In Erinnerung an Renate Holland Moritz (II) Interview mit Andreas Kurtz

Renate Holland-Moritz (R.H.M.) schreibt seit 50 Jahren in der Satire-Zeitschrift Eulenspiegel ihre Filmkritiken. Sie waren zu DDR-Zeiten Kult: Die Kinoeule. Interview mit Andreas Kurtz (A.K.)

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Zur Person: Renate Holland-Moritz (R.H.M.) wurde in Berlin-Wedding geboren, wuchs aber in Südthüringen auf. Nach nicht abgeschlossenem Oberschulbesuch begann sie als Volontärin und Assistentin bei verschiedenen Berliner Tageszeitungen. Seit 1956 ist sie freiberufliche Mitarbeiterin der Satirezeitschrift „Eulenspiegel“. Seit 1960 veröffentlicht sie dort unter dem Titel „Kino-Eule“ Filmkritiken. Sie hat eine Vielzahl satirischer Erzählungen im „Eulenspiegel“ und in Büchern veröffentlicht, von denen zwei vom DDR-Fernsehen und der Defa auch verfilmt wurden.

(A.K.): Vor fünfzig Jahren erschien im Satiremagazin Eulenspiegel zum ersten Mal die Autorenzeile Renate Holland-Moritz. Wie kam es dazu? (R.H.M.): Die Phase des Ausprobierens hatte ich damals mit einundzwanzig schon hinter mir. Das war wie Heimkehr. Das war genau der Ort, an den ich wollte, ohne begründete Hoffnung, dass die Eulen-Leute auch mich wollten. Ich hätte denen von mir aus nichts angeboten. A.K Wer hat Sie dazu angestiftet? (R.H.M.) Mein väterlicher Freund Rudolf Hirsch, der legendäre Gerichtsreporter der Wochenpost. Der war dabei, als ich am Stammtisch der Gerichtsreporter erzählte, wie ich dauernd mit anderen jungen Mädchen verwechselt wurde und dadurch in die peinlichsten Situationen geriet. „Schreib das auf!“ sagte er, und nachdem er meine allererste Geschichte „Ich habe ein Dutzendgesicht“ gelesen hatte, wollte er, dass ich sie dem Eulenspiegel schicke. Eigentlich habe ich mich immer wie ein Preuße benommen, der Befehle ausführt. Es mussten nur Befehlsgeber sein, die ich mochte und ernst nehmen konnte. (A.K.) Sind Sie es noch? (R.H.M.) Ich werde immer preußischer. Zum Beispiel bei Lieferterminen. Mittlerweile ist für mich pünktlich, wenn ich überpünktlich liefere, ein oder zwei Tage vorher. Es wird schlimmer. Im Alter verschärfen sich eben alle Wesenszüge. Besonders die unangenehmen. (A.K.) Das mit den Gerichtsreportagen war ein Umweg? (R.H.M.) Gewissermaßen. Ich hatte im Schweinsgalopp eine zweijährige Lehrzeit in verschiedenen Ost-Berliner Redaktionen durchlaufen. Das fing bei der Vierteljahreszeitschrift „Sowjetwissenschaft“ an. Also, da war ich so was von falsch! Ich konnte ja noch nicht einmal ordentlich russisch. Dann kam ich in die Monatszeitschrift „Neue Gesellschaft“, danach in die „Friedenspost“ und von dort zur „BZ am Abend“, heute der Berliner Kurier. Aus der „BZ am Abend“ bin ich rausgeschmissen worden. (A.K.) Wie kam es dazu? (R.H.M.) Der stellvertretende Chefredakteur war hinter mir her. Aber der war mir hochgradig unsympathisch. Als er mitkriegte, dass ich einen anderen Kollegen favorisierte, hat er mich fristlos entlassen. Wegen unmoralischen Verhaltens. Eine typische Nummer aus den 1950er- Jahren: Verhältnisse am Arbeitsplatz waren unerwünscht, und das Verdikt traf immer die Frau. (A.K.) Hat Sie das aus der Bahn geworfen? (R.H.M.) Nee. Ich kannte ja genügend Leute in anderen Redaktionen, die alle sagten: Kommste eben zu uns. Sobald sie aber meine Kaderakte gelesen hatten, gab es plötzlich keine Vakanz mehr. Ich war 19 und habe keine Festanstellung mehr gekriegt. Musste also zusehen, wie ich mich freiberuflich durchschlage. (A.K.) So gerieten Sie unter die Gerichtsreporter? (R.H.M.) Genau. Rudolf Hirsch sagte: „Schreib Gerichtsberichte, das kann nämlich jeder. Aber sag’s nicht weiter.“ Später fand er, ich sei bei den Satirikern doch besser aufgehoben. (A.K.) Hat nie wieder eine Festanstellung gelockt? (R.H.M.) Im Eulenspiegel musste ich mal zwei Jahre als Humor-Redakteurin arbeiten, weil mein Freund John Stave gekündigt hatte. Erst wollte ich nicht, weil die ja schon um acht Uhr anfingen. Um die Zeit kann ich noch nicht klar denken. Also bin ich so gegen zehne, elfe eingetrudelt. Nach einem Riesenkrach mit Chefredakteur Peter Nelken kam ich dann pünktlich, hängte allerdings ein „Bitte nicht stören“-Schild an die Türklinke und packte mich erst mal für zwei Stündchen auf die Couch. Da hatte der Chef ein Einsehen und ließ mich zu Hause ausschlafen, zumal ich die gesamte Post in der S-Bahn zwischen Grünau und Friedrichstraße erledigte. Nelken sagte immer: „Ich bezahle meine Leute nicht für ihren Hintern, sondern für geleistete Arbeit.“ (A.K.) Haben Sie eigentlich jemals ihre Kaderakte zu Gesicht bekommen? (R.H.M.) Beim Eulenspiegel hatten wir eine Kader-Instrukteurin, eine ungeheuer nette, junge Frau. Wir haben immer mal in ihrem Zimmer zusammengesessen und Kaffee getrunken. Eines Tages stand der Safe offen, und ich fragte: „Was sind denn da für furchtbar geheime Dinger drin?“ – Darauf sie: „Zum Beispiel die Kaderakten. Willste mal in deine reinschauen?“(A.K.) Sie wollten natürlich? (R.H.M.) Na klar! Und ich fand die Aktennotiz von diesem stellvertretenden Chefredakteur der BZA, in der stand, meine fristlose Entlassung erfolge wegen politischer Unreife und zweifelhafter Moral. Die zweifelhafte Moral hat mich nicht um weitere Festanstellungen gebracht, nur die politische Unreife! Mit solchen denunziatorischen Eintragungen konnte man einem Menschen die Zukunft versauen. Mir ist es allerdings zum Segen ausgeschlagen. (A.K.) Ihre Klatschgeschichten, die 1986 unter dem Titel „Die tote Else – Ein wahrhaftiges Klatschbuch“ erschienen, sind eine geschickt getarnte Autobiografie. Wie kam es dazu? (R.H.M.) 1974 hatte ich eine Einladung von der Reichsbahn in West-Berlin zu einer Lesung. Ich habe mich natürlich wahnsinnig gefreut. Den Pass dafür durfte ich mir im Büro des Schriftstellerverbandes abholen. Ein paar Wochen später kriegte ich wieder eine Einladung zur West-Berliner Reichsbahn. Als ich mir erneut den Pass abholte, kam ich mit der zuständigen Kollegin ins Gespräch. Sie sagte, sie habe den schönsten Posten im ganzen Schriftstellerverband, denn zu ihr kämen nur gut gelaunte Leute. Wegen der bevorstehenden Westreisen. (A.K.) Kamen denn viele? (R.H.M.) Mehr und mehr, behauptete die Verbands-Kollegin. Dann gab sie mir den Tipp mit dem Vierteljahresvisum. Für den Antrag brauchte ich nur eine halbwegs glaubwürdige Recherche-Idee. Nach einem Blick in meine Unterlagen sagte sie: „Mensch, du bist ja in West-Berlin geboren! Für eine Autobiografie musst du an Ort und Stelle nach deinen Wurzeln suchen!“ (A.K.) Damals waren Sie noch nicht einmal 40. Bisschen früh für eine Autobiografie, oder? (R.H.M.) Das war auch mein Einwand. Den ließ sie aber nicht gelten: „Mit dem Suchen kann man gar nicht früh genug anfangen!“ So kam ich zu meinem ersten Vierteljahresvisum. Ab 1975 durfte ich dann auch jedes Jahr zur Berlinale. Klatsch galt in der DDR als besonders unappetitliche Erscheinungsform der bürgerlichen Publizistik. (A.K.) Wieso durften Sie trotzdem ein Klatschbuch schreiben? (R.H.M.) Erzählt habe ich Klatschgeschichten ja schon immer. Und irgendwann sagte Wolfgang Sellin, der damalige Chef vom Eulenspiegel-Buchverlag: „Du solltest das langsam mal aufschreiben! Damit man sagen kann: Steht auf Seite soundso, hast du schon erzählt!“ (A.K.) In diesen Geschichten geht es vordergründig immer um nationale und internationale Prominente. (A.K.) Wie viele Klatschbücher haben sich verkauft? (R.H.M.) In zwei Jahren erschienen drei Auflagen mit jeweils 20 000 Exemplaren. So schnell konnte man gar nicht gucken, wie die weg waren. Aber dann war die DDR weg und vorübergehend auch das Interesse an hausgemachten Büchern. Als es wieder erwachte, druckte der Eulenspiegel Verlag die Fortsetzung „Die tote Else lebt“, wovon es bereits die 4. Auflage gibt. (A.K.) Verkauften sich zu DDR-Zeiten alle Ihre Bücher so schnell? (R.H.M.) Ich hatte da mal ein Schockerlebnis. „Die Eule im Kino“, meine allererste Sammlung von Filmkritiken aus den Jahren 1960 bis 1980, stand drei Wochen in den Regalen der Buchhandlungen. Ich hatte das Gefühl: Nun ist alles vorbei! Eines meiner Bücher oberhalb des Ladentisches heißt: Kein Mensch will mehr etwas von mir wissen! Inzwischen gibt es „Die Eule im Kino“ Band I und Band II (1980-1990) nur noch antiquarisch, während Band III (1991-2005) im Handel ist. (A.K.) Warum durften Sie sich in der DDR mehr als andere Filmkritiker erlauben? Weil Sie bei einem Satireblatt waren? (R.H.M.) Das war nur am Anfang so. Da hat man gesagt, Satire braucht eine etwas längere Leine, sonst funktioniert sie nicht. Dann hatte dieser entsetzliche Joachim Herrmann als SED-Agitationschef den Ehrgeiz, aus Fernsehen und Defa eine Firma zu machen, die er zu leiten gedachte. Das wiederum hat SED-Kulturchef Kurt Hager nicht zugelassen, denn für ihn, den hochgebildeten Zyniker, war Joachim Herrmann ein indiskutabler Emporkömmling. Von da an war es dem Herrmann egal, wie mit der Defa in den Medien umgegangen wurde, folglich waren auch die Kritiken schärfer. (A.K.) Heutzutage gibt es Pressevorführungen, wenn neue Filme herauskommen. Wie war das damals? (R.H.M.) Da gab es die natürlich auch, und nach den Vorführungen der Defa-Filme zusätzlich Pressekonferenzen, bei denen sich die Schöpfer den Fragen und nicht seltenen Zornesausbrüchen der Kritiker stellen mussten. Da wurde wirklich mit harten Bandagen gearbeitet. Am meisten gefürchtet waren übrigens meine Kolleginnen Rosemarie Rehahn von der Wochenpost und Margit Voß vom Berliner Rundfunk. Die eine kämpfte mit dem Florett, die andere mit dem Degen, während ich die Dampframme bevorzugte. (A.K.) Stimmt es, dass ein Regisseur Ihnen mal Prügel angedroht hat? (R.H.M.) Ja, aber den Namen sage ich nicht. Schließlich lebt der Mann noch. Für welche Filmkritik? (R.H.M.) Das weiß ich nicht mehr. Aber seine Filme habe ich alle verrissen. Er konnte also zuschlagen, wann immer er wollte, er hätte immer recht gehabt. Dankenswerterweise verzichtete er darauf. (A.K.) In den 1960ern hat für anderthalb Jahre jemand anderes die Kino-Eule geschrieben. Warum? (R.H.M.) Weil ich einen Riesenknatsch mit der Redaktion hatte und ungeheuer stur war. So entkam ich der auch für Filmkritiker entsetzlichen Zeit des 11. ZK-Plenums, dem fast eine ganze Jahresproduktion der Defa zum Opfer fiel. Und ich hätte ohne diese Pause möglicherweise nie „Das Durchgangszimmer“ geschrieben. (A.K.) Wie fanden Sie den Film „Florentiner 73“, den das DDR-Fernsehen daraus gemacht hat? (R.H.M.) Ganz nett, aber Agnes Kraus war hervorragend. (A.K.) Haben Sie das auch geschrieben? (R.H.M.) Nein, das war ja ein Fernsehfilm. Aber auch über den Kinofilm „Der Mann der nach der Oma kam“ nach meiner Erzählung „Graffunda räumt auf“ habe ich nicht geschrieben. Das hat ein Kollege gemacht, nicht ganz so kritisch, wie ich es getan hätte. Trotzdem war es einer der erfolgreichsten Defa-Filme aller Zeiten. (A.K.) Ist Ihnen oft in Ihre Filmauswahl reingeredet worden? (A.K.) Von der Redaktion nie, weder damals noch heute. Im Jahre 1984 wünschte sich die ZK-Abteilung Agitation und Propaganda Lob für den misslungenen Clara-Zetkin-Film „Wo andere schweigen“ und Tadel für den sehr kritischen Gegenwartsfilm „Erscheinen Pflicht“. In beiden Fällen war ich anderer Meinung, und die durfte ich dann für mich behalten. (A.K.) Einmal haben Sie ein Bestechungsgeschenk angenommen. (R.H.M.) Eine sehr dekorative Eule für Ihre große Eulensammlung. (A.K.) Von Dean Reed, dessen Filme Sie bis dahin immer verrissen hatten. Und als Gegenleistung verlangte er eine positive Kritik für seinen nächsten Film. (R.H.M.) Weil es sich dabei um „Sing, Cowboy, sing“ handelte, konnte ich mich nicht an den Deal halten. Deshalb bat ich Freunde, die im Kulturmagazin des DDR-Fernsehens arbeiteten, mich unter irgendeinem Vorwand zu interviewen, um bei der Gelegenheit auf meine Eulensammlung zu sprechen zu kommen und die Herkunft des Prachtstücks zu erklären. Da habe ich dann eingeräumt, mich als korrupt erwiesen zu haben, aber nicht als korrumpierbar. Selbstverständlich könne Dean sein Eigentum wieder abholen – wenn er das Gesicht verlieren wolle. Dieser Halbsatz hat mir die Eule gerettet. (A.K.) Sie wohnen mit Ihrem Mann, Tausenden von Büchern und ungezählten Eulen aus allen denkbaren Materialien in einer großen Wohnung in der Leipziger Straße. Hatten Sie nie Lust, diese Hochhauswohnung gegen ein Häuschen im Grünen zu tauschen? (R.H.M.) Das lief genau umgekehrt. Wir haben in Bohnsdorf gewohnt, am südlichsten Zipfel Berlins in einem Reihenhaus der über 100 Jahre alten Arbeiterbaugenossenschaft Paradies. Wir hatten so ein Eckgrundstück, mit Garten dran und Garage drauf. Uns hat die Entfernung zur Stadt genervt. Mein Mann fuhr jeden Tag eine halbe Stunde rein und ein halbe Stunde wieder heim. Und ich musste wegen Zeitmangels dauernd Taxis nehmen. Vor dem endgültigen finanziellen Ruin haben wir lieber getauscht. (A.K.) Wann haben Sie sich zuletzt richtig über einen Film geärgert?(R.H.M.) Dauernd. Jedenfalls mehrmals wöchentlich. Zu DDR-Zeiten dachte ich oft, alle Schrecken, die ein Mensch im Kino erleben könnte, hätte ich bereits erlebt. Das war ein Irrtum. (A.K.) Über welchen Film haben Sie sich zuletzt gefreut? (R.H.M.) Über den wunderbaren „Volver“ des Spaniers Pedro Almodóvar. Und über die deutschen Produktionen „Wer früher stirbt, ist länger tot“ und „Die Könige der Nutzholzgewinnung“. Und wer immer noch nicht meine Lieblingsfilme „Alles auf Zucker“ von Dani Levy und „Sommer vorm Balkon“ von Andreas Dresen gesehen hat, der schere sich gefälligst hin. Darum möchte ich höflichst bitten. (A.K.) Was bereuen Sie im Rückblick auf Ihre Arbeit? (R.H.M.) Dass ich einen Rat von Friedrich Luft zu spät erhalten habe. Der sagte, Kritiker dürften mit den zu Kritisierenden nicht auf dem Duzfuß stehen. (A.K.) Hat Sie das schon mal in die Bredouille gebracht? (R.H.M.) Einmal. Es ging um Werner Bergmann, den langjährigen Kameramann von Konrad Wolf. Sein erster eigener, also von ihm auch geschriebener und inszenierter Film hieß „Nachtspiele“. Ich fand ihn misslungen und wollte eigentlich den Mantel des Schweigens darüber breiten. Aber dann hätten die bei der Defa mit Fug und Recht sagen können, mit der Eule muss man sich nur anfreunden, dann hält sie im Zweifelsfall die Klappe. Und deshalb habe ich geschrieben. Unter Qualen. Mit Tränenergüssen. Reichlich zwei Wochen später kam ein Brief von Werner Bergmann. Darin schrieb er, er habe die Zeit gebraucht, um mit dem Schlag in die Magengrube fertig zu werden. Nun aber wolle er sagen, was wäre Freundschaft, wenn sie Wahrheit nicht vertrüge. Das fand ich groß. (A.K.) Haben Sie verstanden, warum Ihre Rubrik im Eulenspiegel nach Jahrzehnten vom sehr markanten „Kino-Eule“ in ein nichts sagendes „Kino“ umbenannt wurde? Nein. (A.K.) Was raten Sie jungen Filmkritikern? (R.H.M.) „Immer deutlich sein. Die Anzahl der Fremdwörter auf ein vertretbares Maß reduzieren. Die Leser, unter denen es ja auch Nichtakademiker geben soll, müssen erkennen können, ob ihnen der Film empfohlen oder ob vor ihm gewarnt wird. Ein Kritiker muss von wiedererkennbarer Gesinnung sein. Früher kriegte ich manchmal Briefe, in denen stand: Wir gehen in jeden Film, den Sie verreißen, und es war noch immer ein gelungener Abend. Auch so entsteht Verlässlichkeit.“ Renate Holland Moritz. Vielleicht sollten wir uns ein paar Scheiben davon abschneiden,. meint Wessi J.

Zeichnung Helga Bachmann

In Erinnerung an Renate Holland-Moritz (III)

Auszug aus Die tote Else“ Renate Holland-Moritz: “Aus ihnen wird wohl nichts werden, es sei denn, Sie gingen zum Film oder zur Presse.“ Dieser Stoßseufzer eines geplagten Studienrates, den meine geringen Kenntnisse im Fach Chemie tief erschüttert hatten, war als Beleidigung gedacht; ich aber hielt ihn für eine Art vernünftiger Berufsberatung. Also kündigte ich meiner Köpenicker Oberschule unmittelbar nach Absolvierung der 10. Klasse und begab mich auf Stellungssuche. Der Verlag Kultur und Fortschritt leistete sich Mai 1952 den Luxus, einen ahnungslosen 17 jährigen Teenager als Redaktionsvolontär einzustellen. Ich begann in einer wissenschaftlichen Vierteljahreszeitschrift und wurde mangels andrer Fähigkeiten mit der Zusammenstellung des Sachregisters für ein enzyklopädisches Werk betraut. “Das Alphabet werden Sie ja wohl beherrschen“, sagte der Chefredakteur. Damit irrte er. Zumindest war mir nicht geläufig, daß auch die jeweils nächstfolgenden Buchstaben der alphabetischen Ordnung bedurften. Als nach wenigen Wochen ruchbar wurde, daß bei mir “Arbeiterklasse“ den Vorrang vor “Akademie der Wissenschaften“ hatte, mußte ein fünfköpfiges Team von Slawistikstudenten engagiert werden, um die von mir gestiftete Konfusion zu entwirren. Einige der inzwischen gestandenen Professoren und Doktoren erinnern sich noch heute gern der so unverhofften wie beträchtlichen Nebeneinnahme.

