Jens Meyer, BRD / USA / Brasilien 1994, Kamera: Dietmar Bruns, Recherchen: Reinhold Sögtrop, Jens Meyer, Reinhard Saloch, Geschichtswerkstatt Barmbek; Schnitt: Echtzeit Video Christian Lempp; Produktion: Otto Meyer Filmproduktion mit Unterstützung des Hamburger Filmbüro e. V. S-VHS, 68 Min. Farbe.

Vom 22. April 1897 bis zum 27. Januar 1933 dauerte die Geschichte der Kinobesitzer Familie Henschel in Hamburg, Berlin, Kiel und Lübeck. Als den deutschen Nazis die Macht übergeben wird, werden den Partei – und Volksgenossen viele Geschenke versprochen. Ein Geschenk davon sind die Kinos des Henschel Film – & Theaterkonzerns. Doch auch Deutsche wissen, was man verschenken will, muß man erst haben. Die Besitzer werden enteignet und mit dem Tode bedroht. Die neuen Herren haben keine lange Freude an den Geschenken ihres Führers. Englische und amerikanische Bomberpiloten machen 1943 – 44 elf Kinos des Henschel Konzerns dem Erdboden gleich. Nur ein Kino wird nicht bombardiert. Die Bomben haben Spuren im Gedächtnis der Beschenkten hinterlassen.

Als ich 1987 mit den Recherchen zu diesem Film beginne, finde ich zunächst nichts. Nicht in den Archiven, nicht in den Köpfen der Beteiligten, nichts bei ihren Söhnen und Töchtern. Alles verdrängt, vergessen, verbrannt. Nicht allen der enteigneten „arisierten“ Kinobesitzern glückte die Flucht ins Ausland. Und nur wenige Überlebende kamen nach dem Krieg zurück. Die Richter von damals, die die Enteignungen „begleitet“ hatten, waren schon wieder in Amt und Würden. Keine guten Voraussetzungen für eine Wiedergutmachung. Eines wußten die (neuen) Besitzer genau. Besser ist, wenn über ihre Rolle in jener Zeit nichts geschrieben, gedruckt oder im Fernsehen gezeigt wird. Meine Vermutung, dass die ehemaligen Besitzer Juden waren, bestätigt sich bald. Nur der Zufall hilft uns dann bei der Suche. Eine dreizehn Zeilen Meldung in der Tageszeitung Licht Bild Bühne (LBB) ist so ein Zufall. In der Samstag Ausgabe vom 28. Januar 1933 der (LBB) steht, daß ein Herr „Urich-Saß, eine leitende Persönlichkeit im Henschel Konzern in Hamburg, am 27. Januar, im Alter von 45 Jahren, einem Herzversagen erlegen ist“. Am 30. 1., am Montag dann die Ergänzung: „Seine Beerdigung findet heute um 3 Uhr statt“. Auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg Ohlsdorf, der durch einen Zaun vom Friedhof von Hamburg Ohlsdorf getrennt ist.

Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Hamburg Ohlsdorf

Hier finde ich mit Hilfe des Friedhofswärters den Grabstein von Hermann Urich-Sass, geb. am 18. Juni 1887 (5647), gestorben am 27. Januar 1933 (5693). Der Stein ist gut erhalten. Das Grab wird gepflegt. Die jüdische Gemeinde hat viele Erfahrungen in Deutschland gemacht und hält Namen und Anschriften der Angehörigen der Toten geheim. Aber die Jüdische Gemeinde verspricht, meinen Brief an die Angehörigen des Toten weiterzuleiten. Nach einiger Zeit bekomme ich tatsächlich Ant-wort. Aus Mexiko, den USA und Brasilien. Verwunderung über den verrückten Hamburger, der nach 60 Jahren nach dem Verbleib des Henschel – Film und Theaterkonzerns sucht. Vor mir hatte noch keiner gefragt.

Ich danke Horst Urich-Sass, Beverly Hills / Mexico City, Norbert J. Kobler, Los Angeles, Rolf Arno Streit, Hilde Streit und Carl Heinz Streit, Belo Horizonte Brasilien d. 18. Oktober 1994.

Adolf Hitler verläßt um 12 Uhr 40 die Reichskanzlei dem damaligen Sitz des Reichspräsidenten in der Wilhelmstrasse.in Berlin.

Jetzt – zehn Jahre später- im August 2004 – nehme ich die Kontakte wieder auf. Meine damaligen Gesprächspartner: Norbert Kobler (Sohn des Hamburger Schauspielers Julius Kobler), Horst Urich-Sass (Sohn des Hamburger Kinobesitzers Hermann Urich-Sass), Rolf-Arno Streit (Sohn des Hamburger Kinobesitzers Hugo Streit, Carl Heinz Streit (ebenfalls Sohn des Hamburger Kinobesitzers Hugo Streit) sind verstorben. Damit bin ich auch von meinem Versprechen entbunden, das ich dem Sohn des Kinobesitzers Horst Urich Sass in Beverly Hills gegeben hatte. Über den Selbstmord seines Vaters nichts zur veröffentlichen, so lange, bis er und seine Frau Ciedra Urich Sass verstorben sind. An dieses Versprechen habe ich mich gehalten.

Hermann Urich Sass muß 1933 geahnt haben, was passieren wird. Er hat sich am 27. Januar 1933 das Leben genommen. Als er am Montag, den 30. Januar 1933 um 3 Uhr auf dem Jüdischen Friedhof in Hamburg Ohlsdorf beerdigt wird, hat der Reichspräsident Paul von Hindenburg um 12.30 Uhr die Macht an Adolf Hitler übergeben und ihn zum Reichskanzler ernannt.

Doch jetzt gibt es Zugang zu den damals verschlossenen Archiven. Die zutage kommenden Dokumente, beweisen, was schon immer vermutet wurde. 1938 wurden viele Juden beraubt. In einer bisher nicht genannten Dimension. 1930 gab es in Hamburg viele Kinos. Allein die Firma Henschel hatte 12 Kinos mit durchschnittlich 1200 Sitzplätzen pro Kino. 1930 betrug die Gesamtanzahl der Sitzplätze 50 Tausend. Die Enteignung im großen Stil begann 1933 mit der Machtübergabe an die Nazis. Nur rund 20 Tausend Sitzplätze verblieben bei Kinounternehmern, die schon vor 1932 aktiv gewesen waren.

Der Text des Schauburg Schlagers (gemacht für Werbezwecke 1925) „Kinder seid vernünftig lasst die Frau durch, denn sie will noch schnell mal in die Schauburg, das Fräulein Tochter, der Herr Sohn und der Papa und all die anderen Verwandten sind schon da.“ Der Text wird 3 x wiederholt. Die Schallplatte mit dem Lied hat Reinhard Saloch von der Geschichtswerkstatt Barmbek 1990 gefunden. Gespielt von Paul Godwin mit seinen Jazz Symphonikern (1925)