Briefe an Eugen (LXV-65) Staudte im Russischen Sektor

PDF Briefe an Eugen (LVXV) Staudte im Russischen Sektor

Scherl Adressbuch Berlin 1940


Bambergerstraße 47 (1945)

Hallo Eugen, ja, Dein Einwand, das es keine Zeitzeugen mehr gibt, die das bestätigen könnten, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber was haben uns die Zeitzeugen denn bisher genutzt? Die ham ja die schlimmen Sachen auch alle für sich behalten. Als ich jedenfalls 1970 mit dieser S-Bahn von Lankwitz nach Gesundbrunnen gefahren bin (Jeden Morgen um 6.30 Uhr, um zum Bauplatz der Gleisbaufirma Max von Knoblauch GmbH in der Swinemünderstraße neben Grundstück Nummer 46 zu kommen) waren es insgesamt 12 Stationen (Lankwitz und Gesundbrunnen eingeschlossen) von denen allerdings nicht alle „bedient“ wurden. Da hielt die S-Bahn nicht an, sodaß man weder ein- noch aussteigen konnte. Nur an der Friedrichstraße hielt die S-Bahn an. Dort gab es zollfrei Zigaretten und Schnapps zu kaufen. Man durfte sich aber beim Aussteigen und Verlassen des S-Bahngeländes nicht erwischen lassen. Meine Lieblingsmarke war damals Pall Mall, und nun kommst wieder Du, J.

Hallo Eugen, wie lange die von Lankwitz nach Gesundbrunnen gebraucht hat? Hab ich vergessen. Jetzt braucht sie beim Halt an allen zwölf Haltestellen 32 Minuten und um Deinen Wissensdurst zu löschen: Die Ringbahn der S-Bahn braucht, egal ob sie links oder rechtsrum gefahren ist, 60 Minuten. Wie das 1970 war? Die konnte man damals ja gar nicht nutzen, weil sie oben rum gefahren ist und an der Mauer angehalten wurde. Und noch was. Die Westberliner, nicht alle natürlich, aber viele, fanden das doof dass die Westdeutschen (also wir) die S-Bahn benutzt haben, weil sie ja vom Osten war. Und übrigens auch ganz billig, und nun kommst wieder Du. J.

Hallo Eugen, was ich da gemacht habe, bei der adligen Firma von Knoblauch? Ja eben Gleisbau und die Dehnungsfugen an der Stadt-Autobahn repariert. Wieviele Leute da gearbeitet haben? Na die „Gewerblichen“ waren zwölf und dann gab es noch welche im Büro. Was mir noch einfällt: In der Swinemünder Straße neben dem Grundstück Nummer 46 gab es 6 große Schuppen, in denen die Werkzeuge untergebracht waren. Was man so braucht im Gleisbau. Große Schlüssel für die Schwellenschrauben, Spitzhacken, Schaufeln, Spaten und die kleinen Maschinen zum Bohren, Schleifen und zur Stromerzeugung. Ein Kriegsversehrter, so nannten sie den, war angestellt um darauf aufzupassen, daß nix geklaut wurde. (Es gab auch noch einen Schäferhund, der ihm dabei half, beim Aufpassen). Du wirst es nicht glauben in welchen Mengen die Werkzeuge vorhanden waren. Ich hab nicht gezählt, aber ungelogen, das waren mindestens 200 Schaufeln und Spitzhacken. Das erweckte sofort meine Neugier und Max, der Kriegsversehrte, der schon seit Kriegsende dort beschäftigt war hat es mir dann in einer ruhigen Minute, die es auch gab, erzählt. Es gab ja nach dem Krieg viele Förderprogramme zur Trümmerbeseitung in Berlin. Du kennst doch noch die 2 Pfennig Briefmarke „Notopfer Berlin“? Also die Schaufeln wurden an Männer ausgegeben, die auf den Baustellen morgens erscheinen sollten. Dann kam einer vom Senat, hat die Personen gezählt und dafür gabs dann Geld. Wieviel das war, wußte Max natürlich nicht. Als der vom Senat wieder weg war, durften die „Schauspieler“ wieder nach Hause, die „Baustelle“ verlassen . Ungefähr 20 Westmark gabs dafür, hatte mir Max erzählt. Viel Geld zu der Zeit. Das war nach der Einführung der DM. Der adlige Unternehmer hat natürlich das meiste Geld eingestrichen und nur einen kleinen Teil an die „Schauspieler“ weitergegeben. Ich glaub, die Korruption ist eine Berliner Erfindung. Und nun kommst wieder Du, J.

Hallo Eugen, in dem Film „Rotation“ von Wolfgang Staudte, der 1949 in die Kinos kam, wird die Sprengung am Gleisdreieck am 2. Mai 1945 gezeigt. Die S-Bahn fährt an dieser Stelle unter dem Landwehrkanal durch. Die Sprengung, so ist die Vermutung, wurde von Fachleuten durchgeführt. Der S-Bahn Tunnel wurde zu dieser Zeit als Luftschutzbunker genutzt. Durch die Sprengung gelangte das Wasser aus dem Landwehrkanal in den Tunnel und es sind haufenweise Menschen ertrunken. In der Aufarbeitung dieser Geschichte, die bei Staudte noch sonnenklar war, ist es zu zahlreichen Spekulationen gekommen. So kurz vor der Kapitulation einen Tunnel sprengen? Vielleicht, und so kommt eine weitere Spekulation in die Geschichte, ist es so gewesen: Dort hatte die SS eine Sprengfalle vorbereitet, die durch die Bomben eines amerikanischen Luftangriffs in Gang kam. Wär doch möglich? Und nun kommst wieder Du, J.

Hallo Eugen, ja natürlich gabs und gibs Korruption auch anderswo. Da gab es nach dem Krieg am Gesundbrunnen noch ein großes Kino, das habe ich erst viel später erfahren. Eins mit mehr als 1.500 Plätzen. Das hieß nach dem Krieg „Corso Kino“. Da fand 1951 unter anderem die erste Berlinale statt. Das war nach dem Krieg der Französische Sektor, der an den Russischen Sektor grenzte. Und die hatten ja die Ostmark, die viel weniger Wert war. Kurs war, glaub ich mich zu erinnern 1:7. Und die Zuschauer aus dem Osten, also dem russischen Sektor, konnten dann in Ostmark bezahlen. Und der Kinobesitzer bekam die Differenz in Westmark erstattet. Mehr Geld konnte man als Kinobesitzer nicht machen. Nach dem 13. August 61 war damit dann Schluß. Aber bis dahin war das ein gutes Geschäft. Die Geschichte dieses Kinos habe ich dann erst viel später erfahren, aber das ist eine andere Geschichte, nun kommst wieder Du, J.

Hallo Eugen, nein die hieß natürlich nicht Ostmark. Die hieß Mark der DDR. Würde mich nicht wundern, wenn die aus Westberlin in Ostberlin das Brot für Ostmark gekauft haben. L.G. Jens

Oscar Martay US- Offizier (Film Offizier der amerikanischen Militärregierung)

Hallo Eugen, Dich interessiert die andere Geschichte? Ja die ist wirklich ein bißchen lang. Also die erste Berlinale 1951 wurde von einem Nazi organisiert. Und zwar einem, der sich gut getarnt hatte. Er kannte dieses Kino, das 1932 Lichtburg hieß, gut. Denn die Firma, in der er ab 1941 gearbeitet hatte, hatte dieses Kino einem Juden weggenommen. Einem, dem die Flucht gelungen war und der aus diesem Grunde überlebt hatte. Der ist dann nach dem Krieg nach Berlin zurückgekommen ist. Und nun kommst wieder Du,. J.

Hallo Eugen, wie das passieren konnte? Der Mann hat eben Glück gehabt. J.