Nach diesem Desaster übernahm mich Harald Hauser, Chefredakteur der im selben Verlag erscheinenden populärwissenschaftlichen Monatszeitschrift “Die neue Gesellschaft“. Hauser war ein guter Journalist und ein großer Mutmacher. Junge Leute, die viel lasen und respektvoll mit der Muttersprache umgingen, hatten seine Symphatie. Die allerdings verscherzte ich mir weitgehend, als ich eines Tages daranging, Gorki zu redigieren. Der Satz “Ein Mensch – wie stolz das klingt“, kam mir doch ein wenig dürftig vor, so daß ich änderte: “Ein Mensch zu sein – wie stolz das klingt!“ Danach gab mich Hauser ohne erkennbares Herzdrücken an die Wochenzeitschrift “Friedenspost“ weiter.

Hier stand ich unter der Obhut des stellvertretenden Chefredakteurs Heinz Stern, später langjähriger Chefreporter des “Neuen Deutschland“ und der mit Recht so beliebten Gazette “Das Magazin“. An die “Friedenspost“ werden sich heute höchstens noch einige ältere Mitglieder der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft erinnern, deren Zentralorgan das Blättchen darstellte. Eine gewisse dogmatische Kopflastigkeit und der für damalige Zeiten charakteristische hölzerne Stil hielten die Verkaufszahlen in Grenzen. Ich erinnere mich, daß vor allem die Zehnerkassierer der Freundschaftsgesellschaft hartnäckigen Beitragsschuldnern die Zeitschrift als eine Art Ablaßbrief aufschwatzten. Mir wurde die ehrenvolle Aufgabe zuteil, die letzte Seite redaktionell zu betreuen.Sie war zu zwei Dritteln dem Sport vorbehalten, während der sogenannte Keller dem Rätsel gehörte. Vom Sport verstand ich nun nachweisbar weniger als nichts. Das fiel zunächst gar nicht auf, denn mein ständiger Mitarbeiter Heinz Machatschek, der sich inzwischen einen Namen als populärwissenschaftlicher Autor seiner Hobbygebiete Schach, Weltraumfahrt und Heraldik gemacht hat, lieferte jede Woche druckreife Artikel zum Thema Sowjet-Sport. Aber eines unvergeßlichen Tages im Oktober 1953 kam die Wahrheit über mein sportliches Unvermögen an den Tag.

Ein großes internationales Fußballspiel war angesagt, nämlich das Freundschaftstreffen “Torpedo Moskau–ZSK Vorwärts. “Vorwärts“, die Mannschaft der Kasernierten Volkspolizei, gehörte, wie ich dem Agenturmaterial entnahm, der Liga an. “Torpedo“ hingegen stellte die drittbeste Mannschaft der Sowjetunion. Und das erschien mir nun mehr als ein Frevel. Also schrieb ich einen Brand-Artikel, in dem die Organisatoren des Spiels beschimpfte, weil sie den sowjetischen Meistern einen minderen Gegner zumuteten. Er endete mit den apodiktischen Worten: “Das Publikum erwartet mit Recht ein Spiel gleichwertiger Mannschaften, und dazu müßte man “Torpedo“ eine DDR Auswahl gegenüberstellen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht“. Leider vermochte ich trotz aller Empörung nicht mehr als eine Druckspalte zu füllen. Deshalb besorgte ich mir die Fotos der elf sowjetischen Spieler und plazierte sie schön groß auf der Seite. Die ungenügenden “Vorwärts“ Kicker mußten sich mit einer namentlichen Aufstellung begnügen. Am 29. Oktober 1953 marschierte ich wie Zehntausende andere Berliner ins Walter-Ulbricht-Stadion. Zu meinem Entzücken sah ich, daß viele Fußballfans die “Friedenspost“ in der Hand hielten und mit weit aufgerissenen Augen meinen Beitrag lasen.

Zum erstenmal stand ich dem Phänomen gegenüber, gelesen und – wie mir schien – verstanden zu werden. Ich fieberte dem Beginn des Spiels vor allem seinem unvermeidlichem Ausgang entgegen. Plötzlich kam einer der gestandenen Sportjournalisten auf mich zu und sagte väterlich: “Also Kleene, am besten, du jehst janz schnell nach Hause. Wenns sein muß, schieß ick dir den Weg frei!“ Obwohl ich der dunklen Rede Sinn nicht verstand, gehorchte ich aufs Wort. Beim Verlassen des Stadions befragte ich immerhin noch den Zeitungsverkäufer am Kiosk, womit denn der sensationelle Verkaufserfolg der “Friedenspost“ zu erklären sei. Der Mann kicherte. “Es war wejen die Fotos von die Russen. Dafür hatten die richtijen Zeitungen wohl keenen Platz“. Zu Hause kroch ich fast ins Radio, wie später nur noch zu Zeiten der Friedensfahrt-Berichterstattung. Aber meine Niederlage war so total wie die der sowjetischen Gäste “Torpedo“ Moskau verlor gegen ZSK “Vorwärts“ mit 4:2 Toren. Ein Grund für mich, an dem viel zitierten Satz “Von der Sowjetion lernen, heißt siegen lernen“zu zweifeln. Ich weiß nicht, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen meiner journalistischen Fehlleistung und dem Ableben der “Friedenspost“ bestand, jedenfalls wurde das Blättchen noch im November 1953 eingestellt“ .

Renate Holland-Moritz, in “Die tote Else – Ein wahrhaftiges Klatschbuch“, Eulenspiegel Verlag Berlin. 2. Auflage 1988.

Briefe an Wiebeke (IV-4) Der Traum von einer Sache

Romische Zahlen am BUG

Hallo Wiebeke, Du willst wissen, wie das damals war? Zu Zentral Film Zeiten? Na, am besten schreib ich den Text, der damals in Medium, der Zeitschrift der Evangelen (Das waren die vom Gemeinschaftswerk GEP – der evangelischen Kirche) veröffentlicht wurde, noch mal ab. (Ich hatte den geschrieben). Hier kommt er, in Originallänge, vermutlich habe ich, trotz mehrfachem Gegenlesen, noch ein paar neue Schreibfehler untergebracht. Damit meine ich, die, die vorher noch nicht drin waren, J.

Abschrift aus: Medium 6. Juni 1982. 12. Jahrgang Der Traum von einer Sache Für einen neuen Zentral Film Verleih von Jens Meyer (Seite 35 -38)

Die Beteiligten des Konfliktes trafen sich am 14. April 1982 vor dem Landgericht Hamburg um Viertel vor 12 Uhr. Der Vorsitzende C. des Vereins Zentral Film Verleih Hamburg e. V. wollte mithilfe des Landgerichts Hamburg eine Mitgliederversammlung verbieten lassen, zu der ein Viertel der Mitglieder eingeladen hatte. Er befürchtete, daß er auf dieser Mitgliederversammlung nicht wieder gewählt werden würde. Eine Stunde wurde verhandelt. Der Richter genoß sichtlich die Vorstellung: Linke, die mithilfe der Klassenjustiz ihre Konflikte klären lassen. Nebenbei: das gleiche Gebäude, in dem auch der Film von Axel Engstfeld Von Richtern und anderen Sympathisanten spielt.

Gerichtskosten nach einer Stunde: 1.250 DM. Dazu: Die Kosten für zwei Rechtsanwwälte, vor dem Landgericht darf sich niemand selber vertreten. Insgesamt der Monatslohn eines Mitarbeiters in dem finanzschwachen Betrieb Zentral Film Verleih (ZFV) gegen die anderen beiden Vorstandsmitglieder als Privatpersonen. Das Gericht soll eine einstweilige Verfügung gegen eine Mitgliederversammlung am 18. 4. (1982) aussprechen.

Wie jeder Verein hat auch dieser Organe. Manche Organe sind meistens nicht wichtig. Höchstes Organ: Die Mitgliederversammlung, hier hat der Vorsitzende eine unsichere Mehrheit. Diese unsichere Mehrheit möchte er mithilfe von Neuaufnahmen gerne sicher machen. Doch im Vorstand ist der Vorsitzende in einer Minderheit. So macht er einen Fehler: In einer Vorstandssitzung werden nicht seine Kandidaten aufgenommen, sondern die der anderen beiden Vorstandsmitglieder. Werner Koch + Elfriede Schmitt. Ein langjähriger Machtkampf dreht sich. Erstmals ist der Vorsitzende Christian Lehmann dabei, einen Machtkampf zu verlieren. Was macht er? Wir lasen es schon.

Auch ich bin nicht unbeteiligt. Einmal habe ich von 1976 bis 1980 dort gearbeitet – im Anfang als „freier“ Mitarbeiter, wie alle anderen auch für 650,00 DM netto gleich brutto. Das ist bitter, wie schnell auf dem Landgericht drei Monatslöhne vom Vorsitzenden verbraten wurden. Auch menschlich bitter, wenn es sich um jemanden handelt, der über lange Zeit in seinen Worten immer die Sache obenan gestellt hat, der immer Gegner der Klassenjustiz gewesen ist.

Der Hintergrund

Fünf Personen stehen derzeit auf der Lohnliste des Verleihs, davon leben vier ausschließlich vom Verleih – keine Nebeneinkünfte. Vier Personen weigern sich, mit dieser fünften Person weiter zusammenzuarbeiten. Das hat viele verschiedene Gründe. Einer ist jedenfalls der: Die vier verstehen unter Zusammenarbeit etwas anderes als die fünfte Person. Sie wollen wirklich zusammen arbeiten. Und sie wissen, wovon sie reden, denn seit dem letzten großen Mitarbeiterwechsel im August 1980 haben sie ihre Versuche unternommen, mit der fünften Person zusammen zu arbeiten. Sie möchten nicht noch einmal ähnliche Versuche wie in den letzten zwei Jahren machen.

Viel Papier wird beschrieben: Grundsatzpapiere, persönliche Erklärungen. Man trifft sich mit früheren Mitarbeitern des ZFV, befragt sie nach ihren Erfahrungen, gründet einen Beraterkreis, der stellvertretend auch die Konflikte innen klären soll. Die Glaubwürdigkeit von bedrucktem Papier nimmt immer mehr ab. Der Konflikt mit C. bindet immer mehr Kräfte. C. will den Verleih nicht verlassen, bringt seinerseits auch immer Papiere ein, auf denen er erklärt, auf welche Weise die anderen mit ihm zusammenarbeiten sollen. Im Mai 1981 kommt es zur ersten harten Auseinandersetzung.

Anlaß der Film Gorleben – Der Traum von einer Sache. Sichtveranstaltungen finden statt. Immer wieder Diskussionen: Ist das ein Film für den ZFV? C kategorisch: „Noch nie habe ich der Aufnahme eines Filmes in den ZFV zugestimmt, wenn ich schwerwiegende politische Bedenken hatte.“ Die Ausschließlichkeit, mit der ein einzelner hier seine Meinung den anderen Verleihmitarbeitern aufdrücken will, bringt viele andere Sachen ebenfalls zum Ausbruch. Kein anderer von ihnen nimmt sich das Recht heraus, keine Fehler zu machen, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. C. hat dafür eine andere Wortwahl. Es gibt auch Unterschiede in der Bewertung des Verleihs: Vier sehen in der Verleiharbeit eine Hilfstätigkeit für die (linke, aufgeschlossene) Öffentlichkeit. C. hat eher die Vorstellung: das Verleihprogramm als politisches Glaubenbekenntnis.

Dazu kommen die Probleme der Arbeitsteilung, die es mit C. gibt. Seit 1980 konzentriert sich C. auf den Bereich Filmverkäufe an andere Verleiher und Fernsehanstalten. Mit den Routine-Verleiharbeiten hat er nur noch wenig zu tun. Auch dieser mangelnde Kontakt mit den eigentlichen „Kunden“ macht ihn in den Augen der anderen unglaubwürdig. Er ist leider auch der einzige, der behauptet, dennoch gut informiert zur sein. Die Begründung für diese Selbstüberschätzung findet er in seiner zehnjährigen Erfahrung.

Erinnerung an 1978

Es war keine schlechte Zeit, wir hatten viel Spaß an der Arbeit, sonst hätten wir es nicht für so wenig Geld gemacht. Für eine Stunde vorm Landgericht mußte ich drei Monate arbeiten. Mehr Geld war nicht da. Glaubenssatz aus dieser Zeit: Der Verleih ist politisch enorm wichtig. Deswegen: Nicht jeden Konflikt ausfechten, nicht alles zu Ende diskutieren. Viele Sachen zudecken, verdrängen.

Erinnerungen an 1970

Nicht meine. Die Filmemacher Cooperative gab es. Einer, der heute nicht mehr dabei ist (Alfred Hilsberg), machte einen Sonderverleih auf: mit den wenigen Filmen, die ausdrücklich politisch sein solten. Man könnte auch sagen, er hat sie geklaut. Die Prügelei geistert noch heute durch die öffentlichen Erinnerungen. 1971 die Sozialistische Film Coop, 1972 dann der Zentral Film Verleih. Mit vielen Filmen, die heute niemand mehr kennt. Die industrielle Reservearmee von Helma Sanders. Dann später, vielleicht 1973/74, die Frage, die alle linken Akademiker bewegt. Woher kommt die Revolution? Aus den Stadtteilen oder aus den Betrieben? Wer hat recht?

Auch im Verleih zwei Meinungen: mal gewinnt der Film aus dem Kalletal für die Arbeitsplätze bei Demag, mal der Rockerfilm aus Frankfurt. Ökonomische Grundlage des Verleihs auch in dieser Zeit eher die Filme, die C. nicht liebt. Das erfahre ich erst viel später. Ich habe losen Kontakt zu diesem Verleih. Bin selber auf der Arbeiterwelle in die dffb (Deutsche Film- und Fernsehakdamie Berlin) geschwappt. Lerne viel und bin wißbegierig. Zusammen mit anderen aus dem Medienzentrum in Berlin mache ich einen Filmkatalog, zwei verschiedene Umschläge: „Film im Klassenkampf“ und „Filme der Arbeiterbewegung“. Unterschiedliche Titel, aber sie meinen das gleiche. Die Jusos und die Falken kaufen den Katalog mit dem zweiten Umschlag. Wir schicken den Katalog nach Hamburg. Sie haben am Karl Muck Platz 9 (heute Johannes Brahms Platz 9) viel zu kritisieren. Vor allem, daß viele wichtige Filme aus dem ZFV fehlen. Sie wollen für die nächste Auflage viele Verbesserungsvorschläge machen. Wir warten vergeblich.

Die Zeit der selbsternannten kommunistischen Arbeiterparteien. Aus dieser Zeit auch meine Parteifeindlichkeit. Der Verleih hat mit diesen Parteien auch wenig am Hut. Das macht ihn mir sympathisch. Dennoch treten sie nach außen immer geschlossen auf. Innere Widersprüche werden rausgehalten, dringen nicht an die Öffentlichkeit. Sie sprechen mit einer Stimme.

Sie sind ein Kollektiv, es gibt keinen Chef, sie entscheiden alles gemeinsam, sagen sie. Sie erledigen die anfallenden Arbeiten gemeinsam, eine Arbeitsteilung im klassischen Sinne gibt es nicht, sagen sie. Sie sind weder von Bonzen noch von Parteien abhängig. Der Verleih zeigt in seinen Filmen ein widersprüchliches Bild. Es ist bunt. Daß dieses bunte Bild nur auf unterschiedliche Gewinner verschiedener Machtkämpfe zurückgeht, weiß ich nicht. Sie machen viele Versprechungen.

Das Kollektiv 1976 in Berlin bei den Festspielen: Vier Personen wollen mich anwerben. Ich sage zu im Herbst nach Hamburg zu kommen. Erst später wird mir klar, warum sie alle wollen, daß ich nach Hamburg zum Verleih komme. Sie wollen mich als Bündnispartner für ihren internen Konflikt benutzen.

Ich denke, man kann als Filmemacher von den Verleihen nicht immer nur fordern, man muß auch selber mit zufassen, wenn es nicht vorangeht. Im Oktober bin ich da, drei Leute (Alfred Hilsberg, Uwe Emmenthal und Nobert Huhn) sind schon weg. Verwirrung bei mir. Fragen an die Dagebliebenen. (C., + K. J.)

„Wir haben uns aus inhaltlichen Gründen getrennt“, ist die einzige Erklärung.

Das erklärt nicht viel. Aber was solls, von der alten Crew ist nur noch einer da. Die anderen sind nicht mehr wichtig für mich, sie haben aufgehört – erledigt. Eins macht mich stutzig: Es sind genau die Leute weg, mit denen man immer zu tun hatte, wenn man einen Film bestellt hat, der dann auch den Lieferschein unterschrieben hatte. Der Mitarbeiter für „übergeordnete“ Anfragen war noch da. Einer von den Ausgeschiedenen hat morgens immer nur Zeitung gelesen, wollte sich hier selbst verwirklichen, höre ich. Später höre ich auch die andere Version. Mir ist das eigentlich ziemlich egal. Sie haben aufgehört, also sind sie nicht mehr wichtig.

1976 habe ich von diesem Verleih auch noch ein anderes Bild:

Die klopfen immer viel Sprüche, müssen ungefragt überall was sagen, und wenn man dann einen Film bestellt hat, dann kommt er nicht rechtzeitig. Schuld sind sie niemals sie selber, sondern immer „unsolidarische Vorspieler“. Oder noch schlimmer. Es kommt etwas, das hat mit Film nicht mehr viel zu tun – das Bild kann man vor lauter Kratzern nicht erkennen, der Ton ist kaum zu verstehen. Das, denke ich, ist meine erste Aufgabe in Hamburg, das zu ändern. Ich denke, Unzuverlässigkeit, hat mit links nichts zu tun. Ich denke, schlechte Kopien ebenfalls nicht. Ich versuche zu ändern und ernte viel Beifall, aber wenig praktische Unterstützung.

Die anderen sagen: Zeitmangel. Aber täglich werden nur ca. vier Filme verschickt und vier entgegen genommen. Keine ‚Schwierigkeit für drei Leute, da die Arbeiten auf dem laufenden zu halten, Filme zu reparieren, Klammerteile zu bestellen.

Einen Film habe ich mitgebracht von der dffb. (Meinen Abschlußfilm von der dffb Mit uns nicht mehr). Über Arbeit und eigene Erfahrungen in meinem ehemaligen Beruf als Maschinenschlosser.

Das frühere Kollektiv hatte, so lese ich, diesen Film schon einmal abgelehnt. Ich erinnere nur, daß er einige Wochen in Hamburg lag und dann nur nach bösen Drohungen zurückgeschickt wurde. Kommentarlos.

C., immer noch Germanistikstudent, ohne eigene Berufserfahrung außerhalb des Verleihs, erklärt mir seine Haltung in der Gewerkschaftsfrage. Auf welche Weise das ZFV-Kollektiv bisher Gewerkschaftsfunktionäre kritisiert habe.

Ich mache einfach Druck, keine langen Diskussionen. Das ist meine politische Haltung, die in diesem Film ausgedrückt wird, und wenn die hier nichts zu suchen hat, dann habe ich hier auch nichts verloren. Der Film kommt in den Verleih. Nach vier Jahren habe ich genug. 1980 verschwinde ich von der Lohnliste des ZFV. Dazwischen viele Versuche einer guten Zusammenarbeit. Viele Versuche sich wenigstens nicht ins Gehege zu geraten.

Viele Fehler, die ich mitgemacht habe oder nicht entschieden genug bekämpft habe. Viele gute Leute, die im Verleih enttäuscht worden sind, die ich stärker hätte stützen können in ihren Konflikten mit C.. Aber oft lag eben die Wahrheit dazwischen. Der Hauptfehler aus meiner ZFV Zeit sicher: so eine Art unbewußtes Zentral Komitee für die Bewegung zu sein. immer wieder Entscheidungen darüber zu fällen, welche Filme notwendig und wichtig seien und dabei nur auf sich selbst, aber niemals auf die Kraft der sogenannten Benutzer unserer Filme zu vertrauen.

Andere Verleiher redeten oft davon, daß dieser und jener Film oft ausgeliehen wird, wir mit unserer befangenen Ideologie hatten dafür nur immer einen Spruch parat: „Ihr seid ja nur auf die Kohle scharf.“ Und die „Branche“ Film ist korrupt genug. Da wird ständig über Geld geredet. Inhalte außer ihren eigenen Kontoauszügen haben die kaum noch im Kopf. Alois Brummer ist da ein gutes Beispiel. Es gibt allerdings auch vornehme Leute im Geschäft. Wenn sie über wichtige Inhalte reden, über das, was sie den Leuten als Botschaft bringen wollen, dann denke ich oft: Klappern gehört zum Geschäft. Oder auch vornehmer mit Godard:

Die Kunst der Massen ist eine Idee der Kapitalisten.“

Dieses Jahr in Oberhausen bei der Diskussion „20 Jahre Oberhausener Manifest“ habe ich das auch wieder gedacht. Die Gefahr in diesem Bereich, entweder reich zu werden und alles zu vergessen oder Konkurs zu machen oder aber zum Heiligen zu verkommen, ist besonders groß. Wir bekommen einen Brief von der Verleihgenossenschaft in München. Da steht etwas von den Gralshütern der richtigen Verleihpolitik. Sie haben recht gehabt. Doch damals bin ich sauer auf diesen Brief.

Inzwischen ist aus dem Popelverein von 1972, in der jeder Mitarbeiter 60 DM pro Monat einzahlen mußte, ein Betrieb mit einem Jahresumsatz von 400.000 DM geworden. 40 Jahre unter- und unbezahlter Arbeit stecken drin. Vier von Alfred Hilsberg und A.R. und A. K., vier von mir (Jens Meyer)., drei von Klaus Jötten. (?), zwei von T. (Thomas Thielemann), zehn von C.. Wenn man sich jetzt von C. trennt, so wie man sich von 20 anderen getrennt hat, aus „inhaltlichen“ Gründen, warum sollte man sich nun nach so vielen Jahren privatrechtlich trennen?

Haben wir nicht viele Jahre diesen Verleih als „Instrument der Bewegung“ bezeichnet? Der Verleih ist schließlich niemals eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für frustrierte Akademiker gewesen. Oder etwa doch? Wer hat mich solange so gut täuschen können? Fragen, die zur Zeit nicht beantwortet werden können. Ein Brief von Arbeit und Film (Gernot Steinweg-Frankfurt): Sie warnen vor zwei Konkurrenzverleihen, sie haben recht. Der „Markt“ ist nicht groß genug. Aber sie meinen es anders. Wir sollen C. den Verleih überlassen, wie immer.

Es beginnt im November 81 eine Grundsatzdiskussion. Ich breche fast zusammen. Lese von mir akzeptierte Definitionen in unserem „1978-Hauptkatalog“. Das steht als Definition für Frauenfilme folgendes: „Arbeiterinnen und Angestellte in der BRD und in anderen Ländern, ihre Arbeitsbedingungen, Leichtlohngruppen, Abtreibungsverbot, und Abhängigkeit von Männern, ihr Kampf für die Stärkung der Arbeiterklasse.“ Mir wird übel vor mir selber. Vier Filme sind aufgeführt. Frauen existieren in einem linken Verleih vor allem: 1. entweder als ausgebeutete Arbeiterin am Fließband mit der Doppelbelastung oder 2. als arme Frau, die mit der Klassenjustiz-und dem § 218-in Konflikt kommt.

Ein Film wird uns angeboten. Ohne Liebe ist man höchstens geschickt. (vergleiche Medium 2/82; d. Red.) – ein Dokumentarfilm über die Arbeit einer Hebamme. C. fordert eine Grundsatzdiskussion, er findet den Film zwar auch gut, aber er gehöre wohl „eher in einen bürgerlichen Verleih“. Der Film kommt trotz erheblicher Widerstände in den Verleih. Eine Grundsatzdiskussion soll trotzdem kommen. Alle „Hauptamtlichen“ sollen dabei sein. Schon damit sie sich später nicht rausreden können, da bin ich nicht dabei gewesen, das müssen wir noch mal diskutieren. Schließlich ist das ein Filmverleih und kein Diskussionsclub, der mit Diskussionen die ökonomische Grundlage des Verleihs stabil erhält. Frist 31. März 82 (1982).

Bis dahin wollen wir alle Schwerpunktbereiche des ZFV ausführlich diskutieren und für die nächste Zeit festlegen. Kein Festivalbesuch, keine Filmanschaffungen, keine Reisen – vor allem keine Reiseprotokolle. Alle halten sich daran. Nur C. hat schon nach 14 Tagen drei Reisen fest abgemacht und fährt auch trotz Drohungen und Verwünschungen der anderen nach Berlin, Finnland und in die Schweiz.

Sachzwänge lassen sich immer schaffen, sagen seine Gegner. Seine Lober dagegen: Das war notwendig, hätte er diese Reisen nicht gemacht, hätte er damit dem ZFV schweren Schaden zugefügt. Ich erinnere mich: die alte Diskussion: Die Sache ist wichtig und nicht, auf welche Weise man zum Ziel kommt. Ich dagegen und auch die Lohnlistenmitarbeiter: „Eine Sache, die innen falsch ist, kann nicht außen richtig sein“, oder anders: „Beides ist wichtig – das Ziel und auch der Weg.“

Das wird, wenn das zwischen dem weißen medium-Karton gedruckt ist und gelesen wird, sicher Schnee von gestern sein. Ein Bericht aus dem Innern des Wals.

Das war Vergangenheit und nun

Wie wird der neue Zentral Film Verleih arbeiten? Wie wird er innen aussehen? Welche Filme wird er in Zukunft verleihen wollen? Auf welche Weise will er mit anderen Filmverleihen und den Benutzern der Filme besser zusammenarbeiten als in der Vergangenheit? Da haben viele Leute Wünsche und Hoffnungen, aber auch: schon eine Praxis, die sich in Teilen bewährt hat. Was gut war in der Vergangenheit, soll auch in Zukunft so bleiben: Eine Verleih, der partei- und bonzenunabhängig arbeitet. Auch die 15 Bereiche sollen weitgehend erhalten bleiben.

Die dogmatische Ausgrenzung sogenannter „unpolitischer“ Filme wird in Zukunft unterbleiben. Es wird im zukünftigen Verleih auch viele Filme geben, die nicht nur zu Schulungskursen oder Seminaren verwandt werden können, sondern Filme, in denen das Leben dieser Menschen auch vorkommt. Filme, in denen Menschen auftauchen und nicht nur Funktionen.

Einige dieser Filme sind schon im Verleih. Zu nennen sind z. B. Das höchste Gut einer Frau ist ihr Schweigen, Ohne Liebe ist man höchstens geschickt, Geschichten von Flüsterpferd, Der Traum von einer Sache.

Das „De-Facto-ZK-des ZVF“ ist als aufgelöst zu betrachten. Wir entscheiden in Zukunft nicht mehr alleine, ob ein Film notwendig ist oder nicht. Benutzer und Filmemacher sollen sich an den Entscheidungen beteiligen und auch die Möglichkeit bekommen, ihre Entscheidungen durchzusetzen. Sollte es bei der bisherigen Rechtsform des Vereins bleiben, dann ist das mit einer entsprechenden Satzung und Zusatzverträgen auch möglich.

Einige Filmemacher haben wir dafür auch schon begeistern können. Sie arbeiten bereits jetzt am neuen Konzept und der neuen Praxis mit. Auch mit einigen Spielstellen haben wir schon gesprochen. Es wäre schön, wenn nach dem Abdruck dieses Artikels noch mehr Filmemacher und Benutzer/Spielstellen ihre Bereitschaft zur Mitarbeit erklären würden.

Das hört sich nun zwar ziemlich groß nach Bundeskonferenz an, soll es aber nicht werden. Ganz neu sind wird auch nicht. Da genügt oft schon ein Hinweis: „Wir brauchen einen Film für unsere Veranstaltungen, der so und so aussehen soll. Es wäre gut, wenn ihr so was mal anschaffen könntet.“

Oder mehrere Spielstellen wenden sich an den Verleih, um einen Film aus dem Ausland in die BRD zu holen. Damit werden wir in Zukunft anders als in der Vergangenheit umzugehen wissen. Wir wissen in Zukunft nicht mehr alles, und vorrangig auch nicht mehr alles besser. Wir geben in Zukunft Hilfestellungen, wir wollen Kraft und Mut geben, wer das braucht. Aber wir wollen auch beides zurück. Wir wollen Instrument sein und selber dabei leben. Wir lassen uns nicht einteilen: hier Politik, da Leben in zwei getrennten Bereichen.

Wir wollen keine damit Zeit verschwenden, indem wir so lange reden, bis ihr der gleichen Meinung seid wie wir. Wir wollen euch nicht überreden. Unterschiedliche Meinungen in verschiedenen Filmen bleiben unterschiedlich. Wir sprechen darüber, aber nicht mit einer Stimme. In der Vielfalt liegt unsere Kraft. Wir wollen nicht auf fahrende Züge aufspringen und immer in verschiedene Richtungen ein Zeitlang mitfahren, mit Lokomotivführern, die die Fahrpläne auch nicht besser kennen, als wir selber. Manchmal wissen wir selber, was zu tun ist, manchmal wissen es andere.

Aber ihr und wir – wir machen unterschiedliche Erfahrungen, und die Summe unserer und eurer Erfahrungen wird der neue Verleih sein. Wir wollen keine Satzungsänderungen, um mit Leuten zu kämpfen. Wir sind manchmal ratlos.

Aber wir geben unsere Köpfe nicht an der Garderobe ab, und unseren Bauch haben wir auch immer dabei. Denn was soll das nutzen, wenn wir nichts zu fressen haben? Wir sind keine Ersatzkirche und auch keine Ersatzkirchenvertreter. Wir wollen das alles mit euch zusammen erreichen.

Mit euch, die ihr euch morgens um fünf aus dem Bett quält, und mit euch, die ihr euch an Fernsehredakteuren abarbeiten müßt, mit euch, die ihr um 9 Uhr die Auseinandersetzung mit dem Arbeits/Sozialamt führt, mit euch, die ihr um 10 Uhr in eurem Unisemiar sitzt.

Auch mit euch Filmemachern, die ihr euer Leben mit „Anträge-Formulieren“, „Geld-Besorgen“ verbringt. Auch mit euch, die ihr eure Filme vor zehn Leuten zeigen müßt, weil nebenan ein Fußballspiel läuft. Es gibt allerdings auch welche, mit denen wir nicht zusammenarbeiten wollen. Aber die wissen das selber, brauchen auch keine Filme und lesen diese Zeitschrift sowieso nicht.

Laßt uns zusammen anfangen. Wir wissen noch nicht alles. Aber wir haben nicht nur Wünsche und Hoffnungen, sondern auch eine Praxis. in den theoretischen Schriften stand jedenfalls nicht . . . laßt euch vereinigen.

Wie wir das nun innen konkret laufen? Wie wird der neue Verleih arbeiten? Der Verleih hat zunächst drei Mitarbeiter, die ökonomisch vom Verleih abhängig sind: W.K., E. S., A.R.

Dann einen weiter Mitarbeiter, der noch anderswoher Geld bekommt: Schorsch (K.G.W.). Falls der Verleih seine Rechtsform behalte) n sollte, dann wird durch zusätzliche Verträge eine derartige Machtzusammenballung wie bei C. vorgekommen, aus-geschlossen. Die Rechte der unterschiedlichen Interessengruppen wie Verleihmitarbeiter, Filmemacher, Spielstellen werden in einem Statut berücksichtigt. Falls es zu Interessenkonflikten kommen sollte. werden diese mithilfe von unabhhängigen Schiedskommissionen geklärt: nicht wie in der Vergangenheit mit Machtzusammenballung, ökonomischen Machtmitteln oder Landgerichtsurteilen. In Konfliktfällen bei Filmanschaffungen sollen Minderheiten nicht Filme verhindern können, sondern nur umgekehrt Minderheiten sollen ebenfalls die Möglichkeit bekommen, bestimmte Filme anzuschaffen. Nicht Ausgrenzung, sondern Vielfalt. Nicht Landgericht.

Zu den Organen des Verleihs

Oberstes Organ: Mitgliederversammlung, Genossenschafterversammlung, Anteilseignerversammlung oder wie immer auch das Kind heissen wird.

Zweimal im Jahr findet eine solche Versammlung statt. In ihr wird von den Verleihmitarbeitern und dem Kassenmenschen Rechenschaft über das vergangene Halbjahr abgegeben. Hier wied die gemeinsame Richtung für das nächste Halbjahr angegeben. Die MV beauftragt einen Vorstand. Der Vorstand vertritt in Rechtsgeschäften den Verleih nach außen. Außen kann sein: Postscheckamt, Bank u. a. . Dies ist seine einzige Funktion. Diese Tatsache führt nicht dazu , daß die übrigen Mitglieder oder Mitarbeiter mit dem Argument erpresst werden, der Vorstand hafte etc. . Seine Wählbarkeit wird zeitlich begrenzt. Mindestens ein fester Verleihmitarbeiter soll Mitglied des Vorstandes sein.

Verleihbesprechung. Diese VB ist das entscheidende Organ für Entscheidungen zwischen den halbjährlich stattfindenden Versammlungen aller Mitglieder/arbeiter. Dieses Organ gibt sich eine Geschäftsordnung, in dem der Teilnehmerkreis beschrieben ist.

Das sollten sein: der Vorstand, die festangestellten Mitarbeiter, die Teilzeitmitarbeiter sowie jene unbezahlten Mitarbeiter, die zeitlich begrenzt bestimmte Projekte des Verleihs betreuen. Kein Teilnehmer dieser Besprechung beansprucht für sich oder andere ein Vetorecht bei Entscheidungen. Es gilt das Konsensprinzip. Können wir auf diesem Weg zu keiner Entscheidung kommen, so stimmen wir ab. Stimmberechtigt ist der in der Geschäftsordnung genannte Teilnehmerkreis. Die Sitzungen finden wöchentlich statt.a Das sollten sein: der Vorstand, die festangestellten Mitarbeiter, die Teilzeitmitarbeiter sowie jene unbezahlten Mitarbeiter, die zeitlich begrenzt bestimmte Projekte des Verleihs betreuen. Kein Teilnehmer dieser Besprechung beansprucht für sich oder andere ein Vetorecht bei Entscheidungen. Es gilt das Konsensprinzip. Können wir auf diesem Weg zu keiner Entscheidung kommen, so stimmen wir ab. Stimmberechtigt ist der in der Geschäftsordnung genannte Teilnehmerkreis. Die Sitzungen finden wöchentlich statt.

Alle vier Wochen (jeden 4. Sonntag) finden Beraterversammlungen statt. Welche genaue Funktion diese Beraterversammlung haben könnte, darüber solltet ihr euch den Kopf zerbrechen.

Einige von uns denken, es sollte eine Meinungsbörse sein für Gespräche zwischen Verleihern, Benutzern der Filme und Filmemachern. Andere von uns haben die Vorstellung, daß man diesem Beratergremium die Auswahl der neuanzuschaffenden Filme übertragen sollte. Was wir gemeinsam verhindern wollen, sind Abstimmungsmaschinen. Vor allem keine Verwaltungsbürokratie. Und die Sache soll auch nicht zu einem Diskutier Verein verkommen, in dem Leute die Finger heben, deren Fingerheben in jeder Hinsicht für sie folgenlos bleibt.

Bisher alles noch veränderbar. Diskussionsansätze. Aber wir können auch nicht zwei Jahre mit der Umsetzung unserer Vorstellungen warten.. Der Büroalltag des neuen Verleihs wird folgendermaßen praktiziert. (jetzt auch schon teilweise):

Alle Verleihmitarbeiter sollen in gleicher, praktischer Weise Zugang zu allen Informationen des Verleihs haben. Um dieses Ziel zu verwirklichen, müssen künftige Informationsvorsprünge/Machtansammlungen verhindert werden. Dazu werden zunächst die sogenannten Routinearbeiten wie Filmberatung und Disposition der Filme (telefonisch/schriftlich), Versand und Kontrolle der Kopien, Katalogbestellungen, Anschriftenkartei u. a. auf alle anwesenden Mitarbeiter in einem wöchentlichen Rythmus gleichmäßig verteilt (Rotationsprinzip). Auch die restlichen anfallenden Arbeiten, die weniger termingebunden sind, wie Filmabrechnungen, Erstellung und Versand von Informationsmaterial, Sichtvorführungen und Filmbegleitungen, Einsatzstatistiken u. a. werden wöchentlich gleichmäßig verteilt. Im dritten Bereich sind die Arbeiten zu verteilen, die über längere Zeiträume zu bearbeiten sind, wie Kontoführung, Rechnungsabbuchung, Lohnbuchhaltung, Steuererklärung u. a.. Diese Arbeiten werden im viertel-jährlichen Rythmus auf alle Mitarbeiter gleichmäßig verteilt. Außer den genannten Arbeiten wird der Verleih unentgeltlich arbeitende „Projektmitarbeiter“ (wie in der Vergangenheit auch) für einzelne Aufgaben haben.

Das sind beispielweise Herstellung deutscher Tonfassungen ausländischer Filme, Rundreisen mit neuen Filmen, Herstellung von Hintergrundmaterialien für bestimmte Einsatzbereiche, Verbesserung des dezentralen Beratungsnetzes zusammen mit ähnlich arbeitenden Verleihgruppen in der BRD. Auch in diesem Bereich sind wir für Anregungen offen und für Angebote dankbar. Und im Gegensatz zu früher werden wir sie nicht jahrelang wohlwollend prüfen, bis niemand mehr davon weiß.

Im Verlauf unserer Auseinandersetzungen sind wir immer wieder auf ähnliche Fälle von Privatisierungsversuchen innerhalb des linken Ökonomie Bereiches gestoßen. Der Witz, in dem ein Kollektivmitglied ruft:

Chef, kannste ma kommen, hier will jemand was über unser Kollektiv wissen“, gehört für den Zentral Film Verleih Hamburg e. V. jedenfalls der Vergangenheit an.

Text: Jens Meyer Mai 1982/neu abgeschrieben im Februar 2021

Foto Henning Scholz

Die Sache war damit natürlich noch nicht zu Ende. Siehe Bemerkungen 2021. Nach fast 40 Jahren sollten auch die Namen der damals Beteiligten genannt werden: A. H. = Alfred Hilsberg; A. K. = Anne Kubina; A. R. = Andrea Rudolphi; C. L. = Christian Lehmann (Ehemals Vorsitzender der ZFV e.V.), K. J. = Klaus Jötten; D. L. = Detlev Lehmann; E. S. = Elfriede Schmitt; S. F. = Sabine Fischötter, J. M. = Jens Meyer; K. G. W. = Klaus Georg Wolf; N. H. = Norbert Huhn; T. T. = Thomas Thielemann; U. E. = Uwe Emmental; W. M. = Wolfgang Morell; W. K. = Werner Koch

Briefe an Wiebeke (II-2) Apropos Alexander Platz (Berlin)

Apropos Alexanderplatz (Nach wem ist er benannt, der Berliner Alexanderplatz?)