Lichtburg_Berlin_Grundriss_und_Schnitt

Hallo Eugen, wie das Glück aussah? Ja, die Umstände eben. Für manche Menschen war das überhaupt kein Glück. Für ihn aber schon. In Würzburg hatte er vor dem Krieg studiert und eine Doktorarbeit geschrieben. Irgend was mit Film. Vorraussetzung für den Job bei der Reichsfilmkammer in Berlin. Als der Krieg dann verloren war und einem Offizier der US-Army die Berlinale einfiel (Oscar Martay), war er nur die zweite Wahl. Vor ihm einer, dessen Ruf als Obernazi schon bis nach Hollywood gelangt war (Oswald Cammann-„Nazi Movie Moguls Powerful in Germany“, in „The American Jewish World“, 19. Januar 1951, S. 6). Diese amerikanische Zeitung kannte diesen Obernazi, den sie da zum Direktor der Berlinale machen wollten. Also wurde Kandidat Nr. Eins aussortiert.

Universität Würzburg 1945

Kandidat Nr. Zwei hatte das Glück, das ein Bomberkommando aus 280 Flugzeugen Würzburg kurz vor Kriegsende in Schutt und Asche gelegt hatte. Sein Glück war, auch das Archiv der Dissertationen war verbrannt. Seine Dissertation auch. Nicht mal an den Titel dieser Arbeit konnte er sich nach Kriegsende erinnern. Damit war viel Beweismaterial für seine Nazivergangenheit beseitigt. Dann kam ihm auch noch Stalin mit seiner Blockade zu Hilfe. Westberlin sollte ausgehungert und eingemeindet werden und wurde von den Amis deshalb über eine Luftbrücke versorgt. Da hatten die Verantwortlichen von Westberlin anderes zu tun, als sich um die Vergangenheit ihres Berlinale Direktors zu kümmern. Immerhin kannte dieser ein Kino am Gesundbrunnen, das für die erste Berlinale geradezu geschaffen war. Größe: 1.500 Sitzplätze. Standort: Französischer Sektor an der Grenze zum Russischen Sektor, waren dabei ausschlaggebend. Und nun kommst wieder Du, J.

Lichtburg Berlin Gesundbrunen Nachtfoto

Hallo Eugen, was mit dem Besitzer des Kinos passiert ist? Der kam nach Deutschland zurück und hat seine Ansprüche vor Gericht geltend gemacht. Aber, als er starb, war der Restituionsprozeß vor einem deutschen Gericht noch nicht entschieden. Und nun kommst wieder Du, J.

Lichtburg Kino Berlin Gesundbrunnen 1932

1951 Berlinale
Weisse Bär aus Berlin
Foto Jens Meyer

Hallo Eugen, wie es mit dem Berlinale Direktor weiterging? Am Anfang gab es noch Fragen und Hinweise, aber der Mann hat das Rampenlicht nicht so sehr gesucht. Und nach 25 Jahren im Amt hatte er sich eine gute Pension erarbeitet. Bis jemand nach seinem Tod auf die Schnappsidee kam, nach seiner Person einen Berlinale Preis aus der Taufe zu heben. Keinen goldenen, aber einen silbernen Bären. Sein Nachfolger als Berlinale Direktor war ein Redakteur der Zeit (Die Zeit-Wolf Donner), der sich mit den Schuhkartons des Herrn Riech, der die Ufa Kinos gekauft und entsprechend umgebaut hatte, angelegt hatte. Und so kam es dann wohl, daß viele Jahre später, eine von der Zeit angestellte Filmjournalistin sich doch mal mit diesen alten Geschichten von damals beschäftigt hatte. Ein „Hobby Filmhistoriker“ hatte sie drauf gebracht. Da sind sie dann alle aus allen Wolken gefallen. Das ist noch gar nicht so lange her. Wir von der Medienberatung hatten ihnen vorgeschlagen, sie sollten doch einfach die Farbe des Bäres ändern. Ham se nich jemacht. Und braune Bären sind ja in der Natur viel häufiger anzutreffen, als diese angemalten silberen Bären. Und nun kommst wieder Du, J.

Les Fantomes de Staline aus Cahiers du Cinema Januar 1990
Special URSS

Hallo Eugen, ob es einen Nachfolger Preis gibt? Habe so was nicht bemerkt. Es gab ein Bohei, aber jetzt ist es auch schon wieder vergessen, und nun kommst wieder Du, J.

Hallo Eugen, ja ich kenne den Namen dieses Hobby Historikers, aber der möchte nicht, dass sein Name wieder irgendwo auftaucht. Der Zusammenhang stört ihn zu Recht. Aber Eugen, es gibt ja das Netz. Und wie ich Dich kenne, wird Dir eine Suche nicht schwer fallen. Und nun kommst wieder Du, J.

Hallo Eugen, ja das ist richtig. Wenn die, die da aus den Wolken gefallen sind schon 1972 auf die Hinweise von Wolfgang Becker und Jürgen Spiker reagiert und vielleicht einmal ihre Dissertationen gelesen hätten. Ich will das mit der Fahrradkette nicht wiederholen. Und, den Namen gefunden? Na, jedenfalls kommst jetzt wieder Du, J.

Hallo Eugen, Du bist aber auch neugierig. Woher ich die beiden Fotos von Wolfgang und Fritz Staudte habe? Die stammen aus dem „Almanach der Filmschaffenden von 1943“. Das habe ich mal in einem Antiquariat gefunden. Hat mich damals 120 Mark gekostet. Und ich hatte lange überlegt, ob ich das Geld ausgeben und das Buch wirklich haben wollte. Auf der ersten Seite ein Bild des Herausgebers und ein Vorwort von ihm. (Die Bilder wurden von den Darstellern selbst zur Verfügung gestellt, steht auf Seite 2). Auf jeder Seite zwei Fotos. Auf Seite 272 die beiden Staudtes. Und nun kommst wieder Du, J.

Hallo Eugen, ja das Foto von Recha und Karl Wolffsohn stammt aus dem Buch von Ulrich Döge. Dort befindet es sich auf Seite 26, wie Du siehst. Die Fotografin oder der Fotograf ist in dem Buch nicht angegeben, oder ich hab es nur nicht gefunden, J.

Hallo Eugen, ja dick ist das Buch auch. Das Buch von der Reichsfilmkammer. Es hat 543 Seiten und einige fehlen auch schon. Herausgegeben vom Reichsfilmintendanten in Max Hesses Verlag Berlin. Druck : Großdruckerei Erich Thieme, Berlin-Niederschöneweide, Haselwerder Straße 27-31. Und jetzt bist wieder Du dran, J.

Hallo Eugen, danke der Nachfrage. Ja ein Buch über die Aufarbeitung der Tätigkeit des ehemaligen Berlinale Direktors gibt es auch. Zwielicht genannt. Hier ist der Umschlag. Kann man kaufen. Aber da steht auch nur drin, was Du jetzt schon alles weisst. Und nun kommst wieder Du, J.

Dr._Alfred_Bauer
Berlin
Foto Jens Meyer (Man beachte bitte auch, wer diese Tafel finanziert hat)

Brief der Berliner Gaswerke
Brief der Berliner Gaswerke vom 3. September 1944 an den Oberfinanzpräsidenten Berlin Brandenburg (Die Ausplünderungsbehörde der Nazis)
Zeichnung Helga Bachmann

Toluol, Wechselschicht und Rotationsdruckmaschinen

von Gaston Kirsche

pdf-Toluol-Wechselschicht-Rotationsdruckmaschinen

https://jungle.world/artikel/2020/45/monotonie-und-rotation

Toluol, Wechselschicht und Rotationsdruckmaschinen

1984 begann ich eine Ausbildung zum Tiefdrucker, nach der Lehre wurde ich bei Broschek übernommen. Das Arbeiten mit krebserregenden Farben, Nachtschichten für die schnellere Akkumulation der kapitalintensiven großen Rotationsdruckmaschinen, aber auch die Hilfsbereitschaft der Kollegen haben mich geprägt.

Der Tiefpunkt war meistens so zwischen zwei und drei Uhr morgens. Der Körper will schlafen und versteht nicht, warum er hier an der Rotation steht. Die Papierbahn rast durch die zehn Druckwerke, überall Papierstaub, trotz der Ohrstöpsel ist es laut. Der Maschinenkontrollstand ist außerhalb der Box, in der die dreistöckige Druckmaschine läuft. Aber für jeden Arbeitsschritt direkt an der Maschine wird die Tür der Box geöffnet, ran an die vibrierenden Druckwerke, es ist stickig und warm, eine Verständigung ist hier nur durch Brüllen möglich. Im Sommer läuft der Schweiß. Die tonnenschweren Druckzylinder rotieren, auf der Druckmaschinenverkleidung klebt ein dünner Film. Eine Verbindung aus dem Schmieröl, das bei der hohen Laufgeschwindigkeit zwischen den Achsen der Druckzylinder und den Lagern verdunstet, Metallabrieb von den Rakelmessern, mit welchen die überschüssige Farbe vom Druckzylinder abgezogen wird, unzähligen kleinsten Papierfasern und Lösemitteldämpfen. Wenn es einen Reißer gibt, müssen alle Drucker rein und die über drei Meter sechzig breite Papierbahn über die Laufstangen wieder durch die zehn Druckwerke führen. Fünf für den Schöndruck, fünf für den Widerdruck. In den Farbwannen schwimmt die dünnflüssige Druckfarbe auf Toluolbasis. Toluol stand da schon lange im Verdacht, krebserregend zu sein. Dass wurde durch die Studie „Toluol in Tiefdruckereien* des Instituts für Arbeitsphysiologie an der Universität Dortmund aus dem Jahr 2001 aber nicht bestätigt. Allerdings wurden Gesundheitsschäden im Allgemeinen durch Toluol in der Studie auch nicht ausgeschlossen.

Toluol verdunstet bei niedrigeren Temperaturen als Wasser, etwa bei 80 Grad Celsius. Im menschlichen Körper reichert es sich leicht an. Dass meiste verdunstete Toluol aus den Farbwannen wird über riesige Rohre mit Trichterförmigen Öffnungen abgesaugt, aber nicht alles. Gearbeitet wird ohne Handschuhe, Farbreste werden mit in Toluol getränkten Lappen abgewischt. Andere, nicht gesundheitsgefährdende Lösungsmittel für die Tiefdruckfarben sind teurer. Also Toluol.

In einem Artikel stand 1994 in drei Absätzen etwas über die schädliche Wirkung von Toluol auf Menschen: Münchner Wissenschaftler hatten das Blut von Druckereiarbeitern aus Baden-Württemberg analysiert. „Bei Beschäftigten, die länger als 16 Jahre im Tiefdruck arbeiteten, war die Anzahl von deformierten Erbinformationsträgern in den Zellen wesentlich höher als bei den Kollegen, die erst kürzer dabei waren. Da gab es Brüche in den Chromosomenärmchen, winzig kleine Verbindungsteilchen fehlten oder waren vertauscht. Solcherart Fehler in der genetischen Information können vermehrt entstehen, wenn die Reparaturmechanismen in der Zelle nicht mehr richtig funktionieren, hieß es unter der Überschrift: „Wir lassen sie sterben“: „Bei ersten Gesundheitsuntersuchungen hatten die Drucker sich über ständig trockene Schleimhäute in Mund, Nase und Rachen beklagt. Sonst war nichts weiter aufgefallen.

Durchhalten, keine Schwäche zeigen: „Als die Forscher sie jedoch einige Jahre später zur Nachuntersuchung baten, gab es eine böse Überraschung: 4 der insgesamt 60 untersuchten Tiefdrucker waren mittlerweile an Krebs gestorben“. Der nicht namentlich gezeichnete Artikel erschien am 7. März 1994 in der Ausgabe 10/1994 von „Der Spiegel“. Gedruckt wurde auch diese Ausgabe in der Tiefdruckerei des Axel-Springer-Konzerns in Ahrensburg bei Hamburg wie üblich mit Farben auf Toluolbasis. Eine Umweltschutzorganisation, meiner Erinnerung nach Greenpeace, ließ in den 80iger Jahren Exemplare von „Der Spiegel“ in einer einmaligen Aktion ohne Toluolfarben nachdrucken und verteilen. Die Leser*innen sollten sich nicht mit den Rückständen der toluolhaltigen Farben vergiften, war der Tenor der Aktion. Über die in der Druckerei Arbeitenden, die am meisten unter der Schadstoffbelastung litten, wurde bei der Aktion geschwiegen. Selten wurde mir deutlicher, wie falsch es ist, ökologische Forderungen ohne gleichzeitige Kritik an den Produktionsbedingungen und dem Dogma der Kapitalverwertung zu stellen.

Zurück zur Nachtschicht an der Tiefdruckrotationsmaschine. Gedruckt wird der jährliche IKEA-Katalog, in Millionenauflage. Heute ist der Druckbogen mit den Betten dran, die ganze Nacht durch: 32 Katalogseiten mit Betten, Matratzen, Decken, Bezügen. Aber anstatt im Bett zu liegen, achte ich auf den Passer beim Fortdruck. Die gesamte Maschinenbesetzung reagiert nachts um zwei fahriger als sonst, wenn beim Rollenwechsel die Papierbahn reißt, der Passer nicht mehr stimmt oder Dreck an einem Rakelmesser ist. Es arbeiten mehr Drucker an den Maschinen als der Verband der Druckindustrie möchte. Einer kann immer Pause machen. Tarifvertraglich geregelt, durch Streiks erkämpft: Der Manteltarifvertrag mit genauen Angaben zur Maschinenbesetzung. Gilt und galt aber nur in tarifgebundenen Betrieben. Die Druckerei Broschek, in der ich arbeitete, war für ihren hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und einen kämpferischen Betriebsrat bekannt. In der Belegschaft wurde auf die Einhaltung der tariflichen Vereinbarungen seitens der Geschäftsleitung und der Vorgensetzen geachtet. Zwei von der Maschinenbesetzung, ein Drucker und ein Helfer, waren im Pausenraum neben dem Drucksaal, wie die unwirtliche, rein funktional eingerichtete Fabrikhalle genannt wurde. Wenn sie nach 30 Minuten aus der Pause zurückkamen, konnten die nächsten gehen.

Noch weit entfernt war in den 80iger Jahren eine Besserung bei den gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen. Denn: der Lärm, die Toluoldämpfe all das musste nicht sein. Erst im Laufe der 1990er Jahre wurde Toluol als Lösungsmittel in den Farbrezepturen ersetzt. Maßgeblich hierfür waren Kampagnen von Seiten der damaligen Industriegewerkschaft Druck und Papier und ihrer Schwesterorganisationen in Europa. Tatsächlich ist die Druckindustrie seitdem, was Gesundheitsschutz und dann auch Umweltschutz betrifft, ziemlich weit vorne es hat viel Einsatz der Drucker und ihrer Gewerkschaften erfordert. Was erstmal blieb, war die Kontaminierung der Böden. Broschek war eine der ersten Industriedruckereien, die saniert wurden. Am 30. August 2019 erklärte der Hamburger Senat als Antwort auf die Schriftliche Kleine Anfrage eines Abgeordneten der CDU in der Drucksache 21/18127: Im Jahr 1992 wurden auf dem Gelände der Firma Broschek Bodenuntersuchungen durchgeführt, bei denen großflächig Bodenverunreinigungen mit dem eingesetzten Lösungsmittel Toluol festgestellt wurden. Danach erfolgten umfangreiche Sanierungsmaßnahmen, die im Jahr 1996 abgeschlossen wurden.

Neben dem Lösungsmittel Toluol waren auch der Lärm und der Schichtbetrieb an den großen Rotationsmaschinen gesundheitlich stark belastend. Gearbeitet wurde in drei Schichten rund um die Uhr. Im wöchentlichen Wechsel, Frühschicht, Spätschicht und die Nachtschicht: Um 22 Uhr fängt die Arbeit an, um sechs Uhr morgens ist Feierabend. Freitagabends um 22 Uhr zum Schichtbeginn an der Rotationsdruckmaschine anzutreten war surreal. Klar gibt es gesellschaftlich notwendige Arbeit, die rund um die Uhr erledigt werden muss. Drucken gehört nicht dazu. Die großen Rotationsmaschinen sind teure Investitionen damit sie sich schneller amortisieren, laufen sie rund um die Uhr. Nachtschicht, Gesundheitsgefährdung für den Profit. Die starke Vernutzung durch Arbeit hat ihren Preis. Nicht alle erreichen überhaupt das Rentenalter.