Romische Zahlen am BUG

Hallo Wiebeke, das muss eine Nacht im Januar oder Februar gewesen sein. Wir, die Deutschen waren damals noch zu zweit, (bzw. nach einer anderen Theorie auch zu dritt. Wolfgang Neuss, der Stern meiner Jugend und Tucholskyleser (Gripsholm), hat daraus gemacht: Eine typische Tucholsky Sauerei, was solln wir hier denn zu Dritt? Ich hatte jedenfalls gerade mein Stipendium von meinem Konto bei der Sparkasse der Stadt Berlin West abgeholt (440,– DM) und ueber den Bahnhof Friedrichstrasse die Stadt in Richtung des Ostteils verlassen, der sich damals laecherlicherweise Hauptstadt der DDR nannte. Ich weiss nicht mehr wie, aber mein letzter Aufenthalt war in der Muenzstrasse in einer Kneipe gewesen. (Mit einer Toilette im Keller). Als ich dann kurz vor Ladenschluss (24.00 Uhr) wieder im Traenenpalast war, um die Rueckreise anzutreten, stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass mein Pass, mein Visum und mein Stipendium in einem unbeachteten Augenblick (ich war zum Pinkeln in der Toilette im Keller) den Besitzer gewechselt hatten. Die Geschichte ist natuerlich noch laenger, aber hier kuerze ich sie jetzt ab.

Auf diesem Wege gelangte ich jedenfalls in das sagenumwobene Polizeipreaesidium am Alexanderplatz und hatte genuegend Zeit, ueber alles nachzudenken. Den ueberaus freundlichen Polizeibeamten (Sie nannten sich damals Volkspolizei – VP) habe ich mehrfach gebeten, mich in eine Zelle zu stecken, weil es auf dem Flur so schweinekalt war. Hat er nicht gemacht, mit dem Hinweis, ich wuerde morgen zur Bildzeitung laufen und dort schildern, wie man mich im Arbeiter- und Bauernparadies misshandelt haette. (Der VP hatte das Paradies in seinem Redebeitrag anders genannt, hab ich aber vergessen wie.) Obwohl ich versicherte, dieses nicht zu tun, hat er mich lieber weiter im Flur frieren lassen.

Jedenfalls haben wir zusammen die Nacht verbracht, nicht wie Du jetzt denkst. Wir sind mit seinem Trabant durch die naechtliche Hauptstadt der DDR gefahren, haben den Kneipenwirt aus dem Schlaf geholt und gefragt, ob er vielleicht zufaellig meinen Pass und mein Geld gefunden haette, hatte er aber nicht, wie er aus dem Fenster rief. Und, meine Hauptsorge, es war noch niemand auf meinem Pass in den Westteil der Stadt gelangt, was ich ueberaus freundlich von dem Dieb fand. Es haette sonst leicht so aussehen koennen, als dass ich meinen Pass an einen ausreisewilligen DDR Buerger verkauft haette, der die Absicht gehabt hatte, das Paradies der Arbeiter und Bauern lieber zu verlassen, und was der Gedanken der Klassenfeinde sonst noch so gewesen sein koennten. Nicht so ungeduldig sein. Deine Frage wird schon noch gestellt und auch beantwortet werden.

Jedenfalls, als mein Repertoire erschoepft war, habe ich dem VP genau diese Frage gestellt. Die, die Du mir auch gestellt hast. Die, nach wem ist der Alexanderplatz in Berlin genannt. Und da der Mann hochgebildet war, wusste er auch gleich eine Antwort. Der Alexanderplatz ist nach dem russischen Zaren Alexander, ich glaub es war der I., benannt worden. Ob das nun aber ein Vorname oder ein Nachname dieses Zaren war, habe ich damals nicht gefragt.

Offensichtlich waren die Russen mit ihren Peinigern immer auf Du, sonst waere ja Iwan, der Schreckliche auch ein Herr namens Herr Iwan gewesen. Ich weiss, das wolltest Du jetzt gar nicht alles wissen, aber so ist das nun mal. Das Leben ist kein Zuckerschlecken. Das Buch ist (falls Du noch nicht alles ueber den Stalinismus und die verfickte deutsche Revolution der Matrosen weisst) eine spannende Lektuere. Fehlt noch, wie es zu dem englischen Ausdruck kam: A little drink in the morning time, ist better, als den ganzen Tag gorkeinen, aber das ist eine andere Geschichte.

Achja, das Buch das ich Dir empfehlen wollte. Es hat den nicht gerade verkaufskraeftigen Titel: Von Kiel bis Leningrad. Bei der Nennung der Stadt Kiel kommt bei mir sofort die Idee der Langeweile und bei der Nennung der Stadt Leningrad kommt mir auch irgend was Langweiliges ueber die verlorene Diktatur des Proletariats in den Sinn. Jedenfalls kein Grund fuer eine Geldausgabe. Ohne langweilige Buecher kann man sich auch gut langweilen. Dieses Buch jedoch, man wuerde es nicht denken, ist tatsaechlich spannend. Und auch noch lieferbar. Erschienen im Berliner Basis Druck Verlag, und auch nicht ganz billig. Und mit vielen Worterklaerungen, 311 an der Zahl. Nur das Wort Sledowatel (auch Sledovatel), das mir zuerst auf Seite 263 aufgefallen ist, wird leider nicht erklaert. Doch die Suchmaschine Metager.org hat es gefunden: Sledovatel = Ermittler, Vernehmungsbeamter!

Das sollte der Basis Druck Verlag bei einer Neuauflage als Nummer 312 noch hinzufuegen. Achso: Das Buch heisst: Von Kiel bis Leningrad. (Untertitel: Erinnerungen eines revolutionaeren Matrosen 1917 – 1930) Autor ist Hermann Knüfken, ISBN : 978-3-86163-110-1, hat 474 Seiten und kostet 28,00 Euro in der gebundenen Ausgabe. Verlag: BasisDruck Verlag. Schliemannstr. 23 10437 Berlin, 030 44576 80. www. basisdruck.de

Buchumschlag

Briefe an Wiebeke (I-1) Die Freiheit des Andersdenkenden – (das klein gedruckte)

Romische Zahlen am BUG

PDF Freiheit359kleingedruckt

PDF Briefe an Wiebeke (I)

PDF RosaLuksenburgFreiheit

Hallo W., die erste Wahrheit (Prawda) im neuen Jahr: Ich hab herausgefunden, warum das Rozalia Luksenburg (richtige Schreibweise) Zitat oft ohne Quellenangabe abgedruckt wird. Dahinter verbirgt sich eine boese Absicht. Eine boese Absicht, die man nur herausfindet, wenn man das Zitat dann endlich gefunden hat. Ein Zufall fuehrte mich auf diese Spur. Ich hatte gerade ein Buch abgeschlossen und war sehr unzufrieden damit, wusste aber eigentlich nicht so recht, warum es mir nicht gefallen hat. Das Buch, dir kann ich das ja schreiben, ist von Florian Huber, erschienen im Berlin Verlag, was eine Unterabteilung vom Piper Verlag in Muenchen ist. Es heisst : „Die Rache der Verlierer, Die Erfindung des Rechtsterrors in Deutschland“. Leider verspricht der Umschlag mehr, als der Inhalt tatsaechlich hergibt.

Keine neuen Erkenntnisse, aber die alten Erkenntnisse sorgsam relativiert, so daß man mit den Nazis richtig Mitleid bekommt, wie schlecht man mit ihnen damals (AFD – NSU fehlt) und heute umgegangen ist und wird. Es ist langweilig und unnoetig. Besonders dann, wenn man vorher von Sebastian Haffner „Der Verrat“ gelesen hat. Aber ein Freund hat mir ein zweites Buch geschickt, was er vorher selber gelesen hatte und dieses Buch, ueber die gleiche Problematik (ebenfalls aus dem Piper Verlag in Muenchen), ist ein Jahr vorher erschienen und bringt tatsaechlich einige Informationen, von denen ich noch nicht wusste. Auf dem Umschlag der Titel „1918 Aufstand fuer die Freiheit – Die Revolution der Besonnenen“ von Joachim Käppner. Einzige Kritik an diesem Buch sind die Anmerkungen, die sehr unuebersichtlich und unpraktisch angeordnet sind, wenn man die Erklaerungen der Anmerkungen hinten im Buch sucht. Sie sind immer dem Haupttitel und nicht den Zwischenueberschriften zugeordnet.

Dort habe ich jedenfalls den Hinweis auf das Luksenburg (Luxemburg) Zitat gefunden und gleich mal das entsprechende Buch dazu bestellt, um zu ueberpruefen, was die Suche nicht gerade einfach macht, wenn man ueberpruefen will, wer was wann gesagt hat und ob die Quellenangaben tatsaechlich stimmen. Das mit der Freiheit und dem Andersdenken. Die Luksenburg Angabe stimmt jedenfalls. Das Zitat findet sich im Band 4, Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke. August 1914 bis Januar 1919, erschienen im Dietz Verlag Berlin (Ost) 1983. Auf Seite 359. Damit Du erleben kannst, was der Hintergrund fuer die Quellenangabe, die fehlende ist, habe ich Dir die Seite auf den Skaenner gelegt. In einer 4 Punkt Schrift befindet sich das Zitat im Kleingedruckten und war der Dame offensichtlich nicht so wichtig, erschienen unter Nummer 3 findet sich:
„3) Bemerkung am linken Rand ohne Einordnungshinweis: „Freiheit nur fuer die Anhaenger der Regierung, nur fuer die Mitglieder einer Partei – moegen sie auch noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen haengt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird. (Im Kapitel Zur russischen Revolution)““.

Weil es bei Frau Luxemburg eben nur kleingedruckt am Rand erscheint, deswegen verzichten die Damen und Herren Zitate Sucher immer darauf, den Platz zu nennen, an dem es gedruckt erscheint. Das musste mal geschrieben werden. Und noch ein Hinweis: Der Band 4 der Gesamtausgabe hat ein Vorwort von 56 Seiten. So viele Seiten sind sehr selten bei Vorwoertern. Das koennte man schon „Vor Roman“ nennen. Dazu kommt noch eine redaktionelle Vorbemerkung von zwei Seiten. Aber so ist das bei Menschen, die schon so lange nicht mehr unter uns weilen. Die koennen sich gegen sechsundfuenfzig (56) Seiten Vorwörter und zwei Seiten Vorbemerkungen nicht wehren. Das haette Rosa bestimmt gemacht. Der letzte Text in diesem Buch wurde in der Roten Fahne vom 14. Januar 1919 unter dem Titel: „Die Ordnung herrscht in Berlin“ veröffentlicht. (Band 4, S. 536) (Ps: Im Register gibt es keinen Hinweis auf dieses Zitat, obwohl das Register achtzehn Seiten hat. Aber fuer eine Randnotiz reichte wohl der Platz nicht aus. Das war 1983 vermutlich nicht modern, oder? Den Dietz Verlag in Berlin gibt es doch noch? Oder gehoert der schon einem Andersdenkenden?

Rosa Luxemburg 1915 Foto Paul Bommel (Wikipedia cc)

Endlich: Ein Denkmal für die ZwangsarbeiterInnen und -arbeiter

Der Senat tut etwas. Es tut sich was. Auf dem Gelände des Heiligengeistfeldes. Man sucht nach Blindgängern aus dem zweiten Weltkrieg und der Senat hat es sich nicht nehmen lassen und Geld in die Hand genommen, um endlich ein Denkmal für die Menschen zu errichten, die 1942-43 diesen Bunker errichtet haben. Bravo. Das ist gelebte Erinnerungskultur! Erinnerungskultur mit Fahrstuhl! Wenn sie das noch erlebt hätten. Sie haben diesen Bunker nicht freiwillig gebaut. Sie wurden, wie der Name Zwangsarbeit schon sagt, dazu gezwungen. Und so finden sich auch heute noch viele Blindgänger. Mit Graben hat das wenig zu tun. Und damit sie keine Treppen steigen müssen, bekommen sie Fahrstühle, die dem ehemaligen Flakbunker hinzugefügt werden. Neunundneunzig Jahre lang. Und alles ohne Luftballons.

Fotos Jens Meyer

Denkmal

Abschrift Wolfgang Abendroth Totalitarismus und andere Kleinigkeiten

Fragen an Wolfgang Abendroth zum Deutschland von 1929 – 1932 Abschrift /Auszüge aus den Seiten 116 – 140

Wie wurde der Faschismus innerhalb der SPD beurteilt? (Seite 116)

Innerhalb der SPD gibt es keine einheitliche Analyse; auch nicht in der Führungsspitze: Sie beschränkt sich auf verbale Randbemerkungen und verzichtet auf den Kampf gegen Zerfall des bürgerlichen Rechtsstaates aus Angst vor dem totalen Faschismus. Die SPD übersieht dabei, daß sie, indem sie durch immer neue Kapitulationen auf die aktive Vertretung der Arbeiterinteressen verzichtet, die Randschichten der abhängigen Arbeiter, also einerseits junge Erwerbslose, die noch kein Klassenbewußtsein haben, andrerseits Angestellte, in eine Verzweiflungssituation hineinstößt, in der diese Schichten durch die faschistische Massenbewegung manipulierbar und ihr zugetrieben werden. Die SPD redet zwar immer wieder gegen den Faschismus und gegen diese Massenbewegung, aber sie bildet kein Gegengewicht, da sie in der Praxis auf die energische Verteidigung der Arbeiterinteressen und der demokratischen Verfassungsnormen verzichtet. Im Gegenteil, sie kopiert die Totalitarismustheorien – sie werden damals noch nicht so bezeichnet, sind dem Inhalt nach aber mit denen der Gegenwart identisch. Die SPD behauptet nämlich, daß Kommunismus gleichbedeutend sei mit Faschismus, daß auch der Kommunismus eine Diktatur gegen die Arbeiter sei und daß die Arbeiter sowohl gegen den Faschismus wie auch gegen den Kommunismus kämpfen müßten. Dies ist der rechtssozialdemokratische Standpunkt, der Standpunkt des Parteivorstandes und die Position der preußischen und hessischen Staatsregierung. In beiden Ländern sind ja die Sozialdemokraten immer noch an der Regierung, in Preußen bis zum 20. Juli 1932, in Hessen bis zum bitteren Ende. (Seite 117 )

Wurde die Totalitarismustheorie auch in der linken SPD vertreten? (Seite 117)

Auf dem linken Flügel der SPD artikulieren sich sehr verschiedene Positionen, ohne daß es zu einer einheitlichen Theorie kommt. Das reicht von dem linkssozialdemokratischen Theoretiker Arkadij Gurland bis zu Ernst Eckstein (141) usw. Anhand der Zeitschrift Klassenkampf kann man die verschiedenen Auffassungen genau verfolgen. Eine Strategie oder eine Konzeption wird nicht entwickelt, weil die klassenpolitische Grundlage des Faschismus nicht analysiert wird. Gelegentlich wird die Politik der UdSSR unterstützt; trotzdem wagt es keiner, sich von der antibolschewistischen, wir würden heute sagen: Totalitarismus-Konzeption der rechten Sozialdemokratie zu distanzieren. Das bedeutet – trotz aller Einheitsfront-Forderungen-, daß man darauf verzichtet, eine (Seite 117) gemeinsame strategische Position mit den Kommunisten zu finden und sich ihnen als möglicher ernstlicher Bündnispartener anzubieten, so daß deren Sozialfaschismus-Theoreme überzeugend hätten überwunden werden können. So widerlegt sich der linkssozialdemokratische Standpunkt, soweit es ihn als eigenständige Theorie überhaupt gibt, in der Praxis selbst. Im Gegensatz zur KPD und zur SPD orientiert sich die KPO an einer sehr realistischen Analyse des Faschismus, die vor allem von August Thalheimer entwickelt worden ist“ . . . (Seite 118)

(Seite 120)

“In der Analyse Thalheimers, das will ich nochmals hervorheben, ist das Problem der faschistischen Massenbewegung jedenfalls richtig entwickelt. Wir haben solche faschistischen Massenbewegungen im Jahre 1923 in der Inflationskrise, als die verschiedenen völkischen Gruppen zur Massenbewegung werden, und auch ab 1929 in der großen Weltwirtschaftskrise, als die NSDAP aufzusteigen beginnt. Die Faschismus-Analyse Thalheimers ermöglicht es auch, die richtigen politischen Konsequenzen zu ziehen in der Weise, daß gegen eine solche Massenbewegung nur das machtvolle und geschlossene Auftreten der Arbeiterklasse helfen kann, so daß diejenigen Teile der abhängig Arbeitenden, die in ihrer Verzweiflung dazu neigen, zu den Faschisten überzugehen, politisch an die Arbeiterklasse gebunden werden und die Arbeiterklasse sich zu einer wirkungsvollen Alternative gegen die monopolkapitalistische Herrschaft entwickelt. Dies erkannt zu haben, ist das Verdienst Thalheimers und später auch Trotzkis. Die Richtigkeit von Thalheimers Analyse zeigt sich in Frankreich im Jahre 1934, in Spanien ab 1934/36, denn dort werden die faschistischen Massenbewegungen durch die Arbeiterklasse , die einheitlich auftritt, zunächst zurückgeworfen“ . . . (Seite 121)

(Seite 122 Mitte)

“Die Brüning-Diktatur ist zwar keine faschistische, sondern eine obrigkeitsstaatliche Diktatur zugunsten des Großkapitals und die SPD ist ganz gewiß nicht sozialfaschistisch, also ganz gewiß nicht der Hauptgegner der Arbeiterklasse. Die Sozialfaschismus-Theorie ist also in jeder Beziehung Unsinn. Sie verhindert, daß die wichtigste Vorbedingung der Einheitsfront erfüllt wird: Druck der Mitglieder und der Funktionäre auf die sozialdemo-kratische Parteiführung und Führung der Gewerkschaften. Aber man muß dabei bedenken, daß diese Theorie dem äußeren Anschein nach dauernd bestätigt wird. Die Sozialdemokratische Partei führt den Wahlkampf 1930 noch mit Parolen wie »Verteidigt die Verfassung gegen die ständige Aushölung der Verfassung durch Brüning; verteidigt den Lebenstandard der Arbeiterklasse gegen die ständige Reduzierung des Lebensstanddards mittels Notverordnungen«. Und diese gleiche Sozialdemokratie stimmt unmittelbar nach der Einberufung (Seite 123) des Reichstages für die Notverordnungen Brünings. Aus Angst vor dem Ansteigen der faschistischen Stimmen und der drohenden Diktatur kapituliert die sozialdemokratische Führung nun völlig vor der obrigkeitsstaatlichen Diktatur, die sie soeben noch als ihren Feind bezeichnet hatte. Und in der SPD sind nach dem Wahlerfolg der Nationalsozialisten auf Kosten der bürgerlichen Parteien alle so entsetzt, daß selbst in den linken Parteieinheiten und unter den linken sozialdemokratischen Abgeordneten es zunächst niemand wagt, gegen die Führung aufzutreten. Eben dieser Tatbestand verstärkt wiederum innerhalb der KPD die These vom Sozialfaschismus. Allmählich sammeln sich in der SPD – wenn auch nur vorübergehend – wieder die Kräfte, die gegen diesen Kurs opponieren. Daher wird die Zahl der Reichstagsabgeordneten größer, die für die Verteidigung der Verfassung gegen ihre ständige Verletzung durch die Regierung Brüning eintreten. Es werden auf unterer Ebene auch verschiedene Einheitsfront-Aktionen durchgeführt, allerdings lokal begrenzt. Insgesamt aber bleiben die Vorbehalte gegeneinander bestehen: es bleibt die sozialdemokratische Kapitulation vor Brüning, es bleibt die Vorstellung der Kommunisten vom Sozialfaschismus. Das geht schließlich so weit, das Reichspräsident von Hindemburg einen noch deutlicher obrigkeitsstaatlich orientierten Reichskanzler an die Macht bringt, von Papen, daß von Papen der Sozialdemokratie die letzten Machtpositionen, die sie noch hatte, zerschlägt (146) – und daß auch dann die Sozialdemokratie nichts anderes zu tun weiß, als nach Staatsgerichtshof zu rufen. Das ist lächerlich.“ . . . (Seite 123)

(Seite 125) Wie verhielt sich die Studentenschaft in dieser Zeit politisch?