Für Frauen war Nachtarbeit im produktiven Gewerbe aus Arbeitsschutz bis 1992 verboten – für Männer nicht. Dementsprechend war der Drucksaal eine absolute Männerdomäne, selbst die weiblichen Betriebsrätinnen aus anderen Abteilungen trauten sich kaum in den Drucksaal. In der Verwaltung arbeiteten viele Frauen, auch in der Buchbinderei. Die Druckvorstufe, wo die Druckvorlagen und die Druckformen in einer kleineren Abteilung hergestellt wurden die schweren Kupferzylinder mit Stahlkern arbeitete auch in Dreischicht und war eine Männerdomäne. In der Buchbinderei in einer weiteren Fabrikhalle wurden die an der Druckmaschine bereits gefalzten Vorprodukte durch Heftung oder Klebebindung zu Zeitschriften oder Katalogen weiterverarbeitet. Hier arbeiteten viele Frauen. Im Zweischichtbetrieb, keine Nachtschicht. Die Arbeitsbereiche waren strikt voneinander getrennt, wer in der Buchbinderei arbeitete sollte nicht in den Drucksaal gehen und umgekehrt man hatte auch genug mit der eigenen Arbeit zu tun und in den Pausen blieb man unter sich im eigenen Pausenraum der Abteilung.

Durch das Arbeiten nur unter Männern, durch die gegenseitige Selbstbestätigung im Lebensmittelpunkt Drucksaal wurden patriarchale Muster reproduziert: Frauen sieht man Zuhause oder in der Freizeit. An der Längsseite des Drucksaals standen verbeulte Metallschränke. In diesen persönlichen Spinden für Essen und Trinken hingen meist Fotos von nackten Frauen. Broschek war eine Akzidenzdruckerei das heißt, sie war nicht an einen Verlag gebunden, sondern es wurden alle möglichen Aufträge angenommen interessant fand ich die Angebotskataloge der großen Supermarktkette Kmart aus den USA und die Unterschiede in der Präsentation für das dortige Publikum. Über einen großen Auftrag wurde im Drucksaal schon Tage vor dem Andruck begeistert gesprochen, Kollegen hatten schon Teile davon in der Druckvorstufe gesehen: Ein dickes Sonderheft vom Playboy mit Klebebindung, es hieß Best-Of oder so. Einige Kollegen wollten für sich ein Heft mitnehmen, die Anderen schwiegen dazu. Als an der Andruckmaschine die üblichen Proben hergestellt wurden, um zu prüfen, ob die Druckzylinder richtig graviert waren, der Passer stimmte, die verschiedenen Farben passend übereinander gedruckt wurden und die Farbdichte, die Farbtöne und die Brillanz okay waren, kamen wesentlich mehr Kollegen als sonst von den Fortdruckmaschinen mal zum Schauen in die Hallenecke, wo die Andruckmaschine stand. Die nackten Frauen auf den Abbildungen werden ausführlich bewertet.

Patriarchat und Rassismus prägen auch die Lohnarbeit und finden durch die Rangordnung an den Arbeitsplätzen scheinbar Bestätigung, werden im Bewusstsein reproduziert. Die qualifizierten Drucker am Maschinenpult sind meist weiß und einsprachig, die Hilfsarbeiter im Papierkeller und an den Maschinenauslagen, wo die gedruckten und gefalzten Produkte abgelegt werden, sind in der Regel schwarzhaarig und mehrsprachig. Wenn bei Stoppern Alle anpacken, um die Rotation wieder ins Laufen zu bringen, oder beim Wechsel der Druckzylinder, beim Wechsel der Rakelmesser immer haben der Maschinenführer und die anderen Drucker das Kommando. Die anspruchsvollsten Arbeiten, etwa die Farbdichtemessung mit dem Densitometer, um die Volltondichte, die optische Dichte der Farben zu kontrollieren, erledigen Maschinenführer und Drucker. Eine prägende Hierarchisierung. Typisch für die traditionell verstandene Klasse aus weißen, männlichen Facharbeitern. Frauen und Migrant*innen waren in der klassischen Vorstellung von der Arbeiterklasse unsichtbar, der Arbeiterstolz wurde von Männlichkeit und Stärke geprägt, das körperliche Leiden an den Arbeitsbedingungen ignoriert.

Während der Lehre zum Drucker Tiefdruck/Offset liefen der andere Auszubildende und ich an den Maschinen mit, wir sollten in der laufenden Produktion lernen. Eine Lehrwerkstatt gab es 1984 bei Broschek nicht mehr wir versuchten uns möglichst viel abzugucken. Einen Maschinenleitstand selbst zu dirigieren, habe ich erst zwei Tage vor meiner praktischen Abschlussprüfung länger üben können. Die große, dreistöckige Rotation selbst hochzufahren war eine tolle Erfahrung. Aber in der laufenden Produktion war meine Tätigkeit ich in der Regel auf das Erledigen kleinerer Arbeiten auf Zuruf beschränkt. Und es gab Zuarbeiten, welche die Maschinenführer an uns Auszubildende delegierten: Den Ölstand der Motorenblöcke der Druckmaschinenmotoren im Papierkeller zu kontrollieren, oder neue Rakelmesser in die Halterungen zu spannen. Die Rakelmesser nutzten sich ab, spätestens wenn ein Druckzylinder sich eine halbe Million Mal gedreht hatte, war die Schneide runter. Sie waren unverzichtbar, denn an ihnen wurde die überschüssige Farbe abgestreift, wenn nachdem ein Druckzylinder durch die Farbwanne gelaufen war: Nur in den napfförmigen Vertiefungen, in den mikroskopisch klein eingravierten Löchern in der Kupferbeschichtung der Druckzylinder sollte die Farbe verbleiben, um auf die Papierbahn gedruckt zu werden. Durch die unterschiedliche Tiefe der Löcher wurde unterschiedlich viel Farbe auf das Papier gedruckt, so entstand die feine Farbbrillanz, für die der Illustrationstiefdruck bekannt ist. Die Rakelmesser waren dünne Stahlbänder, so lang wie die Druckzylinder breit waren etwa 2, 64 Meter, wenn ich mich richtig erinnere mit einer superscharfen feinen Schneide: dem Rakel, das sich an den Druckzylinder andrückte. Beim Einsetzen der Rakelmesser in die Halterungen brauchte man eigentlich Handschuhe, um sich nicht zu schneiden aber dann hätte man nicht genug Feingefühl in den Fingern, um das Blech millimetergenau und ohne Wellen zu justieren. Die Narben an den Händen von den Schnitten, wenn mal was schiefging, sind mir geblieben. Da wir Auszubildenden nur zwei Pausen hatten, entzog ich mich dem Lärm, den Tolouldämpfen und der Monotonie an der Rotation manchmal in eine Toilette. Die meisten Kollegen deckten es hilfsbereit, wenn wir Azubis mal raus wollten. Wenn ich dort ein paar Minuten saß, spürte ich, wie ich mich in meinem eigenen Körper ins Innerste verkrochen hatte. Die äußere Hülle meines Körpers war mir fremd, schmutzig, Farb- und Lösemittelrückstände bis in die Haarspitzen. Die Gemeinschaftsduschen waren zum Feierabend der Ort des Auflebens.

Diese Erfahrung von mir liegt über dreißig Jahre zurück, meine erste Erfahrung mit Lohnarbeit. Die Tiefdruckerei Broschek, in der ich in den 80igern arbeitete, hatte einen links dominierten Betriebsrat dessen damalige stellvertretende Vorsitzende der Zeitschrift Konkret ein Interview zum Thema „Sexismus im Betrieb“ gegeben hatte, woraufhin sie fristlos gekündigt wurde. Es waren vor allem die Chefs mit Schlips in der Verwaltung, deren sexistisches Verhalten, deren Sprüche sie im Interview prägnant kritisiert hatte. Die engagierte Betriebsrätin gewann aber die Prozesse auf Wiedereinstellung. Mehrere Betriebsräte auch sie – waren erst wieder in die Industriegewerkschaft (IG) Druck und Papier aufgenommen worden, nachdem sie infolge der „Unvereinbarkeitsbeschlüsse der DGB-Gewerkschaften als Mitglieder des Kommunistischen Bundes (KB) in den 1970iger Jahren ausgeschlossen worden waren. In der IG Druck und Papier hieß die entsprechende Maßgabe zwar „Abgrenzungsbeschluss”, aber es ging um das gleiche: Den Ausschluss gewerkschaftsoppositioneller radikaler Linker, vor allem von betrieblich aktiven Mitgliedern von „K-Gruppen – kommunistischen Vereinigungen links von der DKP.

Bei Warnstreiks in den Tarifrunden war Broschek immer vorneweg dabei: Mehr Lohn, bessere Arbeitsbedingungen dafür stand eine Mehrheit der Beschäftigten ein. Wenn es nötig war, was alle zwei, drei Jahre vorkam, ließ sich die Belegschaft in Tarifrunden innerhalb weniger Stunden zum Warnstreik vor das Fabriktor am Bargkoppelweg 61 rufen, um einer Gewerkschaftsforderung Nachdruck zu verleihen. Als Auszubildender und danach habe ich im Drucksaal viel kollegiale Unterstützung erleben können. Trotzdem war das Klassenbewusstsein durchwachsen. Klar für mehr Lohn, für einen starken Betriebsrat. Aber schon beim Einsatz für eine kämpferische Gewerkschaft war den meisten das eigene kleine Glück wichtiger. Es gab Konkurrenz, es gab Sexismus, Rassismus. Ein Kollege schwärmte davon, nach Südafrika auswandern zu wollen, das damals noch ein Apartheidsstaat war. Und der eigene Hausbau war wichtiger als Politik. Sicher hing dass auch mit Enttäuschungen zusammen, mit Resignation. Aber das Bewusstsein, sich als Klasse formieren zu wollen, politisch kämpfen zu wollen, über den eigenen Tellerrand hinaus dass war eher randständig. 

Die Druckindustrie hatte in den 80igern schon die technologische Umwälzung durch elektronische Daten- und Textverarbeitung und den Einsatz von Mikroprozessoren hinter sich der Bleisatz etwa war Geschichte. Während die Streiks 1973 und 1976 noch vorrangig Lohnstreiks gewesen waren, versuchte die IG Druck und Papier danach, die durch Digitalisierung neu mögliche Rationalisierung zu entschleunigen und sozial zu gestalten. Auch der Arbeitsschutz spielte schon eine Rolle. Bei den Streiks 1978 ging es um den Rationalisierungsschutz für Setzer. So gab es einen von beiden Seiten hart geführten Arbeitskampf in der Druckindustrie: Die im DGB damals Linksaußen stehende IG Druck und Papier forderte einen Ausgleich für Rationalisierungen, sichere Arbeitsplätze und menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Der Streik endete mit der Vereinbarung des als RTS-Vertrag in die Gewerkschaftsgeschichte eingegangenen Vereinbarung: Den Tarifvertrag über die Einführung und Anwendung rechnergestützter Textsysteme. Auch wenn die Berufsgruppe der Schriftsetzer trotzdem verschwand: Der Arbeitsplatzabbau konnte zum einen verlangsamt werden, zum anderen wurden viele Setzer zu Angestellten in den Redaktionen. Beim Streik 1984 ging es um die 35-Stundenwoche, nach 12 langen und harten Wochen Streik konnte deren stufenweise Einführung bis im Jahr 1996 im Tarifvertrag erreicht werden allerdings war der Unternehmerverband der Druckindustrie nur um den Preis der Zustimmung der IG Druck und Papier zu weitgehenden Flexibilisierungsmöglichkeiten zu Lasten der Beschäftigten dazu bereit. Die Zustimmung zur Flexibilisierung hat bis heute negative Folgen für die Beschäftigten der Druckindustrie.

Nicht nur der Beruf des Setzers ist verschwunden aus sieben Berufen der Druckvorstufe, von der Reprofotografie über Elektronische Bildbearbeitung bis hin zur Tiefdruckretusche, ist mittlerweile ein einziger geworden: Die Mediengestalterin print/digital. 2018 arbeiteten nur noch 131.700 Menschen in der Druckindustrie in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen. Die Zahl der Beschäftigten ist seit 1975 rückläufig. Gegenüber dem Stand von 1980 (223.864) ist die Zahl der Beschäftigten um rund 41 Prozent gesunken (Zahlen des Bundesverbandes Druck und Medien). Der Umsatz ist dabei bis 2000 stark angestiegen und stagniert seitdem bei etwa 20 Milliarden Euro. Seit 2001 nahm die Zahl der Druck-Betriebe innerhalb von etwas mehr als 10 Jahren bundesweit um 30 Prozent ab, ebenfalls die Zahl der Beschäftigten”, so Martin Dieckmann, der frühere Leiter des Fachbereichs Medien in der Gewerkschaft ver.di in Hamburg und Nord einen guten Überblick erworben hat: Besonders hart traf es die Betriebe mit mehr als 500 Beschäftigten, mit einem Niedergang um 60 Prozent und der Beschäftigten dort ebenfalls um 60 Prozent, teils durch Schließungen, teils durch reines Schrumpfen” Hier wurde am stärksten rationalisiert: „Bei den Zahlen spielt auch die dramatische Schrumpfung des Personals durch neue Maschinengenerationen eine Rolle: Seit Anfang der 200er Jahre kamen etwa im Zeitungs-Druck und auch in der Weiterverarbeitung auf den Markt, die teilweise zur Halbierung nicht nur des Drucksaals sondern auch der Weiterverarbeitung führten”, so Martin Dieckmann.

Insbesondere im Tiefdruck gab und gibt es europaweit große Überkapazitäten. Seit 2005 hat sich die Konkurrenz verschärft, infolge der kapitalintensiven Konzentration auf zwei Konzerne: 2002 weitete sich die süddeutsche Schlott-Firmengruppe zum Konzern aus, gab Aktien aus und kaufte massiv zu; 2002 auch Broschek. Dagegen formierte sich mit Prinovis die EU-weit größte Zusammenschluss von Tiefdruckereien der Konzerne Springer, Bertelsmann und Gruner + Jahr. Überkapazitäten und der folgende „brutale Preiskampf“, wie Martin Dieckmann es auf den Punkt bringt, führten zu einer Serie von Betriebsschließungen, darunter Prinovis Darmstadt, Bauer-Druck in Köln und 2011 zur Insolvenz der Schlott AG. Während sich für fünf süddeutsche Schlott-Betriebe neue Besitzer fanden, wurde die Hamburger Druckerei Broschek nicht verkauft, sondern geschlossen. Seriöse Kaufangebote gab es nicht, stattdessen hatten Betriebsrat, Gewerkschaft und Stadt einige Mühe, ein windiges Angebot eines branchenweit bekannten Abenteurers abzuwehren.

In der Nacht vom 12. auf den 13. April 2011 wurden die Druckmaschinen bei Broschek eine nach der anderen ein letztes Mal runtergefahren. Stille im Drucksaal. Im Dezember, einen Tag vor Weihnachten, verließ der Betriebsratsvorsitzende Kai Schliemann als Letzter den Betrieb. Broschek war Geschichte. Heute gibt es nur noch wenige Tiefdruckereien, selbst der Ikea-Katalog erscheint nicht mehr gedruckt.

Die Schrumpfung und Konzentration im Tiefdruck gingen weiter: Am 2. Mai 2014 verließ die letzte Schicht die seitdem geschlossene Tiefdruckerei von Prinovis in Itzehoe. Anders als bei Broschek konnte die Belegschaft in Itzehoe mit ihren in der Stadt breit unterstützten Aktionen immerhin einen sehr guten Sozialplan mit hohen Abfindungen und einer Transfergesellschaft erreichen. Denn die Schließung von Prinovis Itzehoe wurde anderthalb Jahre zuvor angekündigt und der Bertelsmann-Konzern kam am Ende für die Kosten des gesamten Sozialplans auf. Bei Broschek war es schwieriger. Hier ließ die Insolvenz der gesamten Schlott AG keinen Spielraum für Verhandlungen über einen guten Sozialplan zu: Es war kein Geld mehr für Abfindungen vorhanden, geschweige denn für eine zusätzliche Transfergesellschaft. Die modernen Tiefdruckaggregate bei Broschek wurden an andere Druckereien verkauft. Das Gelände von Broschek liegt heute brach, die Gebäude wurden vorletztes Jahr abgerissen. Gaston Kirsche

*Die Studie »Toluol in Tiefdruckereien« war vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften beauftragt und u.a. vom Bundesverband Druck und Medien sowie ver.di unterstützt worden.