In den Jahren 1928/29 stehen die Studenten – auch die jüdischen – fast alle rechts, sei es obrigkeitsstaatlich-monarchistisch, sei es faschistoid oder schon faschistisch. Die letzteren sind im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund organisiert. Die Studenten, die sich für Demokratie und Marxismus entscheiden, bilden bis 1928/29 eine extrem kleine Minderheit; Zentren dieser Gruppen sind damals Frankfurt und Berlin.“

(Seite 128)“. . . Wir alle (Walter Fisch, Oskar Müller, Emil Carlebach, Anton Döring u .a.) sehen, daß der Staatsstreich in Preußen unmittelbar bevorsteht. Welchen Sinn konnte der Regierungswechsel von Brüning zu Papen haben, wenn nicht den, die SPD völlig auszuschalten? Aber uns ist auch klar, was diese Entwicklung für die Arbeiterbewegung zu bedeuten hat – und also wollen wir Aktionen vorbereiten. Es kommt der 20. Juli 1932; Die SPD hat in Frankfurt im Hippodrom zu einer Versammlung aufgerufen. Anton Döring, der Chef der sozialdemokratischen militärischen Organisationen, will ebenso kämpfen wie die kommunistischen Genossen. Auf beiden Seiten besteht der Wille zum gemeinsamen Kampf. Wir sitzen mit den Genossen von den militärischen Organisationen, mit denen wir noch aus der Studentenbewegung verbunden sind, zusammen in der Wohnung der sozialdemokratischen Stadtverordneten Elsa Bauer, die der gesellschaftliche Mittelpunkt der sozialdemokratischen Intellektuellen war. Dorthin kamen oft Sinzheimer, Paul Tillich und andere. Auch Kommunisten sind an diesem Abend dort versammelt. Wir alle hoffen, daß jetzt losgeschlagen wird. Wir nehmen an, daß sich die Frankfurter Polizei neutral verhalten wird, und hoffen, daß die Darmstädter Polizei bei diesen Kämpfen auf unserer Seite steht. Bei allen herrscht ein entschlossener Wille zur Einheitsfront-Aktion. Die KPD macht der SPD zentral, d. h. nicht nur in unserem Bezirk, das Angebot, einen gemeinsamen Generalstreik und Abwehrkampf zu organisieren. Die Führung der SPD lehnt ab; sie sagt, sie werde sich streng legal verhalten und den Staatsgerichtshof anrufen; im übrigen müsse die richtige Antwort bei den nächsten Wahlen am 31. Juli gegeben werden. Auf der Versammlung im Hippodrom gibt es Pfeifkonzerte, als die Entscheidung der SPD-Führung bekannt wird. Bei uns macht sich Verzweiflung breit, Döring ist völlig resigniert. Denn spontan war zunächst eine Einheitsfront entstanden, nicht nur in Frankfurt, sondern in vielen Städten. Sie war nun wieder zerstört.“ . . . (Seite 129)

(Seite 129)Wenn aber die Arbeiter am 20. Juli 1932 bereit waren, eine Einheitsfront zu bilden und zu kämpfen, wie es es dann zu erklären, daß sie der Parteiführung der SPD folgten?

“Am 20. Juli sind die Arbeiter in den Militärorganisationen beider Parteien, in der Antifaschistischen Aktion und in der Eisernen Front, zum bewaffneten Kampf entschlossen. Auch Döring, Chef der Eisernen Front, will kämpfen, weil er weiß, daß seine Arbeiter hinter ihm stehen. Doch dann kommt der Befehl von oben, daß nicht gekämpft werden darf. Dieser Befehl setzt sich sofort durch, weil die Arbeiter nach der langen Periode vorher glauben, daß sie ohne ihre Führungen und ohne ihre Organisationen nicht mehr handeln, geschweige denn die bestehenden Organisationen sprengen und andere an ihre Stelle setzen können. Das unterscheidet diese Situation völlig von der der Jahre 1918, 1919/20 sowie von der Lage der Jahre 1922/23. Und so wird in der SPD-Veranstaltung im Hippodrom zwar gebrüllt und gepfiffen, als die sozialdemokratischen Abgeordneten sagen, daß die Parole »Kampf gegen den Staatsstreich« unsinnig sei und fallen gelassen werden müsse und daß die Wahlen das Entscheidende seien. aber das Schimpfen und Pfeifen bleibt folgenlos. (Seite 130 Mitte)

Man sieht, es existieren Ansätze von Gegenbewegungen, aber sie waren nicht autonom. Es waren keine revolutionären Bestrebungen. Man mußte aus der Verteidigung heraus kämpfen, das entsprach der Stimmung unter den Arbeitern. Der Ausgang der Reichstagswahlen im Juli 1932 zeigt einen Tiefpunkt des Stimmenanteils der Arbeiterbewegung und den Höhepunkt des Einflusses der NSDAP vor der Machtergreifung . Denn nun schwillt das Selbstbewußtsein der Nationalsozialisten an, und also laufen ihnen die kleinbürgerlichen Massen zu – das Selbstbewußtsein der Arbeiterbewegung ist im Vergleich dazu gering. Zwar gehen die Stimmen der Kommunisten nicht zurück, sondern wachsen sogar noch, während die Zahl der SPD-Wähler leicht zurückgeht. Aber die Mobilisierung der Wähler zur Wahlbeteiligung ist sehr groß, und die neuen Wähler engagieren sich nicht zugunsten der früheren Partei Papens, also des Zentrums, erst recht nicht zugunsten der liberalen bürgerlichen Parteien, der Staatspartei oder der DVP. Diese Parteien sind im Bewußtsein der Wähler überholt, deshalb stimmen sie für die NSDAP. (153)

(Seite 131) Nach den Reichstagswahlen bleibt von der Einheitsfront-Bewegung nichts übrig. Das Urteil, das der Staatsgerichtshof in Sachen »Preußen gegen Reich« fällt, ist ein Kompromiß ohne praktische Bedeutung. (154) Mit der Ablehnung des Einheitsfront-Angebotes der KPD durch die SPD war die Entscheidungsschlacht verloren. Daß die KPD ein solches Angebot machte, war ein großer, aber nur vorübergehender Fortschritt. Daß dieses Angebot abgelehnt wurde, hatte einen deutlichen Rückschlag in der Stimmung der kommunistischen Parteimitglieder zur Folge. Die Sozialfaschismus-Theorie schien abermals bestätigt zu sein und lebte wieder auf. Umgekehrt hatte die Sozialfaschismus Theorie der Kommunisten für die Sozialdemokratie die Funktion, eine gemeinsame Arbeit mit den Kommunisten ablehnen zu können. Dieser ganze negative Mechanismus verschärft sich in der folgenden Zeit. Der kommunistische Funktionär, der den gemeinsamen Abwehrkampf gewollt hat und meist arbeitslos ist, sagt sich, die SPD fördere den Faschismus sogar dann noch, wenn sie selbst betroffen sei. Inzwischen ist die KPD zu einer Partei der Arbeitslosen geworden, denn parallel zu ihrer Sozialfaschismus-Theorie praktiziert sie weiter die RGO-Politik.“ (S. 131) . . .

(Seite 137 Mitte) “Ich war damals Gerichtsreferendar am Oberlandesgericht Frankfurt in der letzten Station vor dem 2. Staatsexamen. Ich kannte sehr viele Referendare, die Mitglieder der NSDAP waren und nach den Wahlen im November 1932 aus der Partei austraten. Sie hatten darauf gesetzt, daß die Nationalsozialisten an die Macht kommen würden. Und da es nur ein sehr kleines Angebot an Juristenstellen gab, hatten sie gedacht, daß sie rasch aufsteigen könnten, wenn sie in der NSDAP seien. Nun verließen sie die Partei auf dem schnellsten Wege. Ein für kleinbürgerliche Massen typisches Verhalten: sie schwankten wie ein Rohr im Winde. Kaum war der 30. Januar 1933 da, waren natürlich alle wieder in der NSDAP. Und noch viele andere kamen dazu. Die Stimmenrückgänge in der Zwischenphase waren ein Zersetzungselement, denn eine faschistische Partei lebt vom dauerhaften Aufstieg; sie hat ja sonst nicht zu bieten.

An den Kommunalwahlen in Thürigen Anfang Dezember 1932 läßt sich dasselbe beobachten. Hier verloren die Nationalsozialisten sogar im Vergleich zu den Novemberwahlen erheblich an Stimmen. Vom Monopolkapital her gesehen war es somit nur folgerichtig, eine Petition an Hindenburg zu richten und zu verlangen, er möge Hitler zum Kanzler machen. Die Petition wurde von Schacht. Thyssen usw. unterzeichnet; nur wenige hielten sich fern und schlossen sich erst (Seite 137) später an (165).

Dieser Druck der Monopolherren war notwendig, denn wer konnte garantieren, daß die kommunistische Führung eines Tage nicht doch lernen würde, die Einheitsfront-Politik systematisch und konsequent zu handhaben? Hier kann man noch einmal an einem konkreten Beispiel die Grenzen der Faschismus-Analyse Thalheimers zeigen. Die NSDAP ist nicht aus eigener Kraft – wenngleich toleriert von der herrschenden Klasse – zur Macht gelangt, sondern sie kommt mit Hilfe der herrrschenden Klasse, die Druck auf die Spitze des Staatsapparates ausübt, an die Macht. Und zwar zu einem Zeitpunkt, da ihr Einfluß zurückgeht.“ (Seite 138)

(Seite 138 unten)

“Dann kommt der 30. Januar 1933, an dem Hitler die Macht an sich reißt, und alles ist aus. Es ergeht wieder ein Einheitsfront-Angebot der KPD, und die SPD lehnt abermals ab. Die KPD verfolgt diese Politik – allerdings schwankend – bis zur Notverordnung weiter, die nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 erlassen wird (167) und die Verhaftung Tausender Kommunisten zur Folge hat. Und dann gibt es wieder einen totalen Rückschlag nach ultralinks, als die Gewerkschaftsführung ab März 1933 in Etappen vor den Nationalsozialisten kapituliert und schließlich zu ihnen überläuft: Der 1. Mai 1933 ist nur der Schlußpunkt hinter der ganzen Entwicklung, die bereits im März 1933 begonnen hat. Die Gewerkschaften erklären zunächst, sie wollten mit den Sozialdemokraten nichts mehr zu tun haben, sie hielten sich nicht mehr für eine klassenkämpferische Organisation, sondern wollten mit der NSBO verhandeln und die Regierung Hitler unterstützen. Am 14. April ruft die Führung des ADGB die Arbeiter auf, am 1. Mai, dem »Tage der nationalen Arbeit« nicht klassenkämpferisch und nicht im Namen der internationalen Arbeiterbewegung zu demonstrieren, sondern die Rede Adolf Hitlers anzuhören und die »nationale Erhebung« zu unterstützen. (168). (Seite 139)

Auch die Führung der Sozialdemokraten leistet nur halbherzig Widerstand. Als nämlich der Reichstag zusammentritt, um über das Ermächtigungsgesetz (169) zu beraten, das immerhin von der SPD abgelehnt wurde, wagt der sozialdemokratische Abgeordnete Otto Wels nicht, daran zu erinnern, daß 81 gewählte Abgeordnete der Kommunistischen Partei das Parlament nicht betreten dürfen und – soweit sie nicht der Polizei und der SA entkommen konnten – in »Schutzhaft« sind. er erwähnt diesen Tatbestand mit keinem Wort. Er erwähnt nur ganz am Rande, daß es besser wäre, wenn die – etwa 12- sozialdemokratischen Abgeordneten, die inzwischen verhaftet und ins KZ gebracht wurden, im Reichstag anwsend wären. Daß fast alle kommunistischen Abgeordneten ebenfalls im KZ saßen, interessierte ihn nicht. Dem war vorausgegangen, daß der Versuch der Berliner Sozialistischen Arbeiterjugend, illegale Organisationen vorzubereiten, von ihrem damaligen Reichsleiter Erich Ollenhauer verboten worden war.

(Seite 140) Es wurde sogar mit dem Ausschluß aus der SPD gedroht für den Fall, daß solche Versuche weiter vorangetrieben würden. Der Parteivorstand der SPD forderte schließlich von der SAJ, ihre Organisationstätigkeit so lange einzustellen, wie dies der Polizeipräsident von Berlin verlange. Außerdem beschloß der Parteivorstand der SPD aus der Sozialisitischen Internationale auszutreten, weil dieser die Unwahrheit sage, wenn sie behaupte, es gäbe in Deutschland so etwas wie Konzentrationslager.(170) Die Rückwirkung dieser Politik der Parteiführung der SPD auf kommunistische Arbeiter und Funktionäre kann man sich leicht vorstellen. Als dann am 2. Mai 1933 die Gewerkschaftsführung abgesetzt wird, hätte man trotz allem selbst für sie kämpfen müssen. (171). Aber konnte man das von einem sozialdemokratischen Arbeiter erwarten, dem die Gewerkschaftsführer tags zuvor noch erzählt haben, der müsse für Hitler demonstrieren und nicht nur die Kommunisten, sondern auch die Sozialdemokraten preisgeben?“

Anmerkungen:

(141) Ernst Eckstein war Rechtsanwalt in Breslau und zunächst führendes Mitglied der Breslauer SPD; 1931 wurde er Mitbegründer der SAP und kam in deren Parteivorstand. 1933 wurde er verhaftet und im Mai 1933 zu Tode gefoltert; vgl. Hanno Drechsler, a.a.O., S 363(

(146) Gemeint ist von Papens Staatstreich in Preußen vom 20. Juli 1932; vgl. Karl Dietrich Bracher, a. a. O., S. 582 ff.

(153) Die NSDAP erlangte 13,75 Mio. Stimmern und hatte somit ihren Stimmenanteil in knapp zwei Jahren von 18,2 % auf 37,5 % erhöht. Der Stimmenanteil der SPD sank von 24,5 % auf 21,6 %. Für die KPD stimmten 5,3 Mio. Wähler, ihr Stimmenanteil erhöhte sich somit von 13,1 auf 14,3 % ; vgl. Alfred Milatz, a.a.O., S. 142 f.

(154) In dem Urteil des Staatsgerichtshofes vom 25.10.1932 wurde die endgültige Absetzung der SPD-Regierung in Preußen zwar für ungültig erklärt, die vorübergehende Verschiebung der sachlichen Zuständigkeiten auf den Reichskommissar aber als zulässsig anerkannt; vgl. Karl Dietrich Bracher, a.a.O.., S. 637 ff.

(165) Vgl.George F. W. Hallgarten, Hitler, Reichswehr und Industrie. Zur Geschichte der Jahre 1918-1933, Frankfurt/Main 1962, S. 108 f.

(166) Kurt von Schleicher löste am 3. Dezember1932 von Papen als Reichskanzler ab. Zum Kabinett Schleicher vgl. Karl Dietrich Bracher, a.a.O., S. 677 ff.

(167) Notverordnung zum Schutze von Volk und Staat vom 28. 2.1933

(RGBlI S. 141)

(168) Vgl. Hans-Gerd Schumann, a.a.O., S. 58 f

(169) Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24.3.1933 (RGBlI S. 141)

(170) Vgl. für dieser Periode der sozialdemokratischen Politik: Erich Matthias und Rudolf Morsey, Das Ende der Parteien 1933, Düsseldorf 1960. S. 151 ff.

(171) Am 2. Mai 1933 stürmten SA und SS die Häuser der Freien Gewerkschaften und die Redaktionsbüros der freigewerkschaftlichen Presse. Führende Gewerkschaftsfunktionäre und Redakteure der Gewerkschaftspresse wurden in Schutzhaft genommen; vgl. Hans Gerd Schumann, a.a.O., S. 70 ff.

Brief an eine juengere Freundin

Brief an eine Freundin (zwanzig Jahre juenger als ich) betrifft: Korona Buecher . Jetzt lese ich seit vier Tagen ein Buch, dass ich einmal vor gefuehlten dreissig Jahren gekauft habe, weil es als Maengel Exemplar besonders guenstig war und weil es ausserdem auch gut aussah in meiner Sammlung edition suhrkamp. Ich habe es, aufgrund des Titels, fuer ein Werk gehalten, das besonders viel Langeweile verbreitet. Langweilig und wissenschaftlich. Ein Buch, dass man auf jeden Fall nicht gelesen haben muss. Und jetzt (nach dreissig Jahren) nehme ich es aus dem Regal und entdecke, dass es aeusserst kurzweilig ist, es ueberhaupt nicht trocken wissenschaftlich ist und gerade zu amuesant. Es handelt sich um Band 820, der Reihe Edition suhrkamp. „Wolfgang Abendroth – Ein Leben in der Arbeiterbewegung.“ Gespraeche, aufgezeichnet und herausgegeben von Barbara Dietrich und Joachim Perels (2. Auflage 1977), da warst Du ja erst zwoelf Jahre alt. Vermutlich kennst Du es, weil Deine Beruehrungsaengste mit den Intellektuellen und jenen, die als Intellektuelle so daher kommen, ja eher geringer sind als bei mir. Jedenfalls habe ich großes Vergnuegen und habe endlich verstanden, warum so manches passiert ist, was ich bisher immer nicht verstanden hatte, wie z.B. den kampflosen Uebergang der Arbeiterbewegung, als am 30. Januar der Greis die Macht uebergeben hat. Jens

T 34 Denkmal in Berlin

na warum ist der wohl hier? Ich mein nicht das Tier.

Die Staatsanwaltschaft auf der Seite der Mörder

Abschrift: Wolfgang Abendroth Über Klassenjustiz und Arbeiterklasse in der Weimarer Zeit.(Aus Wolfgang Abendroth, Ein Leben in der Arbeiterbewegung, Edition Suhrkamp, Band 820, Gespräche mit Barbara Dietrich und Joachim Perels. Seite 96.)