Der Niedergang des Tiefdrucks

Komplett geschlossen wurden

-1997: Burda, Darmstadt (600 Beschäftigte)

-2008: Prinovis in Darmstadt (fast 300)

-2008: Metz, Aachen (40)

-2010: Bauer Druck, Köln (knapp 400)

-2011: Broschek in Hamburg (200)

-2011: Schlott in Freudenstadt (300)

-2013: Badenia in Karlsruhe (100)

-2014: Prinovis in Itzehoe (750 plus 250*)

-2015: Bruckmann, Oberschleißheim (130)

-2021: Prinovis in Nürnberg (zuletzt 460)

*Werkvertrags- und Leiharbeitskräfte

Innerhalb von 24 Jahren haben alleine durch Betriebsschließungen über 3.500 Menschen ihre Arbeit im Tiefdruck verloren. Insgesamt wurden viel mehr Leute entlassen: Viele gingen vorzeitig in Rente, schieden per Freiwilligenprogramm aus, bei der Fluktuation im Betrieb freiwerdende Stellen wurden nicht wieder besetzt. Auch in anderen europäischen Ländern sind komplette Tiefdruckereien geschlossen worden. Quelle: ver.di/Fachbereich 8 Auf den Fotos sind Proteste gegen die Schließung von Prinovis Itzehoe 2013 zu sehen. Nachweis: verdi/Fachbereich 8

Interview mit Olaf Berg über seine dreijährige Ausbildung in der Druckerei der Axel Springer Verlag AG in Ahrensburg.

In den 80iger Jahren wurde in der Druckindustrie stark rationalisiert und Arbeit verdichtet. Durch Flexibilisierung und Auslagerung von Betriebsteilen wurden ehemals kämpferische Belegschaften verkleinert, Abteilungen gegeneinander Konkurrenz gesetzt. So wurden die Lohnarbeitenden der Branche, welche 1984 erfolgreich als erste die Arbeitszeitverkürzung zur 35-Stundenwoche erstreikt hatten nachhaltig verunsichert. (Gaston Kirsche)

Du hast 1987 in der Druckerei von Springer in Ahrensburg eine Lehre als Druckvorlagenhersteller begonnen?

Ja, als ich 1987 bei Springer angefangen habe, war der große Druckerstreik von 1984 schon Geschichte. Aber es gab noch eine grundsätzliche Kampf- und Streikbereitschaft und das Bewusstsein, etwas durchsetzen zu können. Es gab aber keine systematische Ansprache von uns neuen Azubis auf Mitgliedschaft in der Gewerkschaft. Ich musste da von mir aus aktiv werden und geriet auf das Treffen der IG Druck & Papier Jugend, auf dem diese sich gerade auflösen wollte, weil sich die Teilnehmenden alle als zu alt empfanden. Den Ortsverein in Ahrensburg, fast identisch mit der Betriebsgruppe von Springer in Ahrensburg, habe ich als ziemlich verschnarchte Versammlung älterer Männer empfunden. Gewerkschaftsarbeit war da weitestgehend kooptiertes Mitregulieren von Kleinigkeiten im Betriebsablauf und Umsetzen von Ansagen der Gewerkschaftsleitung.

Aber die Auswirkungen des 12-wöchigen Erzwingungsstreiks von 1984 waren für dich spürbar?

Ja, auf mehreren Ebenen war der zu spüren. Ganz deutlich durch den erreichten Einstieg in die 35- Stundenwoche, der während meiner Lehre stattfand. Die 37-Stundenwoche wurde jedenfalls in der Zeit meiner Ausbildung in Stufen eingeführt. Auch wenn wir die 35-Stundenwoche da noch nicht erreicht haben, war die halbe Stunde weniger arbeiten am Tag für mich sehr deutlich zu spüren. Es war nicht nur die halbe Stunde mehr Zeit, ich war auch einfach weniger kaputt, um mit der Freizeit sinnvolles anzufangen.Die Forderung nach der 35-Stundenwoche war in der Gewerkschaft nicht unumstritten. Als gemeinsamer Nenner hat sie sich letztlich durchgesetzt, weil diejenigen, die lieber mehr Lohn als mehr Zeit haben wollten, darin das Potential für mehr Überstunden mit entsprechendem Zuschlag entdeckten. Aber Jugendarbeitslosigkeit war damals ein großes Thema. Die offiziellen Argumente waren selbstverständlich gerechtere Verteilung der vorhandenen Arbeit auf alle Arbeitenden und mehr Lebensqualität. Aus Klassenperspektive hätte es besser gerechtere Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit heißen müssen.

War noch etwas von der Erfahrung von 1984 zu spüren, durch einen harten Streik eine Arbeitszeitverkürzung erzwungen zu haben?

Es gab eine Grundstimmung im Betrieb, gemeinsam etwas erreichen zu können. Ich würde das nicht als Klassenbewusstsein überschätzen. Es war eher die Erfahrung, über die Gewerkschaft Lohnerhöhungen und Arbeitsverbesserungen durchzusetzen. Dafür gab es eingespielte Rituale der Eskalationsstufen, bei denen die große Mehrheit der Arbeitenden mitmachte. Dass lernte ich als drei Stufen kennen:Zuerst spontane Betriebsversammlungen, wenn die Tarifrunde angelaufen war und in den Abteilungen die Ansage die Runde machte, sich um 13 Uhr in der Kantine zu versammeln, um sich vom Betriebsrat über den Stand der Verhandlungen informieren zu lassen.Zweite Stufe waren Warnstreiks von ein paar Stunden, zu denen während der laufenden Tarifverhandlungen aufgerufen wurde. Irgendwann wurde es dann ernst  die dritte Stufe  und es gab ein oder zwei Wochen Streik.Den Streik habe ich nur sehr bedingt mitbekommen, weil der in meinen Berufsschulblock fiel und es die Absprache gab, das es keinen Sinn macht, den Unterricht zu bestreiken. Auch die Azubis im Betrieb sollten weiter zur Ausbildung gehen. Sie durften nur in der Lehrwerkstatt arbeiten und konnten so auch die Arbeitskraft der Ausbilder binden, damit die nicht in der Produktion eingesetzt werden konnten. Das klappte soweit ich das mitbekommen habe, ganz gut, aber die Gewerkschaft insgesamt war da nicht sehr kampflustig und hat sich recht schnell geeinigt.

Wie reagierte die Kapitalseite?

Die Unternehmer reagierten auf die durchgesetzten Verbesserungen der Arbeitsbedingungen mit Tarifflucht und Auslagerung. Als ich bei Springer anfing, hatte Gruner & Jahr mit seiner Druckerei in Itzehoe gerade den Austritt aus dem Tarif erklärt und ein flexibilisiertes 4-Schicht-Modell eingeführt, mit dem die Maschinen 24/7 liefen, ohne angemessene Nacht- und Wochenend-Zuschläge zu zahlen. Zusammen mit technologischem Fortschritt bei verbesserten Offset- und Tiefdruckverfahren wurde dadurch die Produktionskapazität erhöht und Gruner & Jahr zog die einige Jahre zuvor erworbene Option, den Druckauftrag des „Spiegel“ an sich zu ziehen. Darum wurde mir zur Einstellung als erstes gesagt: Wenn ihr ausgelernt habt, geht der „Spiegel“ an Gruner & Jahr und ihr Azubis werdet nicht übernommen. So kam es dann auch. Wobei der „Spiegel“-Auftrag nur ein Teil des Grundes war, man kann sogar sagen, nur ein Vorwand.

Springer hatte genug Arbeit?

Ja, in den drei Jahren meiner Ausbildung hat Springer durchaus neue Aufträge akquiriert. Aber in den drei Jahren wurden ganz viele Arbeiten in der Druckvorstufe, wo ich ausgebildet wurde, rationalisiert Stichwort OT-Verfahren und vor allem an Kleinstbetriebe, die oft von ehemaligen Mitarbeiter*innen geführt wurden, ausgelagert. Die aktuellen Teile, die sehr genau in die redaktionellen Abläufe eingebunden produziert werden mussten, blieben im Haus, alles andere, wie etwa die in der Produktion aufwändigen Werbeanzeigen, wurden als Werkaufträge extern vergeben.

Rationalisierung und Auslagerung um den Profit zu erhöhen?

Als ich ausgelernt hatte, wurde rund ein Drittel der Belegschaft entlassen beziehungsweise mit Abfindungen und Vorruhestandsregelungen aus dem Arbeitsleben gedrängt. Der Betriebsrat rechnete damals vor, dass alle gehalten werden könnten, wenn die externen Aufträge wieder ins Haus geholt werden, aber die waren halt billiger, weil dort keine Tariflöhne galten und die Betriebe oft auf einer Abrufbasis arbeiteten. Einige meiner Mit-Azubis waren nach der Ausbildung bei solchen Betrieben auf der Liste. Im Betrieb stand das Gerät, wenn es einen Auftrag gab, wurden sie angerufen und auf Stundenbasis bezahlt.

Und die Belegschaft hat sich dagegen nicht offen gewehrt?

Der Widerstand im Betrieb gegen die Entlassungen war ziemlich handzahm. Wie das mit dem Betriebsrat rechtlich so ist. Das Unternehmen entscheidet, wie viele gehen müssen, der Betriebsrat darf mitreden, nach welchen sozialen Kriterien ausgewählt wird, wer gehen muss. Gelingt es ihm, die Älteren mit Abfindungen und Vorruhestandsregelungen zufrieden zu stellen und den jüngeren eine Weiterbeschäftigungsperspektive zu bieten, ist der Betriebsrat zufrieden. Auf eine echte Konfrontation wollten sie sich nicht einlassen und ich vermute, die Belegschaft war dafür auch nicht geschlossen genug. Entsprechend angespannt waren die freigestellten Betriebsräte und meine Auseinandersetzung mit dem Personalchef über meine Übernahme musste ich vor Ort nahezu alleine austragen.

Hattest du einen Rechtsanspruch auf Übernahme?

Als Mitglied der Auszubildenden- und Jugendvertretung, der an Betriebsratssitzungen teilgenommen hat, hätte der Betrieb mich eigentlich auf mein Verlangen übernehmen müssen. Aber der für mich zuständige Freigestellte weigerte sich offen, an dem Gespräch als Zeuge teilzunehmen, weil er nicht ins offene Messer laufen wollte. Der für Drucker zuständige Freigestellte ging dann doch noch mit. Unter den Bedingungen, keinen Rückhalt zu haben, habe ich mich dann letztlich auch mit Geld abfinden lassen aber dabei immerhin den Preis von zuerstangebotenen 2.500 auf 10.000 DM hochgetrieben. Insgesamt herrschte beim Springer Verlag, nachdem der Gründerchef Axel Springer gestorben war und das ganze zur Aktiengesellschaft geworden war, bei vielen die Vorstellung vom guten alten Springer, der familiär-patriarchal für das Wohl seiner Arbeiter gesorgt habe. Der neue neoliberale Ton im Betrieb wurde dem Wandel zur Aktiengesellschaft zugeschrieben: Die buchhalterische Aufteilung in Crop-Center, also jeweils für sich profitabel arbeiten müssende Abteilungen, gerade auch in Konkurrenz zu anderen Abteilungen gerechnet, setzte jede Abteilung unter Druck, für sich Gewinn abzuwerfen, sonst wurde ausgelagert, wie ich es schon geschildert habe.

Keine guten Aussichten für Gegenwehr

Klassenbewusstsein gab es nur noch vereinzelt. Das hing sehr von der Abteilung und dort auch noch der Schicht ab. Ich erinnere mich, dass es eine Schicht in der Montage gab, der Abteilung, wo Text und Bild zur Vorlage für den fertigen Druckbogen zusammengefügt werden, wo es Mitglieder der DKP, der Deutschen Kommunistischen Partei, gab, die mit mir als Lehrling politische Gespräche anfingen. Und es gab eine Schicht in der Elektronischen Bildverarbeitung, die kämpferisch war und mich bei meinem Kampf um die Übernahme unterstützte. In der Elektronischen Bildverarbeitung war es vor allem eine Genossin, die auch Betriebsrätin war, aber nicht freigestellt, die mir mal erzählte, dass sie früher als sie bei Broschek Druck gearbeitet hat, Mitglied im KB, dem Kommunistischen Bund war, deswegen sie zuerst aus der Gewerkschaft ausgeschlossen und dann vom Betrieb entlassen worden war. Aber dann konnte sie bei Springer anfangen zu Arbeiten. Im KB war sie zu dem Zeitpunkt aber nicht mehr. Jedenfalls war das eine Schicht wo alle dahinter standen, dass alle Azubis zumindest für drei Monate übernommen werden sollten, um einen ordentlichen Start ins Berufsleben zu haben und die sich trotz Produktionsdruck nicht davon abbringen ließen, den Azubis was zu zeigen und beizubringen.

Gedanken zu Klasse und Kampf

Die Klassenverhältnisse sind nicht verschwunden, sondern entrechteter und flexibilisierter worden. Dass es kaum kollektiven Klassenkampf von unten gibt ist kein Grund, den antagonistischen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zu übersehen.

Sicher habe ich einiges vergessen von den frühen Einführungen in die Kritik der politischen Ökonomie, von den Schulungstexten „Lohn, Preis, Profit“ und „Lohnarbeit und Kapital von Karl Marx, die wir in den Jugendgruppen des Kommunistischen Bundes gemeinsam gelesen haben, aber die eigene Erfahrung nicht. In der Grafischen Jugend haben wir während meiner Lehre und später der Arbeit als ausgelernter Drucker über ein Verbot der Nachtarbeit in der Druckindustrie gesprochen. Die Studierenden in meiner WG haben die Probleme durch die Dreischichtarbeit nur ansatzweise verstanden. Wenn sie lange frühstücken wollten, war an Schlaf nicht zu denken. Für sie waren meine Arbeitsbedingungen einfach außerhalb ihrer Vorstellungswelt. Dabei kellnerten oder jobbten sie selbst auch.