„Klassenjustiz wirkte sich in mehrfacher Hinsicht gegen die Arbeiterklasse aus. In der politischen Strafjustiz insofern, als sich die äußerste Rechte an Verbrechen und Morden leisten konnte, was immer sie wollte. In den Jahren 1919 und 1920 wurden Hunderte deutscher Arbeiter von den Freikorps ermordet. (109) Es begann mit der Ermordung linker und kommunistischer Arbeiterfunktionäre, griff dann über auf Mitglieder der USPD, traf auch Pazifisten wie Paasche, schließlich auch bürgerliche Politiker wie z. B. Erzberger und Rathenau. (110) In den beiden letzten Fällen wurden zwar ernstliche Strafverfahren eingeleitet, im übrigen aber stand die Staatsanwaltschaft auf der Seite der Mörder. Kam es dennoch zu einem Strafverfahren, so wurden Scheinstrafen ausgesprochen – ich erinnere an den sehr spät durchgeführten Prozeß wegen des Mordes an Rosa Luxemburg (111) – , oder es erfolgte Freispruch. Wenn sich dagegen Arbeiter politisch etwas »zuschulden kommen ließen«, hagelte es Strafen noch und noch – so bei allen sogenannten Gewaltdelikten, dann in extensiver Auslegung dieser Gewaltdelikte wegen Landfriedensbruchs und Hausfriedensbruch bei Auseinandersetzungen in Versammlungen und schließlich bei der Teilnahme an Massenstreiks oder bei gewaltsamen Auseinandersetzungen wie nach dem Kapp-Putsch. Für die Justiz der damaligen Zeit war es selbstverständlich, daß sie Anlässe dieser Art benutzte, um hohe Strafen zu verhängen.“ (112)

(109) Freikorps waren gegenrevolutionäre militärische Verbände, die von Offizieren der alten kaiserlichen Armee gebildet und geführt wurden; vgl. Arthur Rosenberg, Geschichte Weimarer Republik, Frankfurt/Main 1961 S. 59 ff.; Emil J. Gumbel, Vom Fememord zur Reichskanzlei, Heidelberg 1962 S. 45 ff.(110) Vgl. Emil J. Gumbel, a.a.O. , S. 45 ff.(111) Vgl. Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, Dokumentation eines politischen Verbrechens, hrsg. von Elisabeth Hannover-Drück und Heinrich Hannover, Frankfurt/Main 1967, S. 59-126(112) Vgl. Emil J. Gumbel, a.a.O., S. 46 f. ; Heinrich Hannover und Elisabeth Hannover-Drück, Politische Justiz 1918-1933, Frankfurt /Main 1966. (Für alle, die es nicht wissen, bzw. nicht wußten (so wie ich) heisst a.a.O= am angegebenen Ort!)

Geboren am 6. Oktober 1935. Interview mit Walter Tennigkeit

(Sohn von Käthe und Richard Tennigkeit)

Interview mit Walter Tennigkeit am 29. März 2011 (10.198 Zeichen) Geboren am 6. Oktober 1935 J.M.: Wann genau sind sie geboren?

W.T.: Am 6. Oktober 1935.

J.M.: Erinnern sie da aus ihrer Kindheit noch irgendwas, was sie da noch erlebt haben? War das schon hier in dieser Siedlung?

W.T.: Ich hab hier . . . also in dieser Siedlung nachdem ich aus der Klinik gekommen bin mit meiner Mutter gelebt bis . . . ich zu meinem Vormund gekommen bin . . . Und da war ich also . . . da war ich neun . . . vorher war ich . . . wie die Verhaftung war ich achteinhalb. J.M.: Wann war genau die Verhaftung?

W.T.: Müsste ich in irgendwelchen Sachen gucken . . .

J.M.: Steht auch vorne an der Tür . . . das war 1944 . . .

W.T.: Das war 1944, das war im Frühjahr.

J.M.: Wie alt waren sie da?

W.T.: Da war ich achteinhalb.

J.M.: Achteinhalb . . . und entsinnen sie da noch irgendwas? Auch vorher noch was, was sie so als Kind noch erlebt haben oder so ?

W.T.: Also hier in der Berner Siedlung war ja . . . praktisch sone Insel, wo es nicht ganz so schlimm war . . . umging . . . ich weiß wir mußten irgendwann kriegten wir son Ding an die Hauswand, da mußten wir dann zu bestimmten Tagen ne Fahne reinstecken, meine Eltern hatten aber kein Geld für ne Fahne, ham sie gesagt, ne und ham sich denn . . . so ein . . . das kleinere häßliche zusammengenäht . . . nur um der Vorschrift genüge zu tun . . . das sind so Sachen . . . also das da denn sowas hing, warum sie ne kleinere, das hab ich natürlich nicht erst später . . . hintergekommen. Man macht sich ja also auch nicht so viel Gedanken . . . als Kind . . . da hat man andere Probleme . . . denn die Probleme, die die Erwachsenen hatten, mit dem Regime, da erfuhren wir nichts von. Durften wir nichts von erfahren, denn es war ja so . . . Spielkameraden wo . . . die aus dem Hause wo also NS begeistert waren und wenn ich mit dem über was geredet hätte was ich wenn ich was gewußt hätte . . . dann hätte der das seinen Eltern . . . und dann wär das schlimm gewesen. In der Schule waren also einige der Lehrer auch darauf aus die Kinder in die Richtung auszufragen, abzuklopfen vor allen wo man wußte, aus welchem Haus sie kommen . . . Mein Vater war hier im Gemeinderat und da wußte man natürlich, wo er steht, politisch und wurde man natürlich angebohrt von Lehrern . . . hab ich es bewußt nicht mitgekriegt ich konnte ja auch nichts sagen, weil ich nichts wußte. Das war also bewußt. so . . .

J.M: Haben ihre Eltern dieses Haus gebaut? Oder ?

W.T.: Nein dies ist eine Genossenschaft . . . eine . . . in den zwanziger Jahren gegründet . . . wurde . . . der sogenannte Gartenstadtgedanke . . . war geplant . . . das wurde also sehr viel in Eigenhilfe gemacht und das man dann später das in eigen ist es als übernehmen konnte. Und denn kamen aber die erste große Wirtschaftskrise und dann ging das nicht mehr und dann wurde das in eine Genossenschaft umgewandelt . . . ich meine, das gesagt wurde da . . . hat hier . . . je . . . eine Sparkasse oder die . . . na wie heisst sie noch die Landwirtschaftliche Geschichte . . . die hat also hier . . . auch im . . . im Buut (?) und auch am Bahnhof und so weiter auch noch die Felder zum Teil noch bewirtschaftet über einen Pächter und die haben also . . . Geld auch reingeschossen und dann Genossenschaft . . . es wird also nie mehr Eigentum Es wurde hier sehr viel in Eigenhilfe gemacht, die Strassen zum Teil wurden planiert und mit Grand und so weiter . . . Asphalt und so was gabs damals ja alles oder war nicht nötig, kamen paar Begrenzungssteine und das wars dann. Es wurden zum Teil für die Fussböden noch aus dem Wald der zum Teil noch . . . was gerodet wurde, zum Teil sollen Fußbodenbretter selbst gesägt worden sein, die anderen, die Häuser, die da hinten sind, diese Putzbauten da haben sie also selbst Mauersteine gebacken, in der Scheune, wo jetzt das Volkshaus ist, da war ne Scheune und da wurde zum Teil also die Steine selbst fabriziert und denn verbaut, also sehr viel in Eigenhilfe . . . aber . . .

J.M.: Was war ihr Vater von Beruf?

W.T.: Der war Dreher. Heute heisst das ja Zerspanungstechniker . . . ja das hat alles ja neu Namen. Naja, er war also Dreher. Hat also gelernt bei der Vulkan Werft . . . oder . . . nen Tochterunternehmen . . . oder was weiss ich . . . mein Großvater kam aus Stettin von der Vulkan Werft . . . als Schmied und ob er nun hier sich her nach Hamburg beworben hat oder versetzt wurde, weiß ich nicht. Ich konnte ihn nicht mehr fragen. Also, der ist bevor ich geboren wurde ist der schon verstorben und wenn man anfangt sowas zu fragen , dann wäre er ja noch älter gewesen. Ne also, der war Schmied und seine drei Söhne, die mit her gekommen sind, der eine war auch Dreher und der andere war Tischler, der hat nachher . . . hier in Hamburg im Hamburg im Arbeitsamt war er tätig, hat die Tischler betreut . . . nach dem Krieg, ja das war also . . .

J.M.: Und ihre Mutter, hat die auch einen Beruf gehabt?

W.T.: Ja, die war Kontoristin . . . sagt man dazu . . . hat man das früher wohl genannt, die hat also im Büro gearbeitet . . . und zwar in verschiedenen gewerkschaftlichen Sachen . . . in . . . das hab ich aber auch dann nur gehört . . . in Bäckerverband und nachher auch im Transportarbeiterverband und hat über die Gewerkschaftsbund also bei der Gewerkschaftsarbeit meinen Vater näher kennengelernt, der also bei der IG . . . bei der Metallarbeiterverband hiess das früher . . . Metallarbeiterverband auch ehrenamtlich tätig war so nebenbei . . . Gewerkschaft . . . den

J.M: Wissen sie noch, wo er zuletzt gearbeitet hat ?‘

W.T.: Das hiess Spillingswerk, was die gemacht haben, weiss ich nicht. Ich war mal mit meiner Mutter da und es war ja als Kind natürlich faszinierend, wenn da diese Stahlspäne so vom Drehstahl . . . vom bunten . . . sich so langsam durch den Raum schlängeln so . . . so das war also ganz interessant, aber was er da gedreht hat . . . es muß . . . im nachhinein kann man das so vermuten . . . also in der überwiegend in der Rüstung gewesen sein . . . denn er war uk gestellt . . . nannte sich das ja damals . . . also unabkömmlich im Wehrpass war abgestempelt . . . er mußte also in der Rüstung . . . vermutlich . . . oder für die Rüstung arbeiten.

J.M.: Ihre Eltern waren in der Kommunistischen Partei, oder?

W.T.: Ja, also mein Vater, soviel ich entnehmen konnte, was man so hört, liest oder noch gefunden hat, ja, meine Mutter kam aus der SAJ, das war die sozialistische Arbeiterjugend, die Jugendorganisation der SPD . . . die Kinder, die da vor waren, das nannte sich Kinderfreunde und ab einem gewissen Alter war es die SAJ , nach dem Krieg die Falken . . . das ist also . . . naja. Sie ist denn nachher aber in der USPD gewesen und von da aus nachher auch in die KPD. Also so. Ob sie vorher in der SPD war, weiss ich nicht . . . als Kind interessiert man sich nicht und fragt da nicht nach und weiss gar nicht was das ist. So ungefähr. Also das immer nur so im nachhinein, was man denn so zum Teil gefunden hat in Schriften und so weiter oder . . .

J.M.: Als ihre Eltern verhaftet wurden, da hatten sie ja gesagt, das hätten sie noch miterlebt. Also . . .

W.T: Ja

J.M.: Können Sie das noch mal schildern?

W.T.: Ja, also mein Vater . . . der wurde von der Arbeit abgeholt, der ist gar nicht mehr erst nach Haus gekommen. Und meine Mutter . . . wir hatten ja auf der Strasse . . . Stück weiter . . . Fußball gespielt . . . mit nen paar . . . und denn kam hier n Auto . . . kam hier ein Auto vorbeigefahren . . . ich glaub das war Wanderer war das . . . son komisches W war da vorne . . . habe ich also nachher erst . . . das das so einen Typ gab . . . ne . . . und denn stiegen zwei Männer in langen braunen . . . schwarzen Ledermänteln aus und gingen ins Haus . . . da wird man natürlich neugierig und guckt . . . aber naja . . . aber dann haben wir aber weitergespielt und dann hat meine Mutter mich reingerufen . . . und denn sassen die beiden Kerle da und . . . Bücherstapel . . . Bücherschrank leer geräumt. Radio hatten sie mitgenommen . . . oder da erst mal hingestellt . . . nachher mitgenommmen und dann also ich . . . wenn ich so die Körpersprache meiner Mutter . . . war Alarmstufe für mich . . . ich konnte das nicht . . . irgendwie sagen, was das nun ist . . . aber ich wußte das Alarmstufe Vorsicht . . . dann hat man versucht, mich auch auszufragen . . . nach Onkel Max . . . das war der Max Heykendorf, der untergetaucht war . . . den sie gesucht hatten . . . da hatten sie nachgefragt . . . und noch einen . . . einen . . . einen Bruns oder Brun, aber den kannte ich gar nicht, der soll aber hier auch übernachtet haben und untergeschlüpft sein und tagsüber war er denn irgendwo anders so . . . aber das habe ich als Kind nicht mit gekriegt. Ich weiss nur, dass wir da oben ne Abseite hatten und . . . .

J.M.: Unterm Dach?

W.T.: Unter der Dachschräge war ne Abseite, die hab ich jetzt rausgenommen, damit der Raum grösser wird . . . aber (lacht) und da war so ne Ausbuchtung von dem vorderen Fenster und da konnte man so rumkriechen und dahinter . . . da haben denn auch welche übernachtet . . . in der Anfangszeit . . . was ich noch genau . . . also . . . das hat man mich ausgefragt nach allem möglichen aber . . . weiss ich nicht . . . weiss ich nicht . . . das war . . .

J.M.: Wissen sie noch wann das genau war? Das war ja sicher lange bevor sie ermordet worden . . . sag ich mal so? Oder welche Formulierung haben Sie dafür?

W.T.: Bitte?

J.M.: Lange bevor Ihre Eltern ermordet wurden, nehm ich mal an . . . war das ja?

W.T.: Ja das war an dem Tag, an dem sie verhaftet wurden. Sie sind also Anfang 44 . . . ja dann haben sie . . . dann hat meine Mutter gesagt . . . ich muß jetzt mal mitfahren mit dem Auto, die haben Bücher und Radio eingepackt . . . und Du gehst rüber zu Frau Lübcke, die wohnte denn in Nummer 23 und heute abend dann kommt Tante Erna, die war mit ihrer Tochter, die waren ausgebombt in Habichtstrasse Barmbek, da in der Ecke ham die gewohnt . . . Dieselstrasse . . . waren ausgebombt . . . die hatten wir dann hier aufgenommen . . . der Mann war als Soldat irgendwo an der Front . . . und die war aber mit ihrer Tochter in Hamburg gewesen, hatten da Verwandtenbesuche gemacht und sollte erst abends nach Haus kommen. Ob . . . und das sind so Vermutungen . . . die man hat sie bewußt da zu irgendwo zu jemand hingelockt, damit sie nicht hier ist . . . es sind nur Vermutungen . . . das kann man nicht . . . sagen das das so war . . . wird so zum Teil so vermutet . . . ne das man sie bewußt hier nicht haben wollte . . . he . . . die Beamten . . . die Bekannten, da irgendwo nen Tipp gekriegt haben . . . lad die doch mal ei . . . so ungefähr . . . weiss ich nicht . . . kann sein . . . ja und denn . . . kamen die nachher abends rüber und ich wieder her und denn hab ich meine Eltern nie wieder gesehen . . . also . . . das war also . . . mann . . . zu Anfang ist das ja so, da denkt man . . . naja die kommen wohl irgendwann wieder . . . aber was . . . also man weiss denn auch nicht . . . man macht sich Gedanken . . . warum und weshalb . . . warum sind sie nicht da. warum kommen sie denn . . . so ungefähr . . . warum lassen sie mich hier allein . . . solche Gedanken hat man als Kind . . . denn natürlich . . .

J.M.: Waren sie ein Einzelkind? Oder waren da noch Geschwister?

W.T.: Ich war als Einzelkind übrig geblieben. Ich hab also einen älteren Bruder gehabt, der noch vor meiner Geburt gestorben ist. Damals war ja die Kindersterblichkeit relativ groß . . . oder größer wie jetzt . . . er hatte irgendwie . . . ne Krankheit . . . irgendwo . . . mit Durchfall und was weiss ich nicht alles . . . und hat das also irgendwie vielleicht auch . . . nach damaligen Gesichtspunkten . . . nicht vielleicht nicht ganz richtig behandelt oder wie oder was aber er ist verstorben und meine Schwester, die nach mir geboren wurde, die ich also nur gefühlt hab, wie sie im Bauch gestrampelt hat von meiner Mutter . . . das durfte ich dann auch, guck mal das hier . . . das ist dein Bruder oder Schwester . . . wußte man damals noch hatte ja damals kein Ultraschall . . . also naja . . . die ist aber aus dem Krankenhaus gar nicht rausgekommen. Da waren also . . . das Herz soll auf der falschen Seite gewesen sein und noch ein paar organische Schäden, die also . . . nicht überlebensfähig waren . . . und somit bin ich praktisch der einzigste der nachgeblieben wurde . . . entsprechend natürlich verpiepelt von meiner Mutter. Kann man sich vorstellen . . . ne, zwei verloren, jetzt müssen wir aber aufpassen . . . ne . . . ich weiss, da hatten wir so komische lange Strümpfe noch bis fast in den Sommer rein. Ich war kaum um die Ecke habe ich sie runtergekrempelt . . . (lacht)

J.M.: Oder das Leibchen . . .

W.T.: Das Leibchen und diese Hemdhosen . . . das waren die Leibchen und mit den Gummibändern . . . die wurde sofort abgemacht . . . und auf dem Rückweg wieder . . . aber so Sachen . . . gut das waren so Sachen . . . woran ich mich also recht genau erinnern kann . . . hier hinten auf dem Hof . . . jetzt ist der Schuppen . . . weg . . . . . . da stand son Schuppen dahinter war n Birnbaum und drunter . . . hinter dem Schuppen und rundherum waren Johannisbeerbüsche gepflanzt und in der Mitte war Rasen . . . so da konnte man Sitzen, ohne gesehen zu werden und waren hin und wieder immer Diskussionsrunden. Da kamen Leute, die ich nicht kannte . . . also . . . aber eine Person, die war also . . . weil sie entsprechend etwas größer war wie die anderen und . . . hat mich irgend wie fasziniert . . . das war der Adolf Kummernuß . . . der spätere ÖTV Vorsitzende . . . der Adolf Kummernuß . . . der kam mehr aus der aus der sozialdemokratischen . . . Richtung und hier waren also auch Kontakte zwischen den . . . obwohl die sich ja ne zeitlang . . . was zwar idiotisch war . . . aber gut . . . praktisch bekämpft hatten in der Hoffnung das . . . das sie nachher über die Stärkeren sind, wenn das . . . der andere Spuk vorbei ist, aber der andere Spuk ist stärker geworden, weil sie sich zum Teil selbst behindert haben . . . also hier war so ne kleine Kontaktstelle . . . ich weiss das von anderen, die hinterher gesagt haben, ja . . . ich wir haben da auch immer mit deinem Vater und mit deinen Eltern diskutiert und so weiter . . . Ich weiss auch, dass einige, die damals bei der KPD waren . . . also hinterher . . . nachher gesagt haben, ne also was die Kommunisten in Rußland machen gefällt uns nicht, die sind dann nachher bei der . . . so ähnlich wie Herbert Wehner, die sind dann nachher bei der SPD gelandet . . . solch gibt . . . so einer, der hatte mich darauf hin mal angesprochen. Aber also hier also war ne kleine Kontaktstelle und hier kamen auch . . . und die die nach dem Krieg also auch hin und wieder . . . noch wieder für mich gesorgt oder oder oder Behördensachen erledigt undsoweiter . . . die Gertrud Meyer. Gertrud Meyer, die hat ja Streiflichter aus dem Hamburger Widerstand mit der Ursel Hochmuth geschrieben. Die Gertrud Meyer, die war mit unseren Eltern befreundet, die kam hier öfter und wir waren auch da zu Besuch ja . . . die hat da

J.M.: Haben sie später mal rausgefunden . . . wie das . . . das war ja wahrscheinlich die Gestapo, die mit den grünen Mänteln . . . wie die da drauf gekommen sind?

W.T.: Es gibt dort verschiedene Versionen oder Vermutungen. Und die Vermutungen wer dahinter stecken könnte habe ich nie rausgekriegt, das hat man mir verweigert . . .

J.M.: Die Akte?

W. T.: Ne, habe ich nicht gesehen.

J.M.: Aber es gibt eine?

W.T.: Ja wahrscheinlich, die Verhörsakte . . . hab ich nicht gesehen. Ne ich wollte also gerne wissen, wer sie angeblich verpfiffen haben sollte. Gingen hier Gerüchte in Berne rum, aber wenn ich fragte, sie wissen es nicht. Sie hatten wahrscheinlich Befürchtung das ich dann irgendwie . . . hochkommende Rachegefühle hab und dann da . . . aber gut. Das ist also . . . mein Vater gehörte zu den Leuten, die kein Blatt vorn Mund nahmen und es ist so, wenn der in der Hochbahn sass und kam von der Arbeit und da war einer den kannte er gut aus der Bewegung heraus oder so, dann fing er an mit dem zu diskutieren und das war immer zieml . . . für die anderen oha Mensch Richard sei ruhig so ungefähr . . . und manche sind also wenn sie gesehen haben, dass er in die U-Bahn eingestiegen ist, in den nächsten Wagen gegangen, um . . . nicht der Gefahr ausgesetzt zu sein dass da irgendwelche Leute was mithören und sofort hinlaufen. Es kann also sein, daß diese . . . ja ich weiss nicht ob das mutig ist . . . vielleicht auch schon leichtsinnig zu bezeichnen, dazu geführt hat, dass ihn irgendeiner angezeigt hat. Meine Eltern aber . . . es gibt eben auch die andere Version, sie haben ja an dieser Widerstandsgruppe Bästler Jacobs Absagen, mit der Gruppe haben sie zusammen gearbeitet oder waren da mit bei und da soll einer . . . einen der gegen Franko gekämpf hat, ein Spanienkämpfer, der soll da gefangen genommen worden sein, umgedreht worden sein und hier nach Hamburg geschickt worden sein, und der war denn als Maulwurf hier und hat dann verschiedene Sachen hochgehen lassen. Das ist die andere Version.

J.M.: Hatten sie auch mal versucht, das rauszukriegen, da irgendwie im Staatsarchiv oder so?

W.T.: Ne ne ich bin . . .

J.M.: Es ist ja vielfach so gewesen, dass die Gestapo nicht so gut organisiert gewesen ist, nicht so viele Spitzel hatte, wie es der Staatssicherheitsdienst in der DDR hatte . . . Das die meisten durch Denunziation aufgeflogen sind.

W.T.: Es ist möglich, das die Version mit diesem Spanienkämpfer scheint mir wohl die richtige zu sein. Ich weiss das nicht. Denn die wußte ja auch verschiedene Namen und nach denen er gefragt hatte undsoweiter.

J.M.: Hat es denn einen Prozeß gegeben?

W.T.: Nein, es ist ohne Prozeß . . . sie sind ohne Prozeß . . . sind auch nicht hingerichtet worden . . . offiziell . . . mein Vater hatte es . . . durch die viele Arbeit und schlechte Ernährung . . . er hat nachher in Neuengamme, aus einem Brief geht das hervor, der er geschrieben hat . . . meinen Großeltern, dass er wieder als Dreher arbeitet . . . und mit Neuengamme, das habe ich dann auch mal wieder gehört und gelesen hatte Mauser mit Häftlingen zusammen gearbeitet . . . also da hatte er wieder als Dreher gearbeitet . . . Mauser war ja Waffenhersteller, nicht nur Schieblehren, sondern auch Waffen . . . also.

J.M.: Schieblehre hab ich ja noch.

W.T.: (lacht) Ja, ja der hat auch Waffen, Pistolen und Gewehre und so was gebaut.

J.M.: Im KZ?

W.T.: Im KZ oder ausserhalb, denn wurden sie eben irgendwo hingebracht in die Werkstatt und denn abends wieder zurück. Da ist er also krank geworden und ist angeblich an der Krankheit verstorben, ob er jetzt nun auch Folter ausgesetzt war in Verhören, wissen wir nicht. Es ist zu vermuten. Bei meiner Mutter war das so sich an Verführers Geburtstag erhängt haben, am 20. April war das glaub ich soll sich am 20. April am Bettgestell erhängt haben. Es gibt da eben Sachen . . . die sagen, man wollte sie erpressen, wenn sie nichts sagt, dann komm ich ins Heim, damit wollte man sie erpressen. Sie wollte aber nichts sagen. Das ist die einer Version und die andere Version ist an diesem Tagen wurde unter den Wachmannschaften heftig gefeiert und gesoffen und da kam es zu Übergriffen. Weiss ich nicht. Fuhlsbüttel. War ja Frauengefängnis und meine Tante, in dem Haushalt bin ich ja auch groß geworden, sein Vater war denn noch mein Vormund

(Ende Band 1)

(Band 2)

J.M.: Wo waren wir? Bei Detlev.

W.T.: Ja, also bei meiner Tante, die war mit ihren Eltern . . . also mit meinen Großeltern zusammen noch zu Leichenschau . . . und die hat gesagt . . . so sieht keiner aus, der sich erhängt hat. Weil sie auch schon . . . mal praktisch . . . Erhängte gesehen hat. So kann . . . ne . . . die muß anders umgekommen sein. So . . . aber wie, weiss man nicht . . . das war . . .

J.M.: In welcher Schulklasse waren sie als ihre Eltern abgeholt worden sind ?

W.T.: Ich war ja in der zweiten . . . hier in der Berner Schule . . . so ich war also in der Berner Schule . . . der Lehrer, den wir hatten, der schien ziemlich . . . naja . . . neutral zu sein, aber ich weiss das nicht genau, der war . . . der war hier mit einigen zusammen in der Klasse, die immer noch in Berne wohnen . . . früherer Sportsamtsleiter Heiner Widderich . . . der wohnte hier am Ende Moschlauer Kamp . . . oder . . . Rudolf Burack,

der Betriebsrat im Springer Verlag nachher war, mit dem waren meine Eltern auch befreundet und der Vater war aber im Krieg gefallen naja also, hier bin ich groß geworden . . . und ja wie das mit meiner Mutter dann . . . weiss ich nicht . . . also . . . das war eben . . . so offiziell, soll sie sich erhängt haben . . . und na . . . man weiss es nicht . . .

J.M.: Denen ist ja eigentlich nix zu glauben.

W.T.: Ja . . . nach dem Krieg hat sich denn der Adolf Kummernuß auch ein bißchen drum gekümmert, der hat dann über die . . . ÖTV, wie sie dann nach dem Krieg . . . mir eine kleine Zusatzrente . . . 50,00 Mark im Monat oder so hab ich da gekriegt . . . das weiss ich noch . . . bis ich dann selbst in die Lehre kam und denn . . .

J.M.: Was haben sie da gelernt?

W.T.: Ich hab ja . . . heute nennt sich das Konstruktions Mechaniker

J.M.: Maschinenschlosser?

W. T.: . . . Stahlbauschlosser

. . . beim Kampnagel. Den Kranbau.

J.M.: Hatte ich auch Leute, die in meiner Berufsschulklasse waren von Kampnagel. Ich hab doch HDW gelernt.

W.T.: Bei Kampnagel habe ich gelernt und denn bin ich vorher hin noch mal zum Gewerkschaftshaus . . . mich bedankt . . . hab ich zum Abschied noch ne Armbanduhr geschenkt bekommen . . . und die Frage war, was machst du, was lernst du auch bei Kampnagel . . . bist denn schon in der Gewerkschaft . . . ich sach . . . ne noch nicht, aber das ist für mich also ganz klar..und denn sagte er . . . Moment, denn is er runtergegangen . . . kam er wieder mit Mitgliedsbuch . . . März schon bezahlt . . . April mußt du selbst bezahlen, sagt er, denn bist du in der Lehre . . . denn bin ich also gleich ab ersten Tag in die Gewerkschaft . . . ich bin also . . . es hat bei mir . . . wollen wir mal ein büschen zurückblenden . . . ich war ja hier . . . nachdem mein Vater verstorben war . . . mußte mein Onkel, mußte einer die Vormundschaft übernehmen . . . das hat mein Onkel gemacht . . . und dat güng aber nur , wenn ich da wohn . . . so . . . und nun ist das

J.M.: Das war jetzt Detlevs Vater?

W.T.: Detlevs Vater . . . und hier dieses Haus . . . was also meine Eltern . . . man muß sagen . . . die Satzung sagt, das Nutzungsrecht in grader Linie vererbbar . . . So nun war ich Erbe für dies Nutzungsrecht . . . in vielen Gartenhäusern wurden eben auch Verfolgte rausgeschmissen und wurden Nazis reingesetzt . . . hier hat der damalige Geschäftsführer . . . ich glaub Ahrens hiess der . . . oder so . . . aber . . . bin ich nicht ganz sicher, gesagt, nein (klopft auf den Tisch dreimal) . . . das schreiben wir auf den Namen von Walter T. . . nur ich war nicht wohnberechtigt . . . und ich wohnte ja auch gar nicht mehr . . . ich wohnte ja bei meinem . . . Dings . . . und denn hatten wir ja aber die Ausgebombten noch wohnen und dann nachdem . . . deren Häuser . . . die haben dann also hier gewohnt . . . praktisch als Untermieter bei mir . . . komische Konstruktion . . . aber . . . das ist wieder die andere Seite, es gab auch bei den Nazis vernünftige Leute . . . oder . . . oder . . . vernünftig kann man da nicht sagen . . . vernünftige Leute sind keine Nazis geworden . . . aber, es gab also Leute, die bißchen humaner waren . . . ne das kriegt der Sohn und so weiter . . . und deswegen bin ich nachher . . . wie ich geheiratet habe, gleich wieder hier rein . . . so lange habe ich bei meinem Onkel und Tante gewohnt . . .

J.M.: Entsinnen sie noch wie man sie als Kind behandelt hat? Weil ja wahrscheinlich bekannt war . . . dass.

W.T.: Also hier in der Berner Schule war das natürlich bekannt. Aber in dem Moment . . . also von der Verhaftung im Frühjahr bis zum Herbst . . . bis zum Tod meines Vaters war ich hier noch an der Schule und dann kam ich nach Oldenfelde . . . weil mein . . . die wohnten damals in der . . . heute heisst sie Wolliner Strasse . . . früher hiess sie Farmsener Strasse . . . wohnten in der Farmsener Strasse und von da sind wir in der Oldenfelder Schule mit meinem Cousin . . . mit Detlevs . . . ja Detlev ist der jüngste, da ist der zweitjüngste Bruder . . . in einer Klasse . . . der ist also ja . . . vier Monate jünger wie ich, ich bin im Oktober und er ist im Februar geboren nich . . . also . . . waren wir in einer Klasse und da wußte das keiner . . . und den Lehrern hatte man das halt eben nicht gesagt . . . die Eltern sind . . . im Krieg umgekommen . . . um . . . damit ich von einigen . . . und wir hatten da eine Lehrerin, das war . . . die war so nicht ganz . . . die hat man zwar nachher übernommen, weil es keine anderen Lehrer gab . . . aber . . . das war sone Nazi Tante . . . aber . . . wußte man das halt nicht erzählt. Und denn sind wir, als denn meine Großeltern starben . . . also die Eltern von Detlevs Mutter . . . wo wir vorher gewohnt hatten in der Wolliner Strasse . . . das war der Vater von Detlevs Vater . . . und der hatte . . . sein Vater hatte noch zwei Schwestern . . . die eine wohnte aber in drüben in irgendwo . . . Riesengebirge . . . ist aber denn mit Krieg oder mit hergeflüchtet und die andere war hier irgendwo in Norddeutschland Krankenschwester und da hatten sie also erst den Vater von meinem Onkel . . . praktisch hat meine Tante mit versorgt . . . der war ja allein, er war Witwer . . . aber wie denn mein Großvater starb . . . also von Detlevs Mutter der Vater dann konnte meine Oma da am Knill . . . mit dem Haus und Garten nicht alllein zurecht kommen und denn haben sie gesagt, denn ziehen wir dahin . . . und denn bin ich nach Farmsen zur Schule gekommen. Ich weiss sie hatten . . . um jetzt noch mal wieder auf Schule zu kommen . . . einen Lehrer hatten wir . . . das war ein Fachlehrer . . . ich sag nicht, was der immer unterrichtet hat . . . jedenfalls hatten wir bei dem Physik oder Chemie oder irgend sowas . . . und wenn der aus dem Lehrerzimmer kam . . . riß er die Tür auf: Heil Hitler, dann machte er die Tür zu, guten Morgen Jungs . . . (lacht) also der . . . der mußte nach aussen hin . . . das sind so Sachen . . . so einzeln Sachen, die . . . sind dann irgendwo . . . das sind Erlebnisse . . . die hat man gespeichert . . . und das weiss ich noch . . . ja und und den Lehrer, den wir dann in Farmsen hatten, der war kurz vor der Pensionierung, das war auch ein Altnazi . . . und dann hatten wir einen gekriegt . . . der war als Lehrer sehr gut . . . war . . . inzwischen hat man sich ja politisch auch ein bißchen . . . würde sagen . . . na . . . ein deutsch-nationaler gewesen . . . aber kein Nazi, in dem Sinne, der hatte noch irgendwo einen klein bißchen Land draußen in Schleswig Holstein und ackerte da auch noch selbst und bei dem haben wir dann verdammt viel gelernt . . . nech wir sind also . . . ich sag mal so . . . aus der Volksschule entlassen worden . . . mit einem Niveau, was heute die Mittelschule hat, ausser Sprachen, ausser Englisch . . . in der Zeit, wo Englisch war, haben wir im Bunker gesessen, sag ich immer so . . . also wir haben nicht viel Englisch gehabt . . . aber . . . ja es kam nachher Englisch . . . aber den habe ich bewußt . . . mich rauskatapultiert, in dem ich Mist gemacht hab und dann wurde ich rausgeschmissen, ich wollte Englisch nicht . . . aus einem ganz anderen Grunde . . . ich hätte zur Mittleren Reife . . . zum Oberbau . . . hiess es ja damals und da war das Englisch Pflicht und das wollte ich nicht . . . ich wollte, so schnell wie möglich auf eigenen Füssen stehn, Geld verdienen, ich hatte immer son bißchen das Gefühl, ich lieg meinem Onkel und Tante auf der Tasche. Ich hatte zwar die . . . von der Gewerkschaft die kleine Rente und ich hatte die Waisenrente von meinen Eltern . . . ne aber das . . . ich wollte schnell selbst Geld verdienen . . . Das war so ein Grund, dass ich bewußt gesagt hab, ne ich will Volksschulabschluß . . . schnell raus in Büro . . . wollte eigentlich schon in der achten Klasse abgehen, aber dann hat man mich aber . . . nee . . . damals konnte man die neunte Klasse noch machen, ne ne machen wir alle. Und der hat uns also so kann ich zwar auch nicht mehr Algebra mit zwei Unbekannten . . . was ich gut noch genutzt hab war . . . er hat uns Stenografie gelernt . . . das konnte ich in der Berufsschule gut gebrauchen . . . das ist jetzt auch versandet, man braucht das nachher nicht mehr . . . all solche Sachen hat er gemacht . . . also das war gut . . . war ein guter Lehrer . . . muß ich schon sagen . . . der ist mit uns auf Klassenreise gegangen . . . Fahrradtouren . . . und all sowas ne . . . ins Zeltlager . . . Schulzeltlager . . . und alles . . . das war also die schulische Sache . . . aber bevor ich überhaupt wieder so bißchen sogenannten . . . an der Gesellschaft, oder an dem Leben in der Gesellschaft mich erst wieder mit eingebracht hat, das hat lange gedauert . . . ich hab mich also in meinen Schmollwinkel zurück gezogen, wie man so schön sagt . . . gut zuhaus in der Familie war es was anderes, aber nach aussen hin immer . . . ogott . . . und sind das vielleicht auch so welche, die son Mist gemacht haben und so weiter und . . . hat lange gedauert und an sich hab ich da . . . oder hat mir da geholfen unser Nachbar . . . der Sohn, der war beim Wandervogel . . . Bündische Jugend . . . und der erzählte immer . . . hallo und machen . . . machen wir . . . und das ist ja was . . . sag ich . . . da möchte ich mal mit . . . ne sagte mein Onkel und Tante . . . das ist nicht im Sinne deiner Eltern . . . wenn du so was machen willst, dann geh zu den Falken . . . so . . . ja natürlich . . . dann hab ich da in der Klasse . . . dann hatten wir in der Klasse einen Kameraden, der war in den Falken . . . und denn haben wir da mal auf dem Nachhauseweg so geschnackt . . . na dann komm doch mal mit und durch diese ganze Gruppengemeinschaft . . . Gruppenerlebnis bin ich also so . . . das war der Rückkehr wieder in die allgemeine Gesellschaft . . . sag ich mal so . . . und da haben wir uns natürlich auch politisch interessiert . . . und das war unten . . .

J.M.: Detlev hat davon erzählt, dass die Mutter, seine Mutter immer schlecht von den Kommunisten geredet hat irgendwie . . . ja die haben da nen Fehler gemacht . . .

W.T.: Ja natürlich . . . äh . . .

J.M.: Ja, sie war wohl mehr sozialdemokratisch . . .

W.T.: Mein Großvater, meine Großeltern, von meiner Tante die Eltern, die waren Sozialdemokraten durch und durch . . . ihr Bruder . . . ihr ältester Bruder ist im ersten Weltkrieg schwer beschädigt worden und ist später an diesen Kriegsschädenfolgen früher verstorben als normal. So kann man das wohl sagen . . . dann hatte sie eben meine Mutter, die war aber sechs Jahre älter wie sie, sie war die jüngste und dann war da noch ein Bruder, der . . . war bei der Hamburger Feuerwehr Brandmeister . . . und der ist also in Bremen . . . in Bremer Einsatz . . . Hamburger haben da Bremen geholfen wie die . . . da isser er . . . da ist ihm ein Balken ins Genick gefallen . . . wollt er noch mal rein . . .

J.M.: Während des Krieges?

W.T.: Ja, während der Bombenangriffe, da ist er umgekommen, der mußte aber um seinen Job zu behalten als Brandmeister bei der Feuerwehr . . . hatte er immer diese Wollhandkrabbe . . . wurde immer gesagt . . . ja . . . NSDAP Abzeichen, ja, ja, das mußte er, sonst hätte er seinen Job verloren . . .

J.M.: Wollhandkrabbe . . .

W.T: Ja, genauso der eine Bruder von meinem Vater, der Otto, der nachher im Arbeitsamt war, der war nach dem Krieg SPD und der hat auch . . . wie er in der . . . während der KZ Haft ist seine Frau fremd gegangen und anschliessend war die Scheidung, wie er wieder raus kam . . . und der hat als Tischler keine Arbeit gehabt und ist denn . . . weil er früher auch wandern und so weiter . . . meine Eltern waren ja auch Jugendliche . . . in Jugendbewegung gewesen . . . eben nicht in der Wandervogelbewegung . . . das war die bündische . . . aber in der Arbeiterjugendbewegung und da ist er . . . da hat man ihm einen Job angeboten beim KDF . . . das ist diese Urlaubssache . . . der Nazis Kraft durch Freude . . . nannte sich das . . . und dann hat er da Wanderungen, Touren, Reisen organisiert. und da war mein Vater . . . das weiss ich . . . die haben sich da gekanzelt . . . bloß so ungefähr . . . ja das war also so, daß einige sagten, also . . . ich muß irgendwie überleben. Dann brauchte er auch nicht zum Militär . . . und der andere On . . . äh Bruder Bruno, der war auch Dreher . . . hat auch in der Rüs . . . der hat bei Kampnagel Dreher als Dreher gearbeitet . . . die haben auch teilweise Rüstung gemacht . . . und . . . also insofern . . . ja soll man das verurteilen? . . . also das haben ja viele, um ihre Haut zu retten . . . zumindestens . . . ein bißchen mitgespielt . . .

J.M.: Es war ja von dem . . . den Fallada noch mal gelesen . . . ja nicht noch mal gelesen sondern jetzt grade gelesen. Der ist also in den USA jetzt grade so . . . Kleiner Mann . . . wie heisst der noch mal . . . Jeder stirbt für sich allein, weiß ich nicht, ob sie das kennen. Das ist war früher mal aufgelegt, das ist die Geschichte von zwei Eheleuten . . . Eheleuten, deren Sohn im Krieg fällt, wie man so sagt, irgendwie . . . und wo die Mutter dann anfängt . . . dann fangen sie an so Postkarten zu schreiben, die sie überall hinlegen und werden dann irgendwie aber nach zwei Jahren, obwohl das ganz heimlich läuft also werden sie festgenommen und umgebracht im Knast. Dieses Buch ist jetzt grade wieder . . . das kommt über Frankreich, das ist zwar schon 46 in Deutschland erschienen und ist jetzt in den USA ein großer Renner geworden, irgendwie . . . und jetzt hab ich es mir denn auch noch mal geholt . . . Das ist eine differenzierte Geschichtsdarstellung von so einer Berliner Paar.