Meine Lehre und Arbeit als Drucker war das eigentümliche Gegenstück zu meinen späteren Arbeitserfahrungen in linken Verlagen und Zeitungen. Während in der Druckerei darauf geachtet wurde, die Arbeitskraft möglichst teuer zu verkaufen und politische Fragen darüber hinaus kaum eine Rolle spielten, so ging es in den alternativen Betrieben nur um politische Fragen, ohne den Verkauf der Arbeitskraft zu thematisieren. Eine Hinterfragung der durch die Besitzverhältnisse determinierten Entscheidungsstrukturen habe ich bisher nicht erlebt. Meine Lohnarbeit begann in einer Phase des Rollbacks in fast allen Bereichen, nachdem es in den 60iger Jahren in der Hochphase der fordistischen Massenproduktion gerade an den Fließbändern eine Phase der Revolte und der harten, auch wilden Streiks quer durch Westeuropa gab. Und parallel Aufbrüche im Gender, im universitären, (sub-) kulturellen Bereich und in der Reproduktion. Die Lohnquote am gesellschaftlichen Eigentum stieg, es gab eine Umverteilung von oben nach unten. Auch deswegen forcierten die Kapitalbesitzenden den durch die Entwicklung der Mikroprozessoren technisch plötzlich möglichen Umbau weg von der fordistischen Großserienproduktion für Standardmilieus hin zur postfordistischen Kleinserienproduktion für sich auch dadurch im Konsum ausdifferenzierende Submilieus: Weg vom reinen Taylorismus, hin zur Kombination von Fließband und Gruppenarbeit. Weg vom tarifvertraglich regulierten Normalarbeitsverhältnis hin zur Spannbreite vom prekären Teilzeitjob bis zur ausgebauten privilegierten Innovationsmittelschicht. Die Klassenverhältnisse sind dabei nicht verschwunden, sondern entrechtet und flexibilisiert worden. Weg vom nationalen Markt hin zum globalisierten kapitalistischen Weltsystem, mit seinen immer schon existierenden, mittlerweile aber stark ausgebauten Produktions- und Wertschöpfungsketten über Grenzen hinweg. Klassenkampf macht so nationalstaatsbezogen keinen Sinn mehr, sowohl das Zusammenfließen der Klassenkerne als auch der Kämpfe hat immer auch eine transnationale Ebene. Durch die technologische Entwicklung wurde eine Internationalisierung von Produktionsabläufen möglich, mit der von den Besitzenden der Produktionsanlagen eine extreme Zunahme von entgrenzter Konkurrenz durchgesetzt wurde: Mit der zunehmenden weltweiten Standortkonkurrenz zwischen den nationalen Wettbewerbsstaaten wurden funktionierende nationale Absatzmärkte und deren Stabilisierung durch garantierte Lohnquoten und Sozialstaat überflüssig. Austeritätspolitik und Deregulierung ermöglichten auch in den kapitalistischen Metropolen den Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen aus der gesellschaftlichen Teilhabe, wie sie bis dahin nur in den Staaten der Peripherie im Süden üblich war. Durch die Entgarantierung traditioneller Lohnarbeitsverhältnisse in Vollzeit brach auch die Rolle des Familienernährers auf. So kam es nicht nur zur materiellen Verunsicherung der männlichen weißen Facharbeiter, sondern auch zu neuen flexiblen Chancen für Frauen, Eingewanderte, Minderheiten, niedrig wie höher Qualifizierte im Bereich der Lohnarbeit.

Dass diese Chancen genutzt werden, ist nicht die Ursache der Abwertung der männlichen weißen Arbeiter. Ebenso wenig wie ein nebulöser „Neoliberalismus“: Ein Begriff wie ein Feindbild, der nicht politökonomisch hergeleitet wird, sondern mit Ressentiments gegen „die da oben gegen die „ein Prozent, die „Eliten einhergeht. Und von einer ideologisch motivierten Trennung von produktivem Industrie- versus spekulativem Finanzkapital ausgeht, die es in der grausamen politökonomischen Realität nicht gibt. Charakteristisch sind die fließenden Übergänge zwischen Industrie- und Finanzkapital. Antikapitalismus braucht eine radikale Kritik der politischen Ökonomie, die auf der Ablehnung der Lohnarbeit und des stummen Zwanges in sie basiert. Es gilt, Verteilungskämpfe innerhalb des Kapitalismus, darum, sich möglichst teuer zu verkaufen, nicht als den ganzen Klassenkampf zu verstehen. Es ist bestenfalls der Halbe und wird erst dann eine runde Sache, wenn in die Verteilungskämpfe das Aufbegehren gegen die Lohnarbeit, gegen Ausbeutung, Entfremdung und Zwang eingeschrieben ist. Sonst sind es legitime, notwendige, aber nicht an den notwendigen Bruch mit dem Kapitalverhältnis anschlussfähige Verteilungs-, gegenwärtig meist Abwehrkämpfe. Klassenkampf ist nicht denkbar ohne die Absicht, die Klassenverhältnisse positiv in einer ausbeutungsfreien Gesellschaft aufzuheben. Dies im Bewusstsein darum, dass die Arbeiterklasse in Deutschland im Nationalsozialismus negativ in die Volksgemeinschaft der Täter*innen der Shoah überführt wurde. Die Arbeiterklasse für sich oder Fragmente von ihr kann und können sich nach dieser Geschichte nur als sozialer Prozess neu konstituieren, mit einer transnationalen, antideutschen und antiherrschaftlichen Ausrichtung. Die Vorstellung einer statischen Klasse, wie sie im Arbeiterbewegungsmarxismus verstanden wird, ist obsolet. Traditionelle Linke behaupten gerne die Existenz „der“ Klasse für sich, um etwas zum vertreten zu haben, eine Legitimation für ihre Stellvertreterpolitik. Eine Arbeiterklasse für sich, als politisches Subjekt der Befreiung, als Selbstermächtigung, ist aber nur punktuell als verdichtetes Kräfteverhältnis möglich, nicht als quasi institutionalisierte soziale Einheit. Arbeiterklasse als politisches Subjekt hat und ist keine unveränderliche Essenz, sondern kann im Moment des Ausbruchs, des widerständigen sich Findens zusammenkommen, eine kritische Masse werden. Hilfreich können dafür Organisationen sein, Träger*innen von Flaschenpost voller Erfahrungen aus Kämpfen und der marxistischen Kritik der politischen Ökonomie – antagonistischer Theorie.

Klassenkampf ist nicht mit einer kapitalismusimmanenten Zielvorstellung denkbar. Durch die Perspektive des Bruchs mit der Kapitalverwertung an sich, durch sein revolutionäres Moment ist Klassenkampf an den Bruch mit dem umweltzerstörerischen Wachstumsfetischismus der Kapitalverwertung anschlussfähig. Der Kampf gegen die Lohnarbeit kann mit dem Kampf gegen die Klimazerstörung zusammengehen, wenn beides radikal gedacht wird. Sonst nicht. Gegen die Vernutzung der Natur, gegen die Vernutzung der Lohnarbeitenden. Das Eine macht ohne dass Andere auch keinen Sinn.

Wichtig ist dabei, Befreiung von der Lohnarbeit und der Naturzerstörung von unten heranzugehen. Nicht über die Apparate von Wahlparteien, welche durch die Parlamentsarbeit dominiert werden, sondern über soziale Bewegungen von unten, über radikale, organisierte Kerne in ihnen. Gaston Kirsche

Schatzkiste Kopien

 

Berlin, Ecke Schönhauser (Gerhard Klein), Blaubarts achte Frau (Ernst Lubitsch), Blaumilchkanal, Der (Ephraim Kishon), Blauvogel (Ulrich Weiß), Blondinen bevorzugt (Howard Hawks), Buntkarierten, Die (Kurt Maetzig), Cartouche, der Bandit (Philippe de Broca), Fahr zur Hölle, Liebling (Dick Richards),  Fanfan, der Husar (Christan Jacques), Frau in Rot, Die (Gene Wilder), Fünf Patronenhülsen (Frank Beyer), Heimat, süsse Heimat (Jiri Menzel), Herrenpartie (Wolfgang Staudte), Hiroshima, mon amour (Alain Resnais), His girl friday (D.F.) (Howard Hawks), Ich war 19 (Konrad Wolf), In a lonely place (OmU) (Nicolas Ray), Komm und siehe OmU (Elem Klimov),  Ladykillers (D.F ) (Alexander MacKendrick), Leuchte mein Stern, leuchte (Aleksandr Mitta), Mama ich lebe (Konrad Wolf), Mörder sind unter uns, Die (Wolfgang Staudte), Player, The (D.F.)(Robert Altman), Prämie, Die (Sergej Mikaelian), Rat der Götter, Der (Kurt Maetzig),  Robby Kalle Paul (Dani Levy), Rotation (Wolfgang Staudte), Russen kommen, Die (Heiner Carow), russische Wunder, Das (Annelie und Andrew Thorndicke), Schatten und Nebel (Woody Allen),  Sonnensucher (Konrad Wolf),  Starbuck Holger Meins (Gert Conradt), Tampopo (Juzo Itami) Taschengeld (Francois Truffaut), Thomas Münzer (Martin Hellberg), Tote von Beverly Hills, Die (Michael Pfleghar),  Unbesiegbaren, Die (Artur Pohl), Untertan, Der (Wolfgang Staudte), Wenn Katelbach kommt (Roman Polanski), Working girls (Lizzi Borden). (Wie das so ist mit Schatzkisten, die verschwunden sind.  Festgestellt im März 2025) „Schatzkiste Kopien“ weiterlesen