W.T.: Ja, das sind also so . . . da bin ich ja so langsam wieder ich zwischendurch war ich auch dreimal verschickt . . . nicht von der Schule, dafür war ich zu schwer, obwohl ich dünn war, ich hatte immer das Gewicht, was man in meinem Alter haben mußte, aber ich war eben dünn . . . verschickt von der vom Komitee ehemals politischer Gefangener hiess das zu Anfang, daraus ist die VVN hervorgegangen und die Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten . . . die haben sich getrennt nachher . . . zuerst waren sie zusammen . . . als Komitee ehemaliger . . .

J.M.: Jetzt nach dem Krieg?

W.T.: Nach dem Krieg . . . und von diesem Komitee oder nachher war das wohl auch schon VVN war ich drei mal in Steinbeck . . . Steinbeck bei Buchholz, da hatten sie ein Kinderheim . . . und da wurden wir dann . . . einmal ernährungsmässig büschen aufgepeppelt . . . wir wurden . . . hatten da nen Lehrer, der Unterricht ging weiter . . . also weil wir da fast sechs Wochen oder was waren . . . wär der Schulausfall wohl zu groß gewesen . . . und dann war ich noch von Oktober bis Dezember in Dänemark bei Draning Mölle . . .

J.M.: In welchem Jahr war das?

W.T.: Das war . . . das war . . . schon nach dem Krieg . . . das war . . . wann kann das gewesen sein? 1947/48 . . . ich glaub 47 muß das gewesen sein, von Dezember bis Weihnachten . . . Neujahr warn wir wieder hier . . . und da war das also noch so . . . das waren alles aus ganz Deutschland Kinder von Opfern . . . vom NS Opfern . . . Kopenhagen auf dem Hauptbahnhof mit Blitzlicht und allem möglichen, ging durch alle . . . alle Zeitungen da in Kopenhagen . . . und wir waren in der Nähe von Helsingör, kleiner Ort . . . Drönningmölle, übersetzt heisst das Königsmühle , dronning ist der König, von der Drohne bei den Bienen . . . aber na gut, also gut . . . also in Dronningmölle waren wir und das in einem Hotel, das einer Reederfamilie gehörte und im Sommer aber keinen . . . deswegen von Oktober bis im Sommer war das also nicht belegt . . . da war nur im Sommerurlaub damals, heute macht man ja auch im Winter an der Küste Urlaub . . . aber damals war noch, da waren wir ein Vierteljahr . . . und das war eigenartig . . . obwohl das also bekannt war , was wir für Kinder waren . . . wenn wir auf der Strasse mit paar waren oder gingen und haben deutsch gesprochen wurden wir ganz schief angekuckt. Also ja, das war eigenartig . . . obwohl sie genau wußten, dass also wir imgrunde ja nicht zu gehörten . . . jetzt wissen sie ja, wenn Deutsche kommen, freuen sie sich, die bringen Geld mit . Aber gut, das war aber damals, gleich nach . . . der Zeit . . . das sind so Sachen, die man dann in Erinnerung hat . . .

J.M.: Wann haben sie das erste mal so erzählt, was mit ihren Eltern passiert ist und das das Kommunisten waren?

W.T.: Also das hab ich ja . . . praktisch immer nur durch hier und da mal gefragt . . . man hat mir zum Beispiel nie gesagt, dass meine Eltern nicht mehr leben . . . das hat man mir nie gesagt, das hab ich nur so dann . . . wenn man eins und eins zusammenzieht . . . dann und denn nachher . . . wie das also klar war . . . ich mußte also mindestens vier mal im Jahr mit Oma zum Friedhof . . . das hat mir die Sache so verleidet . . . ich sach also . . . ich denk mehr und öfter an meine Eltern, wie manch einer . . . aber ich brauch nicht irgendwo ein bestimmtes Stück Erde hinlaufen, mir drei Tränen abquetschen und wieder nach Haus gehen, das ist dummes Zeug sag ich, brauch ich das nicht . . . aber das ist Ansichtssache . . .

J.M.: Da ist ein Stein auf dem Friedhof . . . in Ohlsdorf oder wo?

W.T.: Mein Vater ist nicht auf Ohlsdorf, der ist da nicht hingekommen. Die hatten in Neuengamme ein eigenes Krematorium und die Asche wurde da verstreut. Ich hab dann mal ein paar Führungen mitgemacht . . . und hab mir das mal angekuckt und da sacht er . . . ja hier . . . hier ist irgendwo die Asche verstreut und meine Mutter war beigesetzt worden im Grab ihres ältesten Bruders, der also verstorben war durch die Kriegsein . . . verwundung, das ist nachher aufgehoben worden, die Witwe von dem, die wollte das auch nicht verlängern und meine Mutter ist . . . hat jetzt eine . . . die Gedenkspirale im Garten der Frauen . . . das war mir viel wichtiger als im . . .

J.M.: Haben sie noch . . . so . . . Erinnerungen an die 50iger und 60iger Jahre in Deutschland, was sie da so erlebt haben in Bezug auf ihre Eltern . . .

W.T.: Naja, ich war dann seit . . . acht . . . seit fünfzig . . . seit fünfzig . . . seit neunundvierzig fünfzig . . . da waren wir im Sommer viel unterwegs . . . Urlaub im Zeltlager . . . wir haben also sehr viele schöne Erlebnisse und gemeinsame Touren und Sachen gemacht und das ist nachher soweit . . . und wie wir nachher grösser wurden und die Gruppe sich auflöste . . . altersmässig . . . da haben wir dann noch jahrelang danach Zeltlagerbetreuung für andere Kinder gemacht also Gästekinder, die keine eigene Jugendgruppe hatte und so weiter . . . ich hab im Zeltlager immer den Technikbereich mit abgedeckt . . .

J.M.: Mir fällt das so ein, weil ich selber bin Jahrgang 46 und hab selber sehr viel gefragt so bei meinen ganzen Verwandten wie das so war in der Nazizeit, bin auch oft mit meinem Vater da um Neuengamme rum gefahren, aber er hat nie erzählt, was das eigentlich genau war, ja und den einzigen, den ich eigentlich hatte, der offen mit mir umgegangen ist, war mein Onkel, der warn strammer Nazi gewesen in der Zeit. Der war in Bergedorf beim Briefmarkenverein und das war der einzige, zu dem ich irgendwie Respekt hatte, alle anderen, habe ich immer gedacht, mein Gott, ihr seid da dicht dran vorbeigelaufen am Bergedorfer Bahnhof, Bergedorf West und da sind irgendwie 500.000 Menschen >umgeschlagen< worden.

W.T.: Müsst ihr doch gesehen haben.

J.M.: . . . und ihr habt mir erzählt, ihr hattet das nicht gesehen, was denn noch eine Erinnerung an diese 60iger Jahre oder sowas ist, das ich als Kind immer dachte, also die Kommunisten hätten den Krieg angefangen, weil das waren immer die Bösen, das waren die Bösewichter. Das das eigentlich die Nazis waren, die den Krieg angefangen haben, das habe ich erst viel später mitgekriegt . . .

W.T.: Den Sender Gleiwitz da überfallen haben, damit fing das ganze ja an. Da haben wir uns natürlich in der Jugendgruppe auch mit beschäftigt mit diesen Sachen. Und da hatten wir aber Referenten und Leute, die uns, was wir selbst nicht wußten, doch ziemlich offen über gesprochen haben. Der Verwandten und Bekanntenkreis, das Thema war son bißchen tabu, wollten alle nicht gerne darüber reden, befürchteten, dass ich vielleicht zu viel Fragen stelle oder nach der eigenen Haltung frag, wie sie sich verhalten haben Nazis und und und, das war also . . .

J.M.: Das war das einzige, was der Christian Geissler sagt . . . Christian Geissler, sagt ihnen das was ? Der hat son paar Romane geschrieben.

W.T.: Wer?

J.M.: Christian Geissler. Der ist jetzt schon längere Zeit tot, gestorben vor drei Jahren, der hat so mehrere Romane geschrieben unter anderem einen über die Nazizeit, in der ein Polizist die Seiten wechselt.

(Ende Band 2)

(Anfang Band 3)

J.M.: Wo waren wir, ja richtig Christian Geissler und der hat . . . der ist vor ein paar Jahren gestorben . . . ist jetzt zwei Jahre her . . . und der hatte gesagt, das einzige was den Deutschen nach dem Krieg geblieben ist, ist ihr Antikommunismus, den durften sie behalten

W.T.: Den durften sie behalten. Ja, da ist was dran . . . Also was wir damals in der Jugendgruppe durchgenommen, ein Buch das gelesen haben . . . so auf dem Gruppenabend mal ein zwei Kapitel, bis wir das durch hatten, das war aus der Zeit des Sozialistengesetzes, das war ja vor den Nazis . . . wie Bismarck die verboten hatte und da hab ich also viele Parallelen . . . wie im Hintergrund oder im Untergrund gearbeitet wurde . . . das hiess . . . Je dunkler die Nacht, desto heller die Sterne oder so ähnlich . . . das hat mich damals fasziniert und den anderen hier, den die Revolution entläßt ihre Kinder von Wolfgang Leonhardt und solche Sachen auch gelesen und verschiedene andere Sachen . . . . . . Der rechnet da ja mit seinen eigenen ehemaligen Kommunisten ab. Sicherlich, das ist eine Demo . . . eine Diktatur ist was ganz schlimmes, ist egal obs ne rechte oder ne linke Diktatur ist . . . ne Diktatur ist immer schlimm. Und das ist . . . ich sag immer . . . oder meine Meinung ist . . . für einen Sozialismus ist der Mensch noch nicht reif . . . der ist noch nicht reif . . . der muß zurückstecken . . . der wird nach wie vor von seinen Urtrieben geleitet, das ist also der Arterhaltungs und Selbsterhaltungstrieb und beide haben egoistische Motive, ich muß der andere nicht . . . so und damit müssen wir von runter eher funktioniert das mit dem Sozialismus nicht . . . weil wenn da wieder eine Kaste rankommt, die mit mal auch nur wieder an sich denken oder an ihr Umfeld, das hat man eben bei den Kommunisten gesehen . . . ne eigne Führungskaste, die auch um diesen Macht . . . diese Macht, die sie einmal hatten, vielleicht auch zum Teil demokratisch noch bekommen haben, dass sie diese Macht nachher mit allen Mitteln . . . allen schlechten Mitteln verteidigen . . . eben auch zu Diktatur werden und das ist das, was mich also nicht von der kommunistischen Idee trennt, aber von dem, was die Leute draus gemacht haben . . . und wenn jetzt einer sagt, ich bin bekennender Kommunist und sagt . . . ja was meint er denn damit? Meint er die gute Idee, die gar nicht schlecht ist? Oder nur, weil er aus Tradition so gewesen ist? Oder geworden ist, oder weil er sich unterdrückt gefühlt hat und so weiter.

J.M.: Haben sie Kinder?

W.T.: Ja.

J.M.: Wie denken die so?

W.T.: Ja die, meine Tochter hat sich da ne ganze Zeit lang auch, mit beschäftigt, die hat aber jetzt über Freunde und Bekannte eine Richtung . . . eingeschlagen . . . nicht politischer Art . . . politisch ist sie ok . . . da ist sie meiner Meinung nach auch auf den sozialen Bereich . . . sie ist nun in ein Gebiet durch Freunde reingekommen, wo ich nun gar nichts von halt, sie ist in ner freikirchlichen Gemeinde und mit Kirchen hab ich nichts am Hut. Ist egal mit welchen . . . welchen Glauben auch immer, das ist . . . man muß das glauben und nichts ist bewiesen . . .

J.M.: Ist die hier in diesem Haus groß geworden?

W.T.: Ja, ja . . . aber sie wohnt jetzt in Itzehoe . . . ne das ist durch Schulfreundinnen und so weiter . . . ist sie da mitn mal gelandet. Gut . . . Die freikirchlichen Gemeinde sind ja keine schlechten Menschen, aber . . . eben diese, was jede Religion für sich in Anspruch nimmt . . . diesen sogenannten Alleinvertretungsanspruch . . . wir sind die einzig richtige Religion, das lehne ich ab . . . und ich glaub an keinen Gott, an kein überirdisches Wesen, wer dran glauben soll . . . soll er von mir aus, aber er soll nicht von mir verlangen, daß ich das auch tue . . . Das ist eine Sache, wie ich in die Lehre kam, mußte ich ja ne Steuerkarte . . . Lohnsteuerkarte haben . . . Ortsamt in Farmsen und ich sag Steuerkarte . . . ja und in welcher Kirche sind sie ich sag in gar keiner, schreibt sie was hin fertig, krieg meine Steuerkarte als Lehrling war man ja . . . hatte man immer so wenig, daß man keine Kirchensteuer bezahlte . . . ich kriegte meinen ersten Gesellenlohn für drei Tage oder so, das war immer . . . monatliche Abrechung, aber nen wöchentlichen Abschlag . . . und da stand mitten mal 11 Pfennig Kirchensteuer . . . da war ich aber verdammt noch mal . . . 11 Pfenning, ich rauf, Werkstattschreiber, hier Lieschen da stimmt was nicht, ich bin doch gar nicht in der Kirche, . . . guckt sich an, ja . . . ruf ich mal im Lohnbüro an . . . sagt der im Lohnbüro, auf der Steuerkarte steht aber lt. . . . das heisst evangelisch-lutherisch und ich sag ja hab ich . . . dann hatten die da einfach das falsch reingeschrieben. Ich sag, in zwei Wochen hab ich Nachtschicht, dann hole ich mir die Steuerkarte und dann hin. Komm ich hin. Ich sag ich möchte gerne hier den Irrtum aufklären und möchte das geändert haben. Ja, sind sie denn nicht? Ich sag, nein, nein bin ich nicht, ja dann möchte ich mal ihre Austrittserklärung sehen. Ich sag, ich . . . sind sie Mitglied im HSV? Nein. Und wo ist ihre Austrittserklärung? . . . Ja, nun das ist ja ganz was anderes. Ich kann das nur ändern, wenn ich ne Austritts . . . Ich sag, ich bin in den Verein nicht eingetreten . . . ich bin weder getauft noch konfirmiert worden, meine Eltern haben . . . zu meinen Cousins auch alle gesagt . . . ab 16 bist du religionsmündig und dann kannst du machen, was du willst, wir lassen alles offen, wir machen nichts. Das ist ja praktisch ne Bevormundung, wenn man einen tauft und in die Kirche steckt, ohne zu wissen, ob er das nachher will. Das haben die . . . meine Eltern, Detlev und die auch alle nicht, meine Cousins, ich bin da nicht eingetreten, ich bin nicht getauft nicht konfirmiert, das möchte ich geändert haben, ich geh hier nicht eher raus . . . Ne das darf ich nicht, ich hab so meine Vorschriften, ich sag, dann haben sie doch sicher noch einen Vorgesetzten, vielleicht hat der nen anderen Spielraum . . . Ermessensspielraum . . . telefoniert sie einen Augenblick, später kommt er rein, da war das älteste Bruder meines Gruppenleiters bei den Falken . . . da sagt er was machst Du denn hier? Ich sag, hier so und so, schilder ich ihm das, ja sagt er, machen sie ne Notiz er hat glaubhaft versichert, daß er nicht und dann ändern sie die Karte . . . und dann ging das. Laut Anordnung von. Dann hat sie das hingeschrieben und hat das geändert . . . Wir waren von der Tochter da raus gekommen . . . also ich hab mit Kirche nichts am Hut, wobei die durchaus gute Sachen machen, nur was ist im Namen des Glauben alles für Unrecht geschehen auf der Welt und geschieht noch. Obs nun heutzutage noch Kindermißbrauch oder sonstwas ist . . . aber alles im Namen des Glaubens und der Religion und was weiss ich nicht, ist sind auch nur Menschen . . . Der Oberbeerdigungskasper da in Rom . . . ne der . . .

J.M.: Ich hab ja jahrelang diesen Witz erzählt . . . als dann vor drei Jahren . . . den kennen sie bestimmt auch . . . den mit dem Snickers und mit dem Mars. Der Witz ist uralt, ich glaub ich hab den schon von meinem Vater übernommen . . . da macht ein . . . Pastor geht in Urlaub, der Küster, also der die Glocken da ziehen muß, der macht sozusagen die Vertretung, bei der katholischen Kirche, also auch den Beichtstuhl, und er hat ihm alles gesagt, was so gibt, so viel dafür, so viel dafür . . . fünf Rosenkränze beten und so, naja und jedenfalls sitzt er denn im Beichtstuhl und denn sagt denn der da im Beichtstuhl sitzt . . . also ich hab Analverkehr gehabt . . . guckt er in seine Liste . . . Analverkehr hat er überhaupt gar nicht und denn kommen da zwei Jungs, so Messdiener vorbei und die fragt er denn . . . und sagt was gibt denn der Pastor bei Analverkehr? Mal ein Snickers, und mal nen Mars. Diesen Witz habe ich jetzt . . . nen Snickers? ein Schokoladenriegel, jahrelang erzählt und hatte nicht gedacht das das so realistisch ist . . .

W.T.: Mal nen Snickers mal ein Mars. Nein, den hatte ich noch nicht gehört.

J.M.: Der war uralt. Als das rauskam irgendwie . . .

W.T. : Ja, ja sowas gibt es . . . Ja da ist viel Schindluder gemacht worden von Gläubigen, die Wunder wie hoch stehen und von der Moral her und selbst . . . also deswegen ist das nicht mein Verein.

Muß jeder selbst wissen.

J.M.: Ich bin mal eingetreten, also mit . . . meine Eltern hatten mir das auch freigestellt . . . ich war dann irgendwann überzeugt . . . ich glaub mit dreizehn oder vierzehn habe ich mich taufen lassen und dann auch kirchlich geheiratet . . . und dann 1971 bin ich dann wieder ausgetreten.

W.T.: Ich hab in der Schule hatten wir ja Religionsunterricht und wir konnten uns befreien lassen und dann sagte mein Onkel, du kannst jederzeit den Zettel kriegen, aber hör dir das ruhig mal an, dann hab ich mir das zweimal angehört, und denn hab ich gesagt ne, nächstes mal bring ich nen Zettel mit, ich möchte nicht mehr, wieso denn nicht? . . . Ich sag ne, ich möchte Religionsunterricht haben, kein Konfessionsunterricht, ich möchte wissen, welche Religion gibt es auf der Welt, was sind deren Ziele und und und und wie sind die strukturiert aufgebaut . . . undsoweiter, das möchte ich wissen, ich möchte nicht hier das Vaterunser auswendig lernen . . . oder die zehn Gebote . . . eins kann ich sowieso nicht unterstreichen, das ist das das der Alleinvertretungsanspruch, du sollst keinen anderen Herren oder so irgendwie . . .

J.M.: Das haben die aber alle.

Hinweise: Käthe Tennigkeit, geb. Schlichting, geb. am 2. April 1903, ermordet am 20. April 1944 im KZ Fuhlsbüttel. Richard Tennigkeit, geb. am 5. 09. 1900 ermordet am 12. Dezember 1944 im KZ Neuenamme.

Walter Tennigkeit
Käthe Tennigkeit, geb. Schlichting
Otto F. Wildgruber Reklame
Reklame Otto F. Wildgruber Ludwigstrasse 1985 Ludwigstrasse Ecke Schanzenstrasse

Jens Meyer 20.05.2020 /Aufgenommen am 29. März 2011,

Durchgesehen 10. Februar 2020 Foto Jens Meyer (1985